Hinter Spiegeln

Eine Gestalt wandert durch die Gänge. Ruhelos läuft sie an einer Tür nach der anderen vorbei. Ihre Schritte werden von dem dicken Teppichboden gedämmt. An den Wänden ist nur ihr Schatten zu sehen. Bis auf die wenigen Lampen an den Wänden ist es komplett dunkel.
Flink bewegt sie sich fort. Schnell und lautlos läuft sie durch die Flure. Vorbei an etlichen Türen, Fenstern und Gemälden. Kein Licht fällt auf sie. Es scheint, als suche sie den Schatten, um nicht entdeckt zu werden.
Nach einer Weile bleibt sie stehen. Sie blickt aus der großen Fensterfront nach draußen. Majestätisch ragt die Glasscheibe vor ihr auf. Es ist ein älteres Modell. Der Rahmen besteht aus dunklem Holz, die Scheibe ist in viele kleine Teilstücke zerteilt, auf denen teilweise kleine Bilder gemalt wurden.

Die Gestalt tritt aus dem Schatten und setzt sich auf das breite Fensterbrett, den Kopf an die kühle Scheibe gelehnt. Durch das Licht des Mondes lässt sich erkennen, wer dort sitzt.
Ein Mädchen sitzt auf dem Fensterbrett. Sein Blick ist nach draußen gerichtet. Es scheint auf die Sterne fokussiert zu sein. Millionen von ihnen schmücken den klaren Nachthimmel. Fasziniert versucht sie, die Sternbilder zu erraten, doch es gelingt ihr nicht. Weder erblickt sie den großen Wagen noch den kleinen. Für sie ist es nur ein magischer Anblick.

Sie braucht die Sternbilder nicht identifizieren zu können. Es reicht, wenn sie den Himmel bewundern kann. In der Stadt kann man sie nie so hell und schön sehen. Dort bremsen die Lichter der Häuser, Autos und Straßenlaternen die Schönheit der Sterne aus. Hier auf dem Land ist der Himmel in seiner vollen Pracht zu betrachten. Keine elektronischen Lichter, die einen Einfluss auf die Eindämmung der Himmelskörper ausüben könnten.

Von dem Anblick gefangen, zieht sie ihre Knie zu ihrer Brust. Ihre langen, schwarzen Haare bilden einen Vorhang um ihr rundes Gesicht. Die grünen Augen glänzen etwas in der Dunkelheit. Ihre Statur ist klein und zierlich.
Wie verliebt starrt sie zum Himmel hinauf. Was würde sie dafür geben, einer der Sterne dort zu sein. Zu strahlen und den Menschen die Freude schenken, sie betrachten zu dürfen.

Ihr Blick wandert vom Himmel über die Silhouetten der Bäume im Obstgarten. Eine vage Erinnerung verfestigt sich in ihrem Gedächtnis. Es sind mehr Details als eine komplette Eingebung.
Der Duft von Gras. Das Gefühl von einem lauen Sommerwind in den Haaren. Der Geschmack von Erdbeeren auf der Zunge. Der Geruch von Kirschsaft. Nackte Zehen im Gras. Ein buntes Farbenspiel von Früchten und dem blauen Himmel. Die heißen Strahlen der Sonne auf der Haut.

Langsam erlischt das Licht der Erinnerung in ihren Gedanken. Die Dunkelheit von draußen kommt ihr wieder in den Sinn. Langsam kommt sie wieder zur Besinnung. Die Konturen der Schatten werden schärfer. Sie brennen sich in ihr Gedächtnis ein und doch scheinen sie sofort wieder zu verschwinden. Sie entgleiten dem Mädchen. Verzweifelt streckt sie die Hände aus, doch sie kann sie nicht greifen. Ihre Hände gleiten ins Leere. Der verzweifelte Ausdruck in ihren Augen verschwindet nicht. Als wäre sie gedemütigt worden, steht sie langsam auf. Ihre nackten Füße berühren den weichen Teppichboden.
Tränen bilden sich in ihren Augen. Das leise Schluchzen hallt in den hohen Wänden des Anwesens wider. Blind findet sie ihren Weg durch das Labyrinth aus Fluren und Gängen.

Irgendwann wird sie langsamer. Ihre Schritte werden bedächtiger gesetzt.
Vorsichtig läuft sie auf eine weiße Tür am anderen Ende des Flures zu. Die Tür scheint zu strahlen. Ein Glimmen geht von ihr aus.
Sie ist weiß angestrichen. Der Türgriff hat die Form einer Welle. Er ist vergoldet und glänzt im Licht der Tür.

Das Mädchen streckt ihre Hand aus. Ihre Finger berühren den Türgriff. Das altbekannte, kalte Gefühl jagt durch ihren Körper.
Tief atmet sie durch. Dann öffnet sie die Tür langsam. Das Knarren hallt in den Gängen und breitet sich aus. Ein Echo, dass hin und her geworfen wird. Die Wände spielen Ball mit ihm. Kreuz und quer passen sie ihn sich zu. Ein Spiel des Schalls.

Sie betritt den Raum. Der Boden ist nicht länger mit Teppichboden belegt. Der kühle Stein an ihren Fußsohlen jagt einen kalten Schauer durch ihren Körper. Der Raum ist nur weiß. Die Wände leuchten und scheinen sich zu bewegen. Sie flackern hin und her, senden Lichtstrahlen durch den kleinen Raum.
Mit zwei Schritten tritt das Mädchen zu der großen Scheibe nach vorne.
Durch das milchige Glas kann sie nicht erkennen, wer dahinter steht. Ein Schatten bewegt sich hin und her.

Sie kann nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Diesen Anblick ist sie schon gewohnt. Er macht ihr nichts mehr aus. Sie weiß, dass sie nie weiter als zu dieser Scheibe kommen wird. Nie wieder. Diese Zeit ist vorbei. Es ist ihre Vergangenheit.
Der Schatten steht still.
Sie weiß, dass er die Scheibe anstarrt.
Zögerlich winkt sie. Jedes Mal kommt sie sich komisch vor, wenn sie vor dem Milchglas steht und jemandem zuwinkt, den sie nicht sehen kann.

Sie weiß, dass er nur sein eigenes, unbeholfenes Wesen sehen kann.
Es ist ihre Aufgabe, ihm als Spiegelbild zu dienen. Dem Schatten, den sie nie sehen wird.
Es ist ihre Aufgabe, ihm zu helfen.
Menschen, denen schon das meiste genommen wurde.
Menschen, die dabei sind, sich selbst zu verlieren.
Auch sie war einst ein Mensch.
Doch ihr konnte niemand mehr helfen.
Dann landete sie hier.
Eine tiefe Stimme hallt durch den Raum.
»Ich mag mich gar nicht ansehen. Wieso kann ich nicht genauso sportlich sein, wie alle anderen?« Ein Seufzen. Das Seufzen kommt von seiner Seele.

Sie sieht, wie er sich um sich selbst dreht.
Sie kann sich vorstellen, wie der Blick in seinen Augen abschätzig seinen Körper mustert.
Ein Blick, der den Körper abschätzend mustert und einem das Gefühl gibt, nicht gut genug zu sein.
Der Blick ist prüfend.
Ein Wettbewerb um Schönheit, Glanz und Grazie.
»Ich sollte eine Diät machen. Ja, das sollte ich. Nur noch Wasser trinken. Das macht schließlich nicht dick. Und dann werde ich bestimmt dünner.«
Erschrocken weicht das Mädchen zurück. Die Entschlossenheit der Stimme ist beängstigend.

Sorge macht sich in ihr breit.
Sorge um die Gesundheit des Jungen.
Dort draußen, auf der anderen Seite der Scheibe befindet sich eine Welt, in der sich alles um ›Schönheit‹ dreht. Intelligenz oder anderes zählt nicht mehr. Jeder wird in eine Schublade gesteckt. Die Schönheitsideale sind Schlankheit, lange Haare und Sportlichkeit.
Auf innere Schönheit setzt niemand mehr.
Die Schule wurde zu einer Hölle der Lästerei und der Vorurteile. Ehrgeiz und Neid prägen die Menschheit.

Jedes Mal, wenn sie so einen Menschen vor sich hat, verspürt sie Sympathie.
Für seine Gefühle.
Für seine Selbstzweifel.
Für seinen Wunsch, den Idealen zu entsprechen.
»Ich werde Sport treiben. Ich werde ihnen beweisen, dass ich kein ›Stück Speck‹ bin. Nach den Ferien werde ich wunderschön in die Schule kommen«, bekräftigt die Stimme ihr Vorhaben. Man kann hören, wie verbittert und entschlossen sie ist. Der Schatten ballt seine Hände zu Fäusten.

Das Mädchen kann den Zorn fast durch die Scheibe springen sehen. Er umkreist den Schatten wie eine dunkle, unheilvoll glimmende Wolke.
Irgendwie muss sie den Jungen beruhigen.
Sie muss ihn dazu bringen, wieder an sich selbst zu glauben. Er muss sein Selbstbewusstsein wiederbekommen.
Sie schaut auf den Schatten.
Er versucht stolz dazustehen, doch die Last auf seinen Schultern macht es zunichte.
Stattdessen ist er in sich zusammengesunken und starrt den Spiegel an.
Sie weiß, dass sie jetzt etwas sagen muss. Wenn nicht jetzt, wann dann?
»Tu das nicht.« Ihre Stimme hört sich weich an. Als streiche sie über etwas. Sie weiß, dass sie ihn vorsichtig bearbeiten muss. Nur so kann sie seine Meinung ändern. Ansonsten würde er eine hohe Mauer um sich bauen und niemanden mehr hindurchlassen.

Sie kann sehen, wie der Schatten erstarrt.
Vermutlich schaut er gerade erschrocken auf seinen Spiegel.
»Wer bist du?«, fragt er. Es schwingt Angst in der Stimme mit. Sie zittert leicht.
»Dein Spiegelbild.«, erwidert das Mädchen. Ihr Ton ist sanft und nicht drängend.
Kurz schüttelt er den Kopf.
»Ich bin ein Mädchen?!« fragt er entsetzt. Er schaut an sich herunter.
Sie muss sich ein Lachen verkneifen.
»Was siehst du?«, fragt sie vorsichtig.
»Ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und grünen Augen. In meinem Spiegel.«, sagt er ungläubig.
Bedächtig nickt sie.
»Ja. Das bin ich. Aber was siehst du in dir?«
Die Frage kommt unerwartet, dass weiß sie. Und doch braucht jeder die Zeit, um über sich selbst nachdenken zu können.
Eine Weile herrscht Schweigen.

Dann scheint der Schatten eine Antwort gefunden zu haben.
»Einen unsportlichen, fetten, von Pickeln übersäten Nerd.« Er spuckt die Worte aus, als wären sie Gift. Sie prallen an der Scheibe ab, klopfen an und fliegen wieder zu ihm zurück.
Das Mädchen kann sich gut vorstellen, wie er jetzt aussehen muss. Sein Gesicht ist wahrscheinlich von ungezügelter Wut, Resignation und Verbissenheit geprägt.
Sie überlegt. Was könnte sie sagen, damit er seine Meinung ändert? Irgendwie muss sie ihn zur Besinnung bringen.

»Nein. Das ist das, was andere dir eingeredet haben. Ich möchte wissen, wie du dich siehst, nicht wie andere dich sehen.«
»Wie soll ich mich schon anders sehen?«, ruft er verzweifelt. »Schließlich rede ich hier gerade mit meinem Spiegel, in dem komischerweise ein Mädchen aufgetaucht ist, das definitiv noch nie dort war!«
Seine Hand fährt sich durch die Haare. Das Glas der Milchscheibe wurde etwas heller.
Kurz schließt sie die Augen. Diese Reaktion hatte sie schon fast erwartet. Jedes Mal keimt etwas Hoffnung in ihr auf, dass ihre ›Klienten‹ es einfach nicht erwähnen würden. Sie wusste nicht, weswegen sie hier war oder aus welchem Grund sie die ganze Zeit hinter einer Scheibe sitzen muss, wenn einer von draußen vor seinem Spiegel steht. Sie wusste auch nicht, wie sie hierhergekommen war.
Draußen. Dort muss sie auch einmal gewesen sein. Es muss schön gewesen sein, doch sie hatte keine konkreten Erinnerungen mehr daran. Keine Personen fielen ihr ein. Nicht einmal ihr Name.
Ihr Blick glitt ins Leere. Was würde sie dafür tun, hier rauszukommen.

»Was ist los?«
Die Stimme des Schattens holt sie aus den Gängen ihres Gedankenpalastes. Der Vergleich holt eine Erinnerung hervor. Sie ist vage, dennoch ist sie da. Sachte klopft die Erinnerung an die Tür, als müsse sie um Einlass bitten.
Die rauen Seiten eines Buches. Sonnenschein auf ihrer Haut, die Strahlen kitzeln sie. Musik, leise im Hintergrund. Buchstaben, Wörter. Sie vermischen sich zu einer Geschichte. Einer Geschichte der Liebe, der Fantasie, der Absurdität, des Humors. Drei Farben brennen sich in ihre Schädeldecke. Weiß, rot, schwarz.

»Stimmt etwas nicht? Geht es dir gut?«, fragt der Schatten.
Das Mädchen schreckt aus ihrer Erinnerung.
»Ja. Alles in Ordnung.«, antwortet sie mit zitternder Stimme. Jedes Mal, wenn sie sich an etwas erinnert, fühlt sie sich hilflos. Die Erinnerung wird ihr bald wieder entrissen. Am liebsten würde sie an ihr festhalten und sie nie wieder loslassen.
»Einen Penny für deine Gedanken.« Sie kann das Schmunzeln in seiner Stimme hören.
Soll sie sich ihm anvertrauen? Würde er ihrer Schilderung Beachtung schenken? Es geht doch um seine Probleme. Sie ist doch dafür da, damit die dort draußen sich besser fühlen.

»Mir kannst du es erzählen. Ich werde schon niemandem etwas sagen.«, sagt er mit einem Lächeln in der Stimme. Ihm muss aufgefallen sein, dass sie zögert.
»Na gut.« Sie schließt die Augen und beginnt zu reden. »Ich bekomme immer wieder ganz plötzlich Erinnerungen an mein früheres Leben. Sie sind für ein paar Minuten da, doch dann sind sie wieder weg. Und ich kann sie nicht daran hindern. Ich bin darin gefangen. Der ständige Kreislauf. Sie kommen und gehen, wann sie wollen. Diesmal hatte ich eine Erinnerung an ein Zitat aus einem Buch: ›Dann lass ich dich mal allein in den düsteren Säulen deines Gedankenpalastes.‹ Ich weiß nicht mehr, aus welchem Buch es stammt. Doch es hatte etwas magisches. Als würde ich tief in meinem Inneren wissen, dass es ein sehr gutes Buch war. Verstehst du, was ich meine?«
Schließlich öffnet sie wieder die Augen. Zu ihrer Überraschung hat sich das Milchglas etwas gelichtet. Sie kann die Umrisse eines Zimmers sehen. Das ist noch nie passiert.
Sie kann den Jungen, der vor der Scheibe steht, besser erkennen. Er scheint groß zu sein und eigentlich ziemlich kräftig gebaut.
»Wow. Das ist...« Er sucht nach den richtigen Worten.
Das Mädchen nickt ihm nur zustimmend zu. Sie selbst weiß auch nicht, wie sie es beschreiben soll.
Zum ersten Mal hat sie sich jemandem offenbart. Irgendwie ist es unwirklich. Sie hat ihm einen Teil ihrer Seele geöffnet und es fühlte sich richtig an. Als hätte sie die ganze Zeit auf diesen einen Menschen gewartet, dem sie vertrauen kann, der sie auffängt.
Erst jetzt merkt sie, dass sie ihm eigentlich noch kein Stück weitergeholfen hat, so wie sie es eigentlich soll.
»Genug über mich. Reden wir über dich. Was lässt dich glauben, dass du nur noch trinken und mehr Sport machen sollst?«, hakt sie nach.
»Das hast du mitbekommen?« Sie nickt leicht. Als könne er es nicht glauben, schüttelt er den Kopf. »Oh Mann. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Versuch es. Ich werde es schon verstehen.« Vielleicht sieht er in ihr die Person, der er vertrauen kann oder er muss es sich einfach von der Seele reden, denn er scheint nicht mehr zu zögern.

Stockend beginnt er zu erzählen: »Vor zwei Jahren bin ich neu an die Schule gekommen......ich......ich hatte einen Pullunder und Khakihosen an. Ich dachte...... ich dachte, dass das normal wäre. Aber irgendwie wurde ich nur komisch angestarrt. Wahrscheinlich...wahrscheinlich war das der Grund...der Grund, weswegen sie mich von Anfang an verachteten.« In seiner Stimme schwingt eine ungebändigte Wut. Er hatte sie so lange zurückhalten müssen, dass sie in diesem Moment fauchend aus ihm heraussprudelt. Wie ein ungezügelter Drache. Alles in seiner Umgebung scheint zu verbrennen.
»Ich dachte, dass es sich legen würde, doch das tat es nicht. Es wurde schlimmer. Sie beleidigten mich, grenzten mich aus und lachten mich aus.«, fährt er fort. »Ich versuchte mich unsichtbar zu machen. Zog unscheinbare Kleidung an, sagte nichts mehr. Doch das machte alles nur schlimmer. Sie hatten in mir ihr Ventil für ihren Zorn gefunden. Ich bin der Sündenbock, der ihnen fehlte. Es ist frustrierend und macht mich fertig, deswegen muss ich was dagegen unternehmen.«
»Du hast recht, du musst etwas dagegen tun, aber nichts zu essen oder nur Sport zu treiben bringt nichts. Du machst dich mit dieser Variante zum Lösen deines Problems kaputt. Es wird dich zerreißen und niemand kann dagegen etwas tun, weil du mit niemandem außer mir redest. Also bitte ich dich, hör nicht darauf, was andere sagen.«, erklärt sie ihm.

Das Mädchen versucht ihrer Stimme Nachdruck zu verleihen, damit er versteht, wie ernst die Lage ist.
»Aber was soll ich denn sonst tun?« fragt er ratlos. »Soll ich einfach so tun, als wäre es mir egal?«
Entschieden schüttelt sie den Kopf. Das würde die anderen nur anstacheln.
»Du musst ihnen einen Spiegel vor die Nase halten. Du musst ihnen klarmachen, dass eigentlich alle Opfer eines verbalen Wettstreites geworden sind, bei dem es nur um Beliebtheit, Schönheit und Ruhm geht. Irgendwie musst du ihnen bewusst machen, dass sie nichts an sich haben, was du nicht auch hast. Nur wenn du dich fragst, warum die anderen alle mitmachen, nur dann kommst du zu dem Schluss, dass sie alle Angst davor haben, selbst zu Opfern zu werden.«
Eine Weile herrscht Schweigen.
Sie merkt, dass er ernsthaft über ihre Worte nachdenkt. Fast kann sie seine Gedanken hören. Sie kreisen laut in seinem Kopf – wie Aasgeier auf der Suche nach totem Fleisch.
»Du hast recht. Also, wenn ich es mir recht überlege. Es stimmt. Es gibt noch mehr Schüler, doch die werden in Ruhe gelassen.« Er scheint erleichtert zu sein. Sie hat ihn mit ihren Worten wirklich überzeugt. Eine Leistung, die sie nicht erwartet hat.
Ihre Arbeit ist getan. Wieder einmal hat sie ein Menschenleben gerettet.

Eigentlich müsste sie sich berauscht fühlen, erleichtert, dass er ihr zugehört hat und sie nicht abwimmelt, wie viele vor ihm. Doch da ist nichts. Eine Leere scheint sie von innen aufzufressen. Ihre Seele wird verspeist. Sie fühlt nichts.
Wie gerne würde sie das Leben hinter der Scheibe verlassen, doch sie entdeckt keinen Ausgang.

»Ähm...«, setzt er an. »Wieso bist du hier?«
Verwirrt blickt sie ihn an. Das hat noch niemand gefragt. Die meisten waren einfach froh, dass sie ihre Sorgen mit jemandem geteilt haben.
»Ich meine, du musst doch irgendeinen Grund haben, weshalb du hier bist.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Wie bist du dann hierhergekommen?«, hakt er neugierig nach. Sie kann sehen, wie er sich vor den Spiegel setzt, die Beine überkreuzt und sie anschaut.
»Ich habe keine Ahnung. Auf einmal war ich eben da.«, erwidert sie schulterzuckend. Über so etwas hat sie sich noch nie Gedanken gemacht, da sie sowieso nicht fliehen kann.

»Aber... du musst dich doch fragen, woher du kommst. Es ist doch nicht alles so selbstverständlich, wie es aussieht.« Das Glas in der Scheibe ist mittlerweile so klar, dass sie die Konturen seines Gesichtes ausmachen kann. Sie kann seine Wangenknochen sehen, die leicht hervorstehen. Seine Haare sind lang und zerzaust. Um seinen Mundwinkel bilden sich fast unmerklich Grübchen.
Sein Blick ist verständnislos.
»Am Anfang habe ich es nicht wahrhaben wollen, doch dann habe ich eingesehen, dass es doch nichts bringt, eine Erklärung finden zu wollen. Ich bin hier gelandet, weil irgendjemand es wollte.«
Sie blickt in seine Augen. Sie sind graublau und erinnern sie an einen kalten Wintertag.
Fast kann sie den kühlen Schnee auf ihrer Haut spüren. Eine Erinnerung drängt sich in den Vordergrund.

Der Duft von heißer Schokolade steigt in ihre Nase. Auf ihrer Zunge kann sie einzelne Schneeflocken spüren, sie schmecken. Ein eisiger Wind zerzaust ihr Haar. Ihre Finger sind klamm und kalt. Die Wangen gerötet. Ein warmes Gefühl macht sich in ihrem Magen breit, als die heiße Schokolade ihre Kehle hinabrinnt. Das Jauchzen und Lachen von Kindern dringt in ihre Ohren.

Langsam verblassen die Geräusche. Sie verschwinden und mit ihnen, verschwinden die Eindrücke, Gerüche und Gefühle. Sie entfernen sich aus ihrem Gedächtnis. Auf dass sie nie wieder gesehen werden.
Dann befindet sie sich wieder im weißen Raum. Vor der Scheibe sitzt immer noch der Junge. Sie ist wieder zurückgekehrt in ihr weißes Gefängnis. Die Erkenntnis tut weh. Der Schmerz ist stärker als sonst. Er breitet sich aus, lässt sie zittern.

»Alles in Ordnung?« Besorgt mustert er sie.
Doch das Mädchen kann nur stumm nicken. Sie fühlt sich allein gelassen. Ihre Erinnerungen verschwinden immer schneller und bald wird auch sie für immer verschwinden, dass spürt sie. Sie wird in den hässlichen Mauern der Spiegel untergehen und in Vergessenheit geraten.
Eine Träne löst sich aus dem Augenwinkel. Kalt rollt sie an ihrer Wange hinab. Der salzige Geschmack breitet sich auf ihren Lippen aus.
»Ich kenne das Buch, das du meinst. Es ist ein gutes Buch.«, sagt der Junge.
»Echt? Ich war mir nicht sicher, ob mein Gehirn mir nicht doch einen Streich spielt.«
»Bestimmt nicht.« Er überlegt kurz. »Was machst du eigentlich die ganze Zeit über?«
»Ich schenke anderen mein Vertrauen und sie schütten ihre Seelen über mir aus.«

Mittlerweile ist die Scheibe aufgeklart. Sie kann den Jungen in seiner vollen Pracht beobachten und auch sein Zimmer erkennen. Alles ist so klar wie noch nie. Vor ihr sitzt ein großer Junge mit wenigen Muskeln und sanften Gesichtszügen. Er trägt einen schwarzen Pullover und eine bequeme Jogginghose.
Seine Haut ist gebräunt. Es scheint, als verbrächte er viel Zeit an der frischen Luft.
Sein Zimmer ist groß und hell. Sie kann eine Dachschräge erkennen, an der ein Poster von ›Guns n' Roses‹ klebt. Die Wände sind in weiß gehalten und auch sonst scheint es sehr reinlich zu sein.

Sie streckt ihre Finger aus, um die Scheibe zu berühren. Kalt schmiegt sie sich um ihren Finger. Ein Kribbeln durchströmt ihren Körper. Es ist wie ein elektrischer Schlag, der sich weiter ausbreitet.
Zu ihrer Überraschung gleitet ihr Finger durch die Scheibe hindurch. Ein eiskalter Ring legt sich um ihn und zieht ihn mit sich. Die unsichtbare Kraft greift nach ihr. Sie zieht das Mädchen mit sich in Richtung Spiegel.
Der Junge sitzt wie erstarrt da, als der Kopf des Mädchens aus der Scheibe gleitet.
Sie fühlt sich schwerelos, als wäre alle Last von ihr gefallen. Die Kraft zieht sie nach oben.
Sanft schwebt sie zur Decke.
Das letzte Körperteil hat sich aus dem Spiegel gelöst. Sie schaut an sich herunter. Eine durchsichtige Hülle hat sich um ihren Körper gelegt. Sie glitzert leicht. Ihr Haar hat sich weiß verfärbt und statt dem schwarzen Gewand, dass sie all die Jahre hinter den Spiegeln getragen hat, gleitet ein weißes Gewand aus Seide ihren Körper hinunter. Eine wohltuende Wärme umströmt sie.
Sie blickt auf den Jungen, der sprachlos und fasziniert zu ihr nach oben starrt.
Langsam neigt sie ihren Kopf.
»Danke.«, flüstert sie. Und dann löst sie sich langsam auf. Sie verschwindet und hinterlässt nur einen leichten Windhauch.
Leise Musik weht durch den Raum. Sie wird lauter und lauter. Der Raum wird durch sie gefüllt.

»I'm starting with the Man In The Mirror
I'm asking him to change his ways
And no message could have
Been any clearer
If they wanna make the world
A better place
Take a look at yourself
And then make a change.«

Sie schwebt höher und höher. Sucht sich ihren Weg durch das Fenster und schwebt hinaus in die Nacht. Sie verkündet eine Botschaft. Eine Botschaft, die nicht vergessen werden darf. Die Frau im Spiegel ist frei.

*

›Dann lass ich dich mal allein in den düsteren Säulen deines Gedankenpalasts‹
~ Lovely Curse – Erbin der Finsternis (Band 1) von Kira Licht 

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