Illusion

Um mich herum wurde es langsam dunkel. Die Sterne eroberten den Himmel. Sie blickten auf mich hinab. Sie waren meine Beschützer. Sie waren immer da, wenn ich sie brauchte.

Nie gingen sie weg. Man konnte ihnen vertrauen. Sie waren meine Freunde.

Schwerfällig drehte ich mich um. Das Bett wackelte und knarzte. Ich befürchtete, es würde jeden Moment zusammenbrechen, doch es hielt. Seit drei Jahren hielt es.

Seit drei Jahren hielt ich. Ich wurde nicht zerstört. Ich lebte. Ich brach nicht auseinander.

Das Blinken und Piepen tat mir weh. Es drang in meine Ohren und meine Augen. Es hörte nicht auf. Insgeheim wünschte ich mir, es würde aufhören. Dann hätte ich meine Ruhe. Eine wohlverdiente Ruhe.

Wenn es aufhören würde, würde sich die Erde auch ohne mich weiter drehen. Sie würde nicht anhalten. Wegen niemandem würde sie ihren Rhythmus ändern.

Es machte mir immer wieder klar, dass wir bedeutungslos sind. Wir sind nur Gäste. Kommen und gehen, wann es uns passt. Die Erde interessiert es nicht. Niemanden interessiert es.

Irgendwann sind wir alle gegangen. Vielleicht werden wir wiedergeboren. In einem anderen Körper, in einem anderen Leben, unwissend.
Vielleicht nehmen wir auch unseren Platz in der Hölle oder im Himmel ein.
Vielleicht fallen wir einfach in ein schwarzes Loch und werden nie wieder auftauchen.

Meine Augen waren schwer. Ich wollte schlafen.
Unruhig rutschte ich hin und her.
Ich wollte eine Position finden, in der ich bequem schlafen konnte.

Die Matratze drückte an meine Hüften. Sie war hart und unbequem.
Ich sehnte mich nach meinem Bett. Es hatte eine weiche Matratze, die in sich zusammemsank, wenn man darauf lag. Sie gab unter dem Gewicht nach. Nach all den Jahren hatte ich eine Kuhle hineingelegen. Die Bettwäsche hatte nach dem Waschmittel meiner Mutter gerochen.

Damals war ich noch zu Hause.
Damals war noch alles in Ordnung.

Verzweifelt versuchte ich, meine Augen zu schließen.

Unter der Tür drang etwas Licht. Ich wusste, dass nur gedämmtes Licht auf den Fluren herrschte. Es war Nachtruhe. Niemand würde mehr hier sein. In der Notaufnahme saß bestimmt jemand, aber es durfte kein Besuch mehr empfangen werden.

Ich war alleine.
Meine Familie war vor zwei Stunden gegangen. Vielleicht waren es auch drei Stunden.
Ich konnte die Uhr nicht sehen. Es war zu verschwommen.

Sie hatten geweint. Nasse Tränen waren auf meine Bettdecke getropft. Ich wusste, dass es meine Mutter am meisten mitnahm. Ich wollte nach ihrer Hand greifen, doch ich konnte meine Hand nicht bewegen. Es war, als wäre sie festgeklebt. Sie war zu schwer, um sie zu lösen.

Sie saßen auf beiden Seiten meines Bettes. Sie hatten mit mir geredet.
Der Tenor meines Vaters mit dem Sopran meiner Mutter gemischt. Sie hatten mir von ihrem Tag erzählt. Hatten mir erzählt, wie der Hund unserer Nachbarin die Fahrradreifen des Postboten zerbissen hatte.

Ich wollte etwas sagen. Doch mein Mund funktionierte nicht. Ich brachte keinen Ton heraus. Sie erwarteten auch keine Antwort. Ihre Gesichter verschwammen vor meinen Augen. Sie waren nur Schatten.

Mein Atem ging schwerfällig.
Ich erinnerte mich an dir Besuche meines Bruders. Er saß an meinem Bett. Auch er redete mit mir. Indirekt.
Manchmal spielte er mir ein Hörspiel vor.
An manchen Tagen las er mir etwas vor. Zeitung, Magazine, Bücher oder sogar Comics. Er erzählte von seinem Tag. Versorgte mich mit Anekdoten aus seinem Leben. Ließ mich daran teilhaben.

Heute hatte er mir Musik vorgespielt. Musik war für ihn alles. Er hatte sie schon früher mit mir geteilt. Und immer passte das Lied zu meiner Stimmung. Öfters hatte er einfach gesummt, wenn er seine Stimmung nicht in Worten ausdrücken konnte. Jeder wusste, was er meinte.

Musik repräsentierte ihn. Sie repräsentierte mich. Ohne Musik, wären wir nichts. Das Leben aller Menschen wäre trostlos. Es wäre farblos. Nur noch schwarz-weiß.

Ich hatte gehört, wie er sein Handy herausholte. Gesehen hatte ich es nicht. Ich konnte es nicht. Ein Schleier hatte sich über meine Augen gelegt.
Ganz groß hatte er den Künstler angekündigt.
"Und jetzt, Ladies and Gentlemen, begrüßt mit mir, den legendären King of Pop, Michael Jackson!", hatte er gerufen. Eine traurige Melodie setzte ein. Ich wusste, dass er seine Gefühle musikalisch preisgeben wollte.
'You are not alone. I am here with you', sang Michael Jackson.

Ich spürte etwas nasses auf meiner Hand. Ich wollte meine Hand ausstrecken und ihm über die Wange streichen. Wieder ging es nicht.

Und so ging es weiter. Song nach Song. Von Gruppen wie TLC, Jackson 5, The Beach Boys, Take That und Queen zu Sängern wie Michael Jackson, Elvis Presley, Janet Jackson, Robbie Williams, Indila und Zaz.

Ich kannte jeden von ihnen. Sie waren meine Kindheit.

Meine Augenlider wurden schwer.
Endlich konnte ich sie schließen.
Das Blinken und Piepen waren nur noch Nebensache. Mein Blick glitt zu den Sternen. Ich wusste, bald würde ich auch dort sein.

Dann schloss ich meine Augen.
Ich hörte nichts mehr.
Es war eine Erlösung. Alle Last fiel von mir ab. Ich war frei. Langsam lichtete sich die Dunkelheit.

Das Licht am Ende des Tunnels kam immer näher. Es schien mich zu rufen.

Plötzlich wurde mir etwas klar.
Ich hatte aufgehört zu kämpfen. Mein Kampfgeist war erloschen. Ich hatte Wasser über das Feuer gegossen.

Ich wollte zurück. Wollte es noch einmal versuchen. Wollte aus diesem Tunnel raus.

Doch dann kam die Welle. Sie drückte mich in Richtung des Lichtes.
Ich war wehrlos. Ich sank unter Wasser. Wollte atmen.

Schwerelosigkeit ergriff mich. Ich stieg hinauf. Wehrlos. Eine Marionette einer höheren Macht.
Ich hatte losgelassen. Hatte mich aufgegeben. Und jetzt war es zu spät. Die Illusion eines Zimmers löste sich auf.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top