Kapitel 1

Die Fesseln schnitten tief in meine Handgelenke, hinterließen dunkelrote Striemen und kamen mir mit jedem Augenblick enger und schwerer vor. Das Bedürfnis über die schmerzhaften Stellen zu reiben war übermächtig. Doch die Fesseln waren aus lyrischem Stahl. Unzerstörbar.

Mein Hals brannte von der heißen Kette, die sich in meine Haut brannte. Tag für Tag. Jahr für Jahr.

Doch etwas, ein Gedanke, den ich mehr spüren als greifen konnte, ließ mich durchhalten.

Aus den Tiefen meines Bewusstseins tauchte eine Erinnerung auf. Einsam wie ein einzelner, feuriger Funken in der dunkelsten aller Nächte.

Eine warme Stimme, eine weiche Hand, ein unendlicher Sternenhimmel. Und an diesem leuchtenden Himmelszelt, zwei Gestirne, die heller strahlten als alle anderen. Bei einem von ihnen konnte man, wenn man ganz genau hinsah, einen bläulichen Schimmer wahrnehmen. Der andere, der ein gelbgoldenes Licht ausstrahlte, schob sich langsam vor den blauweißen Schimmer. Um das goldgelbe Gestirn erschien, für wenige Augenblicke, das blauweiße Schimmern. Dann verblasste ihr Strahlen.

Ich atmete auf. Endlich frei. Für einen Tag. Bis zum Aufgang des Mondes.

Der Tag der Wintersonnenwende hatte begonnen und der Bann meines Vaters somit an Macht verloren. Mein Geist klärte sich und wie bereits in den vergangenen Jahren begann ich erst gar nicht damit, mich mit meinen Fehlern auseinanderzusetzen. Damit, was ich in den letzten Monaten getan hatte. Denn ich musste die kurze Zeit, die ich hatte, nutzen.

Ich ließ den Schleier auf, seit Jahren bereitete mir seine Existenz keine Probleme mehr. Meine Magie ließ mich alles sehen und alles spüren und somit vergingen nur wenige Augenblicke, bis ich die Wachen passiert hatte und die Schatzkammer des dunklen Königs betrat.

Ich fühlte die Angst der Wachen, ihren Schmerz und meinen Vater, der ihren Willen beherrschte. Mein Vater lenkte zwar ihren Geist, aber Angst hatten sie vor mir. Sie fürchteten mich mehr als ihn. Meine Klinge, mein Ruf, das war es, was ihnen wahrhaftig Angst einjagte.

Mit jedem halben Jahr, das verging, wurde sie stärker. Ihre Angst. Und meine Angst vor mir selbst. Wie bei jedem Mal war die Sehnsucht da. Zu beenden, was er begonnen hat.

Doch all die anderen Versuchen hatten dasselbe Ergebnis hervorgebracht. Mich auf Knien vor seinem Thron.

Ich füllte noch einen dritten Beutel, dann begab ich mich mithilfe seiner Magie zu einem Dorf, nördlich von Nyrea. Ich deponierte einige Ringe in dem Gabenbehälter für die Armen, dann tat ich im nächsten Ort dasselbe. Ich verteilte Ketten mit faustgroßen Diamanten, Armbänder mit Opalen, Krüge aus reinstem Gold und silberne Messer.

Es war bereits mittags als ich an den Dörfern angekommen war, die an das lebendige Gebirge grenzten. Die Grenze zu Alhambrien war nicht mehr weit und die Menschen und Fae wirkten etwas wohlgenährter, nicht ganz so ausgezerrt, nicht vollkommen ohne Hoffnung.

Mein Blick wurde immer abgestumpfter, mit jedem verarmten Dorf, mit jeder verfallenen Hütte, sank ich etwas mehr in mich zusammen. Immer wieder hoben junge Mädchen ihren Blick zum Himmel. Bauern versuchten vergeblich die vertrocknete Erde zu pflügen und etwas anzupflanzen. Kinder mit rissigen Händen und aufgesprungenen Lippen spielten in einem sandigen Flussbett.

Als der letzte Ohrring verteilt und die Beutel wieder leer waren, begann ich den Anstieg. Bald schon konnte ich die salzige Luft des tückischen Meeres riechen, das Brechen der Wellen an den Felsen hören und als ich oben ankam, empfing mich ein eiskalter Windstoß.

Er riss an meinem Umhang und nur die Brosche verhinderte, dass er davon geweht wurde. Mein viel zu dünnes Kleid war an einigen Stellen zerrissen, doch ich bemerkte es kaum.

Ich stand oben an der Klippe, unter mir die unendliche Weite und endlose Tiefe, die ausschließlich dem Meer vorbehalten war. Am Horizont spiegelte sich das Bild der untergehenden Sonne. Weit dahinter lagen Arubien und Avalea. Arubien, mit einem König, der mich zutiefst hasste und Avalea mit einer Tante, die mich im Stich gelassen hatte.

Der Wind riss an meinen Haaren, löste meine Strähnen und ich stemmte mich ihm mit aller Kraft entgegen. Er war genauso wütend wie ich. Sein Zorn war natürlich, ursprünglich. Wie der meine.

Dann atmete ich ein, sammelte mich, hielt den Atem an und mit der Ausatmung ließ ich meinen Schmerz frei. Ließ meiner Wut freien Lauf. Schrie mit dem Tosen des Windes um die Wette, überlagerte das Wüten der Wellen.

Einen Moment der Freiheit in einem Leben voller Dunkelheit.

Als die ersten Regentropfen auf die Erde prasselten und die Erde sie gierig aufsog, wurde ich schlagartig ruhiger. Das sanfte Prasseln des Regens wurde zu einem Dröhnen. Der Himmel verdichtete sich und es begann in Strömen zu regnen. Es dauerte ewig, doch auch mein Atem beruhigte sich. Ich sank auf die Knie, meine Magie zerrann mir, genau wie meine Zeit.

Der Himmel weinte und ich mit ihm.

Ich verlangte meinem Körper alles ab, schöpfte meine Magie aus, bis nichts mehr übrig war.

Und dann, während ich den Kopf dem Firmament der Gestirne entgegen hob, schloss sich der Bann um meinen Geist.

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Belle und Vaughns Geschichte geht weiter 💜

Falls ihr hier neu seid, empfehle ich euch auf jeden Fall den ersten Band "The Lost Princess" zuerst zu lesen ✨

Danke, dass ihr hier seid, lest, votet und kommentiert🧡

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