Richard Poe

Werwölfe. Gemein, gefährlich, herzlos, zerstörerisch. Sie reißen alles an sich, was sie bekommen können und schmeißen es dann weg. So auch das Herz ihres Bruders. Vor drei Jahren ist sein Herz mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufgekommen. Es ist zersplittert wie Glas. In winzige Stücke. Bis heute ist es gebrochen. Gestohlen. Geraubt. Und mit dem Herz, ist auch sein Lachen, seine gute Seele und sein Leben verschwunden. Alles wegen einem Werwolf. Seinem Mate. Am liebsten würde sie sich auf ihn stürzen und ihn in Stücke reißen. Wenn sie das nur könnte. Dieser Werwolf hat einen schmerzhaften Tod verdient. Zu ihrem Pech wird sie ihn nie wieder sehen. Er ist einfach verschwunden.

Rose zieht ihren Mantel enger um sich. Der sanftfallende Schnee wurde zu einem heftigen Schneetreiben. Der Wind weht ihr ein paar Strähnen des langen, braunen Haares ins Gesicht. Ihre Wangen fühlen sich taub an. Bestimmt sind sie gerötet. Um sie herum ist es dunkel bis auf ein paar vereinzelte Lichter, die von Angehörigen an die Gräber gestellt wurden. Sie schimmern schwach und gehen dann aus. Der Wind hat sie ausgepustet und so wohl auch das Leben des toten Menschen ausgelöscht. Er hat es genommen. Still und ohne Vorwarnung. Eine Träne fließt über ihre Wange und rollt an ihrem Kinn hinab.
Der Grabstein vor ihr ist aus schwarzem Stein und rund. Eine dünne Schneeschicht hat sich auf den Stein und die gefrorene Erde vor dem Grab gelegt. Um das Grab herum steht ein einsamer Blumenstrauß. Die weißen Rosen lassen ihre Köpfe hängen, als trauern sie mit dem in sich zusammengesunkenen Mädchen, das vor dem Grab auf dem Pflasterweg kniet.

Das Grablicht flackert noch kurz. Dann ist es aus. Zitternd holt Rose ein weiteres Streichholz heraus und zündet es wieder an. Zuerst scheint es, als würde es wieder ausgehen, doch dann, als wolle es dem Mädchen eine Freude machen, leuchtet es auf.
Mit ihrer eiskalten Hand fährt sie die Gravur auf dem Grabstein nach. In geschwungenen Buchstaben steht dort R.I.P Richard Poe *23.12.2003  † 24.12.2019. Darunter wurde sein Lieblingszitat eingraviert 'La vida es lo que hacemos mientros esperamos la muerte', was übersetzt 'Leben ist das, was man tut, während wir auf den Tod warten' heißt. Er hat auf dieses Zitat geschworen und jetzt, jetzt hat sein Warten ein Ende.
Heute ist sein erster Todestag und niemand denkt an ihn. Außer Rose. Es scheint, als hätten seine ganzen Freunde ihn aus ihren Gehirnen gelöscht. Am liebsten würde sie zu jedem einzelnen von ihnen gehen und ihnen gehörig die Meinung sagen, doch das geht nicht. Es würde aussehen, als wäre sie verrückt.

Vor ihrem inneren Auge reiht sich Bild um Bild. Richard, ihr Zwillingsbruder, bei ihrer Einschulung. Rose und Richard auf der vierten Hochzeit ihrer Tante Elisabeth in der middle school, als sie beschlossen haben, zusammen hinzugehen, weil sie keine Lust hatten, irgendjemanden zu fragen. Richie und sie haben während der Hochzeit und auch während der Party danach die ganze Zeit Wetten abgeschlossen, ob Rod, der damalige Ehemann, der letzte Mann in der Reihe von Elisabeths Männern sein würde, ob aus der Hochzeitstorte irgendjemand oder -etwas springen würde, ob Cousine Lauren ihrem Date auf die Füße stehen würde und wenn ja, wie oft. An diesem Abend hatten sie so viel Spaß zusammen. Und jetzt ist sie gezwungen, alleine Spaß zu haben.

"Ach, Richie. Eigentlich wollten Mum und Dad noch mitkommen, aber sie bereiten alles auf das Weihnachtsfest in ein paar Stunden vor und du weißt ja, dass sie immer alles kurz vor knapp machen. Der Geburtstag gestern, war so öde ohne dich. Obwohl ich versucht habe, deine Freund irgendwie zu erreichen, habe ich es nicht geschafft. Ich wünschte, du wärst noch hier." Sie blinzelt eine weitere Träne weg. Gestern wurde sie 17. Leider konnte sie ihre Eltern nicht von einer Feier auf dem Friedhof überzeugen, so wie sie es eigentlich wollte. Nur so hätten Richie und sie an ihrem 17. Geburtstag zusammen sein können. Es war der schlimmste Geburtstag seit seinem Tod. Allerdings war es auch der erste gewesen.

Langsam richtet sie sich auf. Ihre rote Mütze liegt neben ihr. Sie muss runtergefallen sein. Rose hebt sie auf, schüttelt den Schnee ab und setzt sie sich auf den Kopf. Um sie herum ist das stetige Schneetreiben zu einem leichten rießeln des Schnees übergegangen. Mit einem tiefen Seufzen blickt sie auf das Grab ihres Zwillingsbruders. In diesem Moment schwört sie sich, dass sie seinen ehemaligen Mate, sobald er ihr unter die Augen tritt, umbringt. Er soll dafür büßen. Nur wegen ihm hat Richard sich umgebracht. Sie wird ihm in die Augen schauen und sagen:"Timothy, sein Tod ist allein deine Schuld."

***

Der Raum ist kahl und wenig einladend. An den Wänden hängen keine Bilder und Pflanzen sind auch nicht zu sehen. Nur Leder und Holz. Timothy Alcaster sitzt auf einem unbequemen, mit Leder überzogenen Stuhl. Vor ihm sitzt Alessio Castillo. Sein Alpha hat die Hände auf den Mahagonischreibtisch zwischen ihnen gelegt. Der Gesichtsausdruck gibt keine Gefühlsregung preis. Er hat seine unergründliche, eiserne Maske aufgesetzt, die jede Emotion versteckt.
Unbehaglich rutscht Timothy auf seinem Stuhl herum. Er kann es nicht leiden, wenn man ihn anstarrt. Am liebsten wäre er aus dem Raum gerannt, doch dann erinnert er sich an sein Vorhaben. Es geht um ihn. Seinen Mate. Als sein Rudel vor einem Jahr unerwartet weitergezogen ist, musste er ihn zurücklassen. Richard sollte doch seinen Abschluss machen. Jetzt ist er siebziehn geworden. Timothy hält es nicht mehr ohne ihn aus. Es ist, als wäre ein Stück von seinem Herzen weggebrochen und Richard trägt die andere Hälfte in seinen Händen.

"Nun, weswegen bist du zu mir gekommen, Timothy?", unterbricht die tiefe, autoritäre Stimme des Alphas seine Gedanken an seinen Mate.
"Ich möchte zu meinem Mate.", platzt es aus ihm heraus.
"Und wieso musst du mich erst um Erlaubnis fragen? Wenn du zu deinem Mate willst, dann geh. Ich will auch nicht wissen, was ihr tut. Geh einfach bei ihm vorbei." Seine Stimme hat einen genervten Unterton.
"Ähm...mein Mate wohnt in einer anderen Gegend. Wenn man es genau nimmt, dann wohnt er in  ungefähr zwei Stunden von hier entfernt. In unserem früheren Revier.", erklärt Timothy sich.
Das scheint Alessio aus der Fassung gebracht zu haben.
"Das heißt also, dass du zwei Stunden hin und zurück fahren willst, nur um ein paar Minuten deinen Mate zu sehen?"
"Na ja, es wären ja nicht nur ein paar Minuten, ich dachte, ich könnte länger bleiben. Vielleicht für immer.", sagt Timothy. Er hofft, dass Alessio ihn fahren lässt. Ohne Richard hält er es keine Sekunde länger aus. Es wundert ihn, dass er so lange durchgehalten hat.
Alessio mustert ihn. Seine stechenden, grau blauen Augen boren sich in Timothy hinein. Keine Gefühlsregung durchdringt die Maske des Alphas.
Nach einer Weile scheint Alessio ihn genug gemustert zu haben.
"Also gut. Du kannst gehen, wenn deine Eltern einverstanden sind. Eigentlich weiß ich gar nicht, wieso du mich da mit reinziehen musstest.", sagt er in die Stille und zwinkert Timothy zu. Pure Erleichterung durchflutet ihn.
Mit einem 'Danke' läuft er aus dem Raum und aus dem Rudelhaus. Als er sein Auto erblickt, kann er gar nicht schnell genug weg kommen. Seine Sachen hat er schon gepackt und seine Eltern hatte er schon vor dem Besuch bei dem Alpha informiert. Sie wollten nur, dass er dem Alpha Bescheid sagt. Keine Ahnung, warum. Jetzt kann er losfahren.

Die Vorfreude überkommt ihn, als er endlich in seinem Auto sitzt und endlich auf den Highway biegt, der ihn zu seinem Ziel bringt.

***

Fußspuren. Sie werden von verschiedenen Menschen hinterlassen. Sie bestehen, um wiederentdeckt zu werden. Sie verändern Leben oder weisen einem den Weg. Sie hinterlassen Spuren. Diese Spuren verändern die Welt. Ob zum Guten oder Schlechten, dass ist oft unklar.

Ihre Fußspuren führen vom Grab ihres Bruders, durch die verschneiten Straßen ihrer Stadt, in ihre Straße. Zu ihrem Haus. Die Treppe hinauf. Fußspuren, die für jeden sichtbar sind. Richards Spuren sind nicht sichtbar und doch zu erkennen. Sie sind in den Leben der Menschen, die er kannte. Sie sind in die Herzen der Menschen, die er liebte eingebrand. Ein Brandmahl, das nie vergehen wird.

Traurig schließt Rose die Haustür des Einfamilienhauses auf. Es ist ein hübsches Haus mitten in einer hübschen Straße. Alles ganz gewöhnlich und doch ist es das am hellsten erleuchtete Haus der ganzen Straße. Vielleicht sogar des ganzen Staates. Es ist ernüchternd. Als würden ihre Eltern versuchen, durch die ganzen Lichterketten in  den verschiedensten Farben, Formen und Größen, dem rießigen Schneemann im Vorgarten und den vielen Sternen, Mistelzweigen und Kugeln an den Fenstern und an der Tür, den Fakt zu umgehen, dass sie dieses Weihnachten nur zu dritt sein würden, statt wie üblich zu viert. Als wünschten sie, die Dekoration würde Richard zurück bringen.

Im Flur entledigt sie sich ihrem Mantel, der Mütze, dem Schal und den Winterstiefeln. Auf Socken geht sie links die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Sie vermutet, dass ihre Eltern unten sind und sich für die Kirche fertig machen. Dieses Jahr wird sie nicht in die Kirche gehen. Sie würde nur Gott die ganze Zeit für das beschuldigen, was er Richard nicht angetan hat und das hat sie dieses Jahr oft genug getan. Gott hat Richard nicht daran gehindert.
Rose lässt sich auf ihr Bett fallen und starrt an die Decke. Normalerweise würde sie jetzt mit Richard einen Weihnachtsfilm ansehen. Widerstrebend richtet sie sich auf und greift nach der Fernbedinung des Fernsehers, der an der Wand bei ihrem Bett hängt.
Nachdem sie ihn angeschaltet hat, sucht sie nach dem Film, den sie und ihr Bruder meistens anschauen. The Grinch. Sie startet ihn.

Sobald der grässliche, grüne Weihnachtshasser seine erste Szene erreicht, kullert eine Träne über ihre Wange. Richard liebte den Grinch. Mit seiner unhöflichen Art, der Willenskraft und der Einfältigkeit, mit der er Weihnachten abschaffen will, war er immer ein Vorbild für Richard gewesen. Er wollte immer so sein wie der Grinch. Ohne den unhöflichen und missmutigen Part, aber doch mit der Fantasie und Willenskraft, die der Grinch beim Zerstören von Weihnachten an den Tag legt. War. Der Grinch war das Vorbild. Jetzt nicht mehr. Ein Schluchzen entfährt ihr. Das erste Mal Weihnachten ohne ihren Bruder. Alle versuchten, das Beste daraus zu machen. Nur sie nicht. Sie kann es einfach nicht. Er ist nicht da und wird es auch nie wieder sein. Wieso leben die anderen weiter, als wäre er nie da gewesen? Jedes mal, wenn sie versucht hat, mit ihren Eltern zu reden, wechselten sie das Thema. Es ist einfach nicht fair.

Sie wickelt sich in ihrer Decke ein und starrt auf den Fernseher. Das grüne Monster stiehlt gerade Weihnachtsbäume und Dekorationen, als die Stimme ihrer Mutter sie aus der Trauer reißt.
"Rose!"
"Was?!", schieft sie und sucht nach einem unbenutzen Taschentuch um sich die Nase abzuputzen.
"Hättest du die Güte, aus deinem Zimmer zu kommen? Wir gehen jetzt und da steht ein verwirrter Junge vor unserer Haustür. Rede doch etwas mit ihm."

***

Endlich hat er sein Ziel erreicht. Vor Freude übersprudelnd parkt er seinen Wagen am Bürgersteig und überbrückt die letzten Meter zur Haustür. Sein Finger schwebt über dem Klingelknopf. Er weiß nicht, wie Richard ihn empfangen wird. Wird er sich überhaupt noch an ihn erinnern? Hat er vielleicht einen anderen gefunden und einfach die Mateverbindung zwischen ihnen ignoriert? Zweifel überrollen ihn. Wie wird Richards Familie auf ihn reagieren? Oh Gott. Rose wird ihn umbringen. Das hat sie zumindest gesagt, nachdem Timothy Richard eröffnet hat, dass er wegziehen wird. Sie ist ihm nachgelaufen, hat ihr Mathebuch nach ihm geworfen und geschrien:"Ich bring dich um, Timothy Johnson!" Hoffentlich hat sie es vergessen. Vielleicht ist sie erwachsen geworden.

Okay, einmal tief durchatmen und los, sagt er sich und drückt mit zusammengekniffenen Augen auf die Klingel. Der melodische Ton unterbricht die Stille. Schritte. Kurz überlegt er, ob er weglaufen soll, aber dann besinnt er sich. Er muss Richard sehen. Sonst stirbt einer von beiden womöglich.

Die Tür geht auf und Richards Mutter, eine etwas kleinwüchsige Frau mit einem dunklen Bob und einer durch und durch positiven Ausstrahlung, öffnet die Tür.
"Hi. Wie kann ich dir helfen?", fragt sie freundlich. Sie wirkt, als wolle sie in wenigen Minuten gehen. Wahrscheinlich zur Kirche.
"Ähm...Mrs. Poe? Ich bin Timothy Johnson. Sie erinnern sich vielleicht noch an mich. Ich bin der Freund von ihrem Sohn. Richard. Ist er da?" Timothy hofft, dass sie ihn wiedererkennt.
Sie schaut ihn komisch an. Dann dreht sie sich um und läuft davon. Im Inneren des Hauses kann er hören, wie sie sich mit jemandem unterhält. Dann ertönt Getrammpel auf der Treppe. Ein paar Sekunden später kommen Richards Eltern auf ihn zu.
"Richard....ähm... ist nicht da. Unsere Tochter wird sich um sie kümmern. Sie wartet in der Küche. Einfach weiter geradeaus laufen.", sagt Mr. Poe und deutet in das Haus. Timothy nickt.

Wieso ist Richard nicht da? Wo könnte er sein und wieso muss Mrs. Poe Tränen zurückhalten?
Er betritt das Haus und schließt die Tür hinter sich. Seine Schuhe stellt er wie früher im Schuhregal unter der Garderrobe ab. Seinen Mantel hängt er auf. Dann geht er durch den Flur. An den Wänden hängen Familienbilder, Bilder von den Eltern, von den Kindern, von Geburtstagen, Einschulungen und Feiern.

Er steht in der Küche. Vor ihm steht Rose. Mit dem Rücken zu ihm. Die braunen Haare reichen ihr mittlerweile bis zur Hüfte. Sie bereitet einen Kakao mit Marshmallows zu. So, wie sie es immer für ihren Cousin Edward macht. Edward ist sieben. Sie denkt also, er wäre ein kleiner Junge. Haben ihre Eltern ihr nicht gesagt, dass er es ist?
Er räuspert sich.
Sie dreht sich um und hätte fast die Tassen in ihren Händen fallen gelassen. In ihrem Gesicht ist Entsetzen zu sehen. Dann Wut. Ihre Haltung verspannt sich. Sie hat ihre Todesdrohung an ihn also noch nicht vergessen.
"Was. zur. Hölle. willst. du. hier?!", presst sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Ich will Richard sehen. Ich halte es keine Sekunde länger ohne ihn aus. Es tut mir leid, dass ich ihn verlassen habe, aber er sollte doch mit der Schule und allem fertig werden. Woher hätte ich den wissen können, dass wir weiterziehen? Es tut mir so unendlich leid." Er hält die Rede, die er die ganzen zwei Stunden Autofahrt geplant hatte, vor Rose. Nicht vor Richard. Er versucht sich vor einer Person zu rechtfertigen, die eigentlich nichts damit zu tun hat.

Sie zittert. Das sieht man. Ihre Augen werden glasig und es scheint, als träge sie einen inneren Kampf mit sich selbst aus.
"Du kommst zu spät, Johnson. Viel zu spät.", sagt sie. Wie, zu spät? Was meint sie damit?
"Zu spät? Hat Richard jemand anderen gefunden?", fragt er verzweifelt. Das durfte doch nicht sein.
"Nein. Er wird überhaupt nichts mehr finden.", erwidert Rose. In ihrem Blick zeigt sich nichts. Nur braun.
"Was meinst du damit?"
"Was glaubst du denn?" Sie will ihn provozieren. Sie hat also die Streitereien zwischen ihnen noch nicht beiseite gelegt.
"Verdammt, Rose! Sag mir wo er ist und leg unseren jahrelangen Hass mal kurz zur Seite!", ruft er.
"Zur Seite legen?! Bist du eigentlich total bescheuert, du eingebildeter Vorfahr eines Hundes? Was denkst du, wer du bist? Dass du einfach reinspazieren kannst und so tun kannst, als wäre nichts gewesen? Nein, das kannst du definitiv nicht! Du hast dich aus seinem Leben verpisst! Komplett! Er war am Boden zerstört und du? Du hast wahrscheinlich dein achsotolles Leben fortgeführt. Ohne jeden Zweifel an irgendwas. Und dann kreuzt du hier auf. Nach drei Jahren! Weißt du überhaupt, was für ein Tag gestern war?", brüllt sie.
Nein, das wusste er nicht. Das einzige, was er wusste, war, dass die Zwillinge gestern Geburtstag hatten. Mehr nicht. Also schüttelt er den Kopf. Er weiß, das Rose ihn nie leiden konnte und jetzt wird ihm klar, dass sich das auch nie ändern wird. Er muss zu seinem Mate. Da kann seine irre Schwester nichts dagegen tun.
"Rose, sag mir, wo er ist.", beharrt er. Sie sieht ihn an. Wut, Angst und Trarigkeit vereinen sich in ihrem Blick.
"Gestern wäre er 17 geworden.", flüstert sie mit zitternder Stimme.

***

"Wäre?", fragt er verwirrt. Irgendwie tut er ihr leid, wie er so nichts ahnend hereinkommt und gleich erfahren muss, dass sein Mate seit einem Jahr tot ist. Andererseits verdient er es nicht anders. Wegen ihm ist Richard gestorben.
"Ja. Wäre. Er wurde es nämlich nicht, wie du an dem wunderbaren kleinen Wort 'wäre' bestimmt erkannt hast.", sagt sie in einem schnippischen Tonfall. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaut er sie an. Fast schon spöttisch. Innerlich verdreht sie die Augen. Arrogantes Arschloch.
"Würdest du mir dann mal sagen, warum er es nicht wurde?!", ruft er beherrscht. Es dauert nicht mehr lange und er würde sie anschreien, dessen ist sich Rose sicher.
"Er wurde nicht 17, weil....weil.....", beginnt sie, doch die aufkeimenden Tränen lassen ihre Stimme versagen. Sie zwingt sich, die salzige Flut zu unterdrücken. Vor ihm wird sie sich sicher nicht die Blöße geben und anfangen wie ein kleines Kind zu weinen.
"...weil er tot ist.", flüstert sie und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Der Schock steht Timothy ins Gesicht geschrieben. Sein Gesicht verliert an Farbe. Die Augen sind weit aufgerissen. Der Mund formt sich zu einem stummen Schrei. Seine Knie geben nach.
Eine einzelne Träne rinnt über seine Wange.

Rose muss etwas dagegen tun. Sie schnappt seinen Ellenbogen und zieht ihn mit sich. Wie in Trance folgt er ihr. Sie führt ihn ins Wohnzimmer und deutet zum Sofa,
Er setzt sich und vergräbt das Gesicht in seinen Händen.
Stumm beobachtet Rose seinen Zusammenbruch. Sie selbst hatte genauso reagiert, als sie es erfahren hat. Erst war sie komplett erstarrt und dann ist sie zusammengebrochen. Sie weiß, wie sich dieser Moment für Timothy anfühlen muss, doch er muss da durch. Nur seinetwegen ist das passiert, was niemals passieren sollte.
Die Stille ist erdrückend. Das Schweigen zieht sich in die Länge und keiner scheint etwas sagen zu wollen. Also sitzen sie nur da und schweigen.

"Wie...wie ist es dazu gekommen?", fragt Timothy mit einem Zittern in der Stimme.
"Du bist vor drei Jahren weggezogen. Erst war er nur geschockt. Er war ein Zombie. Bleich, müde und lustlos. Danach kam die Phase, in der meine Eltern ihn zu einem Psychologen geschickt haben, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben. Zu dem Psychologen ging er bis zu seinem Tod. Vollkommen unerwartet kam sein Tod letztes Jahr ein Tag vor Weihnachten. Unser Geburtstag fand wie immer statt. Dann sind die Gäste gegangen und Richard ging nach draußen, um einen Spaziergang zu machen. Er kam nie wieder zurück. Kurz vor Mitternacht erfuhren wir von der Polizei, dass er erfroren ist, da er seine Jacke nicht dabei hatte und bestimmt vier Stunden draußen war. Es war der schlimmste Tag meines Lebens und gestern hat es sich gejährt. Alle gehen normal damit um. Nur ich kann das nicht. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts passiert. Es geht einfach nicht. ", sagt Rose. Sie merkt, dass sie bald anfangen würde, zu weinen. Timothy starrt sie an. Es ist fast unmöglich, zu erkennen, was er wohl denkt. Seine Augen glitzern.
"Es tut mir leid.", wiederholt er von vorhin. Rose kann seine Entschuldigung nicht annehmen. Er hat ihren Bruder bis zur Unkennbarkeit verändert.
"Das fällt dir früh ein. " Sie weiß, dass Richie es nicht gewollt hätte, wenn sie seinen Freund so anfährt, aber sie kann ihren Hass auf ihn nicht zurückschrauben. Jetzt muss er einfach raus.
Wieder herrscht Schweigen zwischen ihnen. Sollte sie ihm das Grab ihres Bruders zeigen, damit er sich wenigstens noch verabschieden kann oder soll sie sich einfach auf ihn stürzen und ihn zerfleischen, wie sie es vorgehabt hatte? Wenn sie ihm zeigt, wo das Grab ist, kann er Richard ja besuchen und mit ihm reden. Dann wären sie wenigstens zu zweit und nicht nur Rose alleine, die ihren Bruder regelmäßig besucht. Dann würde Richard wenigstens wissen, dass man ihn nicht vergessen hat.

"Komm mit.", sagt sie.

***

Der Schnee knirscht unter ihren Schuhen, als sie die Wege des Friedhofs ablaufen. Das Mädchen und der Junge laufen Seite an Seite zu einem Grab in der Mitte des Weges. Beide sind dick in ihre Mäntel eingewickelt. Die braunen Haare des Mädchens wehen im Wind, während sie läuft. Zielstrebig steuern sie das Grab an. Der Junge trägt einen Blumenstrauß in der Hand. Schon oft sind sie zusammen an diesem Grab gewesen. Das Wort haben die beiden nur an den Begrabenen gerichtet. Nie an den anderen. Der Hass zwischen ihnen ist deutlich zu spüren, doch ihm zu liebe halten sie sich zurück.
Als das Mädchen dem Jungen zum ersten Mal das Grab gezeigt hat, haben sie sich den ganzen Weg über gestritten. Seit dem wechseln sie kein Wort mehr miteinander. Nur um den Frieden zu wahren. Stumm stehen sie sich bei. Seite an Seite.
Beide sind nur durch eine Person zueinander verbunden. Durch Richard Poe.

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