Eine letzte Nacht

Laute Musik drang aus dem Haus. Sie verteilte sich über die komplette Straße. 
Schluckte alles auf, was sich ihr entgegenstellte. Sie war wie ein schwarzes Loch. 
Das Haus stand in einer langen Straße. Es war eine Straße, bei der man sofort bemerkte, dass sie reich war. Reich an Geld, an Menschen und an Habgier. 

Man musste sich nur die Vorgärten anschauen. Sollte Mr. X sich einen neuen Busch zulegen, der irgendwie besonders schön war, so legte sich sein Nachbar ebenfalls einen neuen, aber schöneren Busch zu. Sie verglichen sich miteinander. 
Ich stand auf dem Asphalt und starrte kopfschüttelnd die Straße entlang. 

Aus jedem Haus schrie der Neid. Er hatte die Köpfe der hierlebenden Menschen vernebelt. 
Ich wusste nicht, wieso ich zu der Party eingeladen wurde. Aus heiterem Himmel kam Cole auf mich zu und drückte mir eine Einladung in die Hand. 
Das war ungefähr zwei Tage her. 
Noch immer konnte ich es nicht glauben. Die Einladung fühlte sich komisch an. Als hätte ich den Schlüssel zu der Hölle in die Hand gedrückt bekommen. 

Eine Hölle, in der Alkohol- und Drogenkonsum sowie schlechte Musik ein fester Bestandteil waren. 
Ich fühlte mich nicht wohl, dabei war ich noch nicht einmal drin. 
Das Haus schien unter der Musik zu zittern.  
Der Vorgarten war eine einzige Müllhalde. Pappbecher, Essensreste, verlorene Kleidungsstücke und auch Erbrochenes zierten den einst so gepflegten Vorgarten mit dem schnurgeraden Kiesweg und dem Rosenbusch. 
Ich konnte nicht verstehen, wie man schon zu Beginn der Party so besoffen sein konnte, dass man es am Garten ausließ. 

Kopfschüttelnd schloss ich die Tür meines Autos, sperrte es ab und überquerte langsam die breite Straße. Eigentlich hatte ich nicht vor, überhaupt auf die Party zu gehen. Ich war weder ein Partymensch, noch ein Liebhaber der Musik. Ich wollte am Wochenende nur meine Ruhe. 
Doch einer Party durfte man nicht absagen, wenn man schon eingeladen wurde. Durch das Absagen konnte man zum Gespött der gesamten Schule werden und das konnte einen dann bis zum Ende seiner Highschoolzeit verfolgen. 

Mir blieben also zwei Möglichkeiten: Zur Party gehen und am nächsten Morgen kein Gehör mehr zu haben oder zu Hause zu bleiben, ein Buch zu lesen und damit für den Rest meiner Highschoolzeit im unangenehmen Rampenlicht zu stehen. 
Zugegeben, die zweite Variante war viel verlockender, dennoch wollte ich lieber für mich bleiben. Zu viel Aufmerksamkeit stand mir nicht. 

Langsam ging ich den Kiesweg nach oben zur Eingangstür. Dem Müll ausweichend tänzelte ich die Treppe nach oben. Schlussendlich stand ich auf der Veranda. 
Schon hier hörte ich alles laut und deutlich. Dabei hatte ich noch nicht einmal die Tür aufgemacht. Ich fragte mich wirklich, ob die Nachbarn entweder nicht zu Hause waren oder einfach ihre Hörgeräte ausschalteten, um der unermesslichen Lautstärke zu entkommen. 

Meine Hand legte sich auf den Türknauf. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Im Flur wurde mir klar, dass die Party das ganze Haus übernommen hatte. Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen und lief durch die wogende Masse von tanzenden Teenagern.

Von Grazie war hier nicht mehr die Rede. Sie bewegten sich wie es ihnen passte. Immer wieder musste ich geschwungenen Köpfen, Armen, Beinen oder sogar Hüften ausweichen. Wenn ich einen falschen Schritt machte, hätte ich irgendein Körperteil in einer eher intimen Zone meines Körpers. 

Ein Parcours der Körperteile. Der Ausdruck gefiel mir. So könnte man das wirklich nennen. 
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fuhr herum und blickte in das grinsende Gesicht von Cole, dem Gastgeber. Er war der Kapitän unserer Footballmannschaft. Sein Körperbau war bestimmt das doppelte von meinem. Reine Muskelmasse gepaart mit wenigem Verstand. 
»Henry!!!!«, lallte er. Ich wedelte mit meiner Hand vor meiner Nase herum, um seinen Mundgeruch aus meinem Riechfeld zu entfernen. Aus seinem Mund kam ein Gestank nach Alkohol und Gras. Er war komplett dicht und zudem high. 

»Hi, Cole.«, erwiderte ich trotzdem. Wie beiläufig schob ich seine Hand von meiner Schulter. 
Durch sein breites Grinsen kamen die schneeweißen, schnurgeraden Zähne zum Vorschein. Es gab keine Anzeichen mehr dafür, dass er in der middle school mal eine Zahnspange hatte. 
»Hätte nicht gedacht, dass du kommst.« Er schwankte leicht. Ich bedachte ihn mit einem Kopfschütteln. Die Party lief doch erst seit einer Stunde. Wie viele Becher Bier hatte er denn schon gekippt, dass er so breit war? 

Er grinste mich breit an. Ich ging weiter, bahnte mir einen Weg durch den Parcours der Körperteile und erreichte schließlich die Küche. Ich brauchte etwas zu trinken. Kein Alkohol, vielleicht hat Cole auch Cola. 
In der Küche war weniger los. Man sah aber, dass hier eine enorme Anzahl von Partygästen gewütet hatte. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Bunte Pappbecher lagen auf den Arbeitsflächen verstreut; Reste von Chips, M&Ms, Erdnüssen und Gummibärchen zierten den Boden und teilweise auch die Wände. Wenn man die Dips als Blut sehen würde, dann hätte hier ein Massaker stattgefunden, bei dem Blut an die Wände spritzte. 

Ich wühlte mich durch den Müll auf der Suche nach einem unbenutzten Becher und vielleicht einer Flasche Cola. Nach ein paar Minuten hatte ich einen einigermaßen sauberen Becher gefunden und sogar eine Flasche Cola. Mit einem Zischen öffnete sich die Flasche. Ich goss mir den Becher voll und ging wieder aus der Küche. 

Ich hatte keine Ahnung, wo ich hingehen sollte. Im Prinzip waren Partys nur für eines gut: Trinken, rauchen, tanzen, mit Freunden abhängen und natürlich Sex. Ich mochte nichts von alldem. Meine Freunde konnte ich auch zu Hause sehen oder an einem komfortableren Platz. Trinken und rauchen verkürzte mein Leben und tanzen konnte ich nicht. Über den letzten Punkt sprach ich nicht gerne. Nur so viel: Es sollte ein schöner Moment sein. 

Wieder stürzte ich mich ins Getümmel. Meinen Becher hielt ich fest umklammert. Auf der Suche nach einem ruhigen Platz schaute ich mir die Menschen an. Sie schienen alle unglaublich viel Spaß zu haben. Anscheinend konnte jeder von ihnen tanzen. Keiner von ihnen sah dabei bescheuert aus. Nicht, dass ich sie beneiden würde, doch irgendwie gab es Momente, in denen ich mir wünschte, so zu sein wie sie. Sie machten sich nie über etwas Gedanken. Sie taten es einfach. 

Endlich hatte ich eine Ecke gefunden, die noch nicht übernommen wurde. Ich lehnte mich gegen die Wand und ließ den Blick über den Raum zu schweifen, in dem ich mich befand. Ich befand mich immer noch im Erdgeschoss und ich hatte auch nicht vor, in den ersten Stock zu gehen. Cole hatte die meisten zerbrechlichen Gegenstände vermutlich weggeräumt. Das Sofa war auf die Seite geschoben worden, die Regale waren so gut wie leer. Bis auf die Bücher. Er hatte es wohl nicht wichtig gefunden, sie zu retten. 

Wahrscheinlich befand ich mich im Wohnzimmer. Von meiner Ecke aus konnte ich alles gut überblicken. Als ich meinen Blick so schweifen ließ, wünschte ich, ich hätte es nicht getan. 
Auf dem Sofa saß ein Mädchen mit langen, roten Haaren. Ihre Lippen klebten auf denen von Bruce. Er war der Quarterback des Footballteams. Maddy. Wie erstarrt stand ich da. Seit ich denken konnte, war ich in Maddy verliebt. Sie war das wundervollste Mädchen der Schule. Ihr T-Shirt war ein paar Zentimeter nach oben gerutscht und Bruce hatte seine Hand darunter. Der Anblick verletzte mich. 

»Hey, Henry.« Eine Stimme holte mich aus meinen Schwärmereien für Maddy. Ich blickte zur Seite. Tionne stand neben mir. Sie war eine blonde, langbeinige Schönheit. 
»Hi.«, sagte ich zögerlich. Was wollte sie von mir? Aufdringlich blinzelte sie mich an. 
»Gut siehst du heute aus.« Ihre Hand wanderte zu meinem blonden Haar. Ich versuchte ihr auszuweichen, doch die Hand wanderte weiter. »Ein schwarzes T-Shirt. Sehr sexy.« Ich glaubte, sie wollte, dass ihre Stimme verführerisch klang. Ihre Finger strichen am Rand meiner Jacke vorbei. Sie glitten weiter in Richtung Hose. 
»Ähm, Tionne. Tut mir echt leid, wenn wir unsere äh Unterhaltung unterbrechen müssen, aber ich....ich....ich muss kurz weg.«, stotterte ich schnell und wand mich aus ihren Klauen. Schnell verließ ich den Raum, nachdem ich noch einen kurzen Blick auf das Sofa geworfen hatte. Maddy und Bruce hatten ihre Knutschorgie wohl nach oben verlegt. 

Ich lief zur Terrassentür, riss sie auf und ging nach draußen. Die kühle Nachtluft umhüllte mein Gesicht. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben zu den Sternen. Sie glitzerten zu mir nach unten. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre einer von ihnen. Unschuldig würde ich am Himmel schweben und auf die Menschen hinab blicken. Ein Traum, der nie wahr werden würde. Seufzend dachte ich an Maddy. Wieso Bruce? Er war nicht gut genug für sie. Natürlich konnte ich das nicht beurteilen, da ich meiner Meinung nach am Besten zu ihr passte, aber ich sah doch, wie er sie angaffte. 

Er zog sie doch wortwörtlich mit den Augen aus. Er kettete sie an sich, ließ sie nicht los. Ich hatte es in der Schule beobachtet. Sobald ein Junge auch nur in ihrer Nähe lief, bekam er den Killerblick. Einen Blick, den man nur aufsetzte, wenn man etwas behalten möchte und Angst hatte, dass es einem genommen wurde. 
Bruce war der König der Eifersucht. 

Ich schüttelte den Kopf, um die beiden aus meinem Gehirn zu befreien. Jetzt hatte ich mich auf der Party blicken lassen, jetzt konnte ich auch wieder gehen. Ich wollte schon um das Haus laufen und zu meinem Wagen, als ich den Schrei hörte. Er kam aus den Büschen. Sie wackelten eindeutig. 
Mit zwei Schritten war ich dort. Doch was ich dort sah, wollte ich nie gesehen haben. 
Es waren Bruce und Maddy. Beide hatten nur noch ein Kleidungsstück an. 
»Hilfe!«, schrie Maddy. Sie hatten mich noch nicht bemerkt. 
Selbst ein Blinder konnte sehen, dass Maddy ganz und gar nicht das wollte, was Bruce wollte. Doch er ließ nicht locker. Ich musste was unternehmen, bevor ich beide komplett nackt sehen würde und dass wollte ich vermeiden. 

»Lass sie los.« Meine Stimme klang fester, als ich dachte. Überrascht schauten beide auf. Maddy sah erleichtert zu mir. Bruce hingegen war genervt. 
»Komm schon, Mann. Das ist nur Spaß. Das machen wir immer so. Wenn du verstehst, was ich meine.«, sagte er grinsend. Er hatte sich wieder gefangen und hatte wieder die Maske aufgesetzt. Ich wusste nicht, was er meinte und ich wollte es auch gar nicht erfahren. Eines wahr klar, dass hier war nur von einer Seite gewollt. 
»Ich wiederhole es nur einmal: Lass sie los.« Ich versuchte meiner Stimme Nachdruck zu verleihen. 
Spöttisch sah er mich an. »Ich glaube wir wissen beide, dass du mich nie im Leben schlagen würdest.«

Da hatte er recht. Dennoch würde ich für Maddy aus meiner Komfortzone treten. 
Er starrte mich herausfordernd an. Ich starrte zurück. Unsere Blicke trafen sich in der Mitte. 
Ich hatte nicht vor, zuerst aufzugeben. Maddy sah zwischen uns hin und her. Sie begann sich anzuziehen, doch Bruce hielt sie auf. »Lass es, Baby. In ein paar Minuten können wir da weiter machen, wo wir aufgehört haben.«, sagte er ohne den Blick von mir zu wenden. 
»Ganz sicher nicht. Du willst mir doch nicht etwa weiß machen, dass es immer so läuft. Komm schon, Bruce. Wir wissen beide, dass deine Aussage eine Lüge ist.«, sage ich mit ruhiger Stimme. 

Die Spannung baute sich auf. Er biss die Zähne zusammen. Seine Muskeln spannten sich an. Ich musste mich wappnen. Eigentlich hatte ich nicht vor, einen Kampf auszuüben, doch es schien, als käme ich nicht drum herum. Ich werde nur zuschlagen, wenn es nicht anders ging. 
Es wäre dann reine Selbstverteidigung. 
Bruce holte aus. Ich wich aus und seine Faust zischte knapp an meinem Kopf vorbei. Er wollte also einen Kampf. Ich nahm meine Hände vors Gesicht. Das musste ich schützen, ansonsten hatte ich keine Chance. Wieder holte er aus. Diesmal wäre es ein Schlag in den Magen gewesen. Ich schnellte mit meiner Hand nach vorne und hielt seine Faust fest. Er sah mich überrascht an. 

Doch kurz darauf kam die zweite Faust angerast. Kurz bevor er sie in meinem Kopf versenken konnte, trat ich ihm die Beine weg. Er lag auf dem Boden. Während ich die Auseinandersetzung mit Bruce hatte, hatte Maddy sich angezogen. 
»Komm mit.«, sagte ich und zog sie mit mir. Solange Bruce auf dem Boden lag, konnte er nichts tun. Maddys Hand fühlte sich weich an. Sie passte perfekt in meine. 

Wir rannten um das Haus herum zu meinem Auto. Schnell entsperrte ich es. Maddy stieg auf der Beifahrerseite ein. Ich setzte mich hinters Steuer, ließ den Motor an und fuhr los. 
Eine Weile herrschte Schweigen. Bis auf das Gedudel des Radios war nichts zu hören. 
Maddy starrte aus dem Fenster und ich schaute auf die Straße. 
Ich wusste nicht, was ich zu ihr sagen sollte. Diesen Moment hatte ich mir seit Jahren erträumt und jetzt fiel mir nichts ein, was ich zu ihr sagen könnte. Die Lichter der Straßenlaternen rauschten an uns vorbei. Sie erhellten Maddys Gesicht. Sie hatte ihren Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Die roten Haare fielen ihr leicht ins Gesicht. Ich könnte sie ewig beobachten. Doch dann richtete ich meinen Blick wieder auf die Straße. 


»Danke, Henry.«, sagte sie aus heiterem Himmel. Ihre Stimme zitterte. Ich war mir sicher, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. 
Ich winkte ab. »Das ist doch selbstverständlich. Hätte jeder gemacht.«
»Nein, ist es nicht. Wärst du nicht gekommen, dann...«, stoß sie hervor. Sie unterbrach sich mitten im Satz. 
»Bruce ist ein Arsch.«
»Ja, das ist er.« 
Ich riskierte einen Blick zu ihr und sah eine Träne ihre Wange hinabrollen. Sie sollte nicht weinen. Es tat mir im Herzen weh, sie so zu sehen. 

»Also...wohin soll ich dich fahren?«, fragte ich. 
Ich wusste ungefähr, wo sie wohnte, aber vielleicht wollte sie gerade nicht nach Hause. Am besten wäre es, ich überließ ihr die Entscheidung. 
»Wohin du möchtest. Es ist dein Auto.«, sagte sie schließlich. 
»Soll ich dich nach Hause fahren oder woanders hin?« Ich hielt die Luft an. Insgeheim hoffte ich auf eine Antwort, die sie bleiben ließ. 
Sie lachte. Keine Ahnung, wieso sie lachte, aber immerhin weinte sie nicht mehr. 
»Egal, wohin. Lass diese Nacht nur nicht enden. Ich will noch einmal Spaß gehabt haben und Bruce vergessen.«, sagte sie ernst. Sie blickte mich an und alle Gedanken kreisten um sie. 
Obwohl ich nicht wusste, was sie mit ›noch einmal Spaß gehabt haben‹ meinte, konnte ich einfach nicht nein sagen. Es war meine Chance, eine Nacht mit ihr zu verbringen. 

Es war meine Chance, ein paar Momente mit ihr zu sammeln. 
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich in ihrem Glas. 
Kurz vor Mitternacht. Ich war länger auf der Party, als ich dachte. 
Ich stieß die angehaltene Luft aus. 
»Okay. Dann machen wir das so. Irgendwelche Wünsche, wo es hingehen soll?«
Ich schaute sie an. Es war, als ginge ein Traum in Erfüllung. 

Wieder lachte sie. Ich weiß nicht, was sie zum Lachen brachte, aber ich ließ sie lachen. Lachen sollte die Seele heilen und das hatte sie bitter nötig. Die letzten Monate sah sie wirklich nicht glücklich aus. Solange sie lachte, war alles für mich in Ordnung. Es musste keinen Grund geben. 

»Ich würde gerne zum Strand.«, sagte sie. 
»Zum Strand? So wie in den ganzen Filmen, in denen der Junge das Mädchen rettet und sie dann an den Strand will?« Sie strahlte mich an. 
»Welche ganzen Filme? Sag mir drei.«
»Letztendlich sind wir dem Universum egal. After Passion. Mamma Mia 1.«
Gespielt empört schaute sie mich an. 
»Bei After Passion war es ein See und bei Mamma Mia 1 war es ein fucking Boot. Wo ist da der Strand, Mister?«
Ich musste lachen. 

»Na und? Es beweist, dass du diese Filme gesehen hast. Waren sie toll?«
»Du hast sie doch offensichtlich auch gesehen.«
»Nope. Bei den ersten beiden habe ich das Buch gelesen und bei dem zweiten hat jemand mir diese Stelle gezeigt, weil er sowas auch einmal erleben will. Ach ja, da fällt mir ein Film ein, den ich wirklich gesehen habe und bei dem am Ende auch ein Boot drin vorkommt: Midnight Sun.«

Ihr Lachen füllt den Wagen. Die Stimmung hatte sich gelockert und ich dachte, ich hatte sie auf andere Gedanken gebracht.
»Los, fahr mich zum Strand. Hast du dein Handy da?«
Ich deutete auf den Zwischenraum beim Radio. Sie schnappte es sich und schaltete es an. 
»Wer ist das?« Sie deutete auf den Bildschirmschoner. 
Ich lächelte. 
»Das sind meine Schwester und ihre Freundin.«
»Du hast eine Schwester?«, fragte sie überrascht. »Sie geht nicht auf unsere Schule, oder?«
»Nicht mehr. Sie hat vor einem Jahr ihren Abschluss gemacht und ist mit ihrer Freundin auf einen Roadtrip gegangen. In einer Woche kommen sie wieder. «
Sie schaute auf das Bild. Ich kannte es in und auswendig. Meine Schwester hatte einen Arm um mich gelegt und ihre Freundin hatte das Handy in der Hand, mit dem sie das Foto gemacht hatte. Es war etwas verschwommen, da sie das Gleichgewicht verloren hatte und wir alle umfielen. Es war für mich weniger schmerzhaft als für meine Schwester. 

»Sie sieht aus wie du.« Maddy schaute mich an. In diesem Moment wünschte ich mir, diese Nacht würde nie zu ende gehen. 
Ich nickte leicht. Das sagten mir viele. Ich wusste nicht, wie wir in diese sentimentale Stimmung gerutscht waren. 
Auch Maddy schien das aufgefallen zu sein. 
»Wie ist dein Passwort?«
»2580«
Sie tippte die Zahlen ein. 
Ich sah im Augenwinkel, wie sie darauf herumwischte. Dann schien sie gefunden zu haben, was sie suchte.

Die dunklen Häuser rauschten an uns vorbei. Niemand schien noch wach zu sein. Es waren nur Maddy und ich. Es fühlte sich an, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt. Die einzigen Überlebenden. 

Plötzlich ertönte Musik. Eine mir allzu bekannte Melodie erfüllte das Auto. Einzelne Töne eines Klaviers vermischten sich mit den sanften Klängen eines Orchesters. Der starke Beat eines Schlagzeugs mischte sich unter die ruhigen Töne. Dann, ganz sanft, kam eine Querflöte zum Einsatz. Ihr hohes Solo ließ eine Gänsehaut meinen Rücken hinunter laufen. 
»When I look into your eyes, I can see a love restrained. But darling when I hold you, don't you know I feel the same. Nothing lasts forever and we both know hearts can change.«, sang Axel Rose, der Sänger von Guns N' Roses. 

In diesem Moment sah Maddy zu mir. Sie hielt immer noch mein Handy in der Hand. Ein Lächeln zierte ihre Lippen. Ich blickte wieder auf die Straße, um keinen Unfall zu bauen. 

Ich lenkte das Auto auf einen Parkplatz in der Nähe des Strandes. Der Motor verstummte, doch das Gitarrensolo ging weiter. Es pulsierte durch unsere Gelenke. Vorsichtig bewegte ich meinen Kopf und wartete darauf, was sie tun würde. Würde sie sich mir anschließen? Würde sie mich schräg anschauen? Würde sie die Flucht ergreifen? 

Doch dann lachte sie und bewegte ebenfalls ihren Kopf. Wir headbangten zusammen. Ihre Haare kitzelten mich im Gesicht, was mich noch mehr lachen ließ. Im Einklang schwangen wir unsere Köpfe. Dann war das Solo zu ende. Immer noch lachend stiegen wir aus. Die Stimme von Axel Rose begleitete uns auf dem kurzen Weg zum Strand. 

Sobald wir den Strand erreicht hatten, zog Maddy sich die Schuhe aus und hüfte barfuß im Sand herum. Ich musste lachen. Ihre roten Haare flogen. Sie waren ein roter Flammenkreis um ihrem Kopf. Sie war wunderschön. 
Das Lied war vorbei. Sie hatte sich den ganzen Rest des Liedes im Kreis gedreht. Maddy blieb stehen. Über ihr schienen die Sterne. Es waren nur wenige und doch waren sie da. Jeder einzelne von ihnen. 

»Schau dir das Meer an. Eine schwarze Masse. Schön und unberechenbar.«, sagte sie verträumt. Ihr Blick war zum Meer gerichtet. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie war so energiegeladen, fröhlich und doch traurig und verletzt. Am liebsten wollte ich sie in den Arm nehmen, ihren Geruch einatmen und ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde. 
Ich riss meinen Blick von ihr los und blickte auf die trügerisch ruhige schwarze Masse. Ein schwarzes Loch, dass jeden Unvorsichtigen verschluckte. 

Sie setzte sich in den Sand und ich setzte mich neben sie. Unsere Schultern berührten sich. Ein angenehmes Kribbeln flutete meinen Körper. 
»Wieso tust du das für mich?« 
»Wieso tue ich was?«
»Das hier.«, sagte sie und deutete mit ihrer Hand auf den Strand. »Du fährst mich mitten in der Nacht zum Strand, obwohl du bei der Party sein könntest.«
»Ich hatte sowieso vor zu gehen. Dann warst du da und dann sind wir gegangen.«, fasste ich die Situation zusammen. Ich wollte Bruce nicht erwähnen. 

Sie sah mich an. Ihre grünen Augen funkelten in der Dunkelheit. In einem früheren Leben war sie vielleicht eine Katze gewesen. Es hätte zu ihr gepasst. Elegant und geheimnisvoll. 
»Aber du hättest das nicht tun müssen. Es stand dir frei. Warum also hast du es getan?«, hakte sie nach. 
»Hätte das nicht jeder getan?« Ich versuchte ihrer Frage auszuweichen. Es wäre jetzt der denkbar schlechteste Moment, um ihr mitzuteilen, dass ich in sie verliebt war. Sie würde dann an Bruce denken und schlimmstenfalls weinen.
»Vielleicht. Aber du bist nicht jeder. Es muss doch einen Grund geben, warum du es getan hast. Komm schon, sag es mir.«  
Ich verdrehte unmerklich die Augen. Wieso wollte sie das unbedingt wissen? Es reichte doch aus, dass ich es getan habe. Mehr müsste sie eigentlich nicht interessieren. 

»Ich nehm es auch mit in mein Grab. Niemand wird es je erfahren. Meine Lippen sind versiegelt.« Sie tat so, als ziehe sie einen Reißverschluss an ihrem Mund zu. »Siehst du, der Schlüssel liegt im Meer.« Sie holte aus und warf den imaginären Schlüssel ins Meer.
»Dafür, dass deine Lippen versiegelt sind, bist du aber noch ziemlich gesprächig.«, merkte ich grinsend an. 
»Bitte, Henry. Ich hasse Geheimnisse. Sag es mir.« 
Ich seufzte.
»Also gut. Damit du endlich davon aufhörst. Auch wenn es wirklich jeder getan hätte, du eigentlich dankbar sein solltest und dir der Grund egal sein sollte. Aber okay. Du willst ihn also wissen. Den Grund. Nun, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll...«
Mitten im Satz unterbrach sie mich. »Jetzt sag es mir schon. Machs nicht so spannend.«

Ich räusperte mich. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, in dem ich ihr mein tiefstes Geheimnis offenbaren würde. Eigentlich wollte ich es für immer für mich behalten. Niemand sollte je etwas davon erfahren. Doch jetzt würde ich es Maddy sagen. 
»Okay. Ähm...Fakt ist, dass ich dich schon ewig kenne, also vom sehen. Nicht weil wir befreundet waren oder so. Na ja, egal. Du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber ich hab dich jede Pause beobachtet. Es war echt schwierig, dich auf dem Gelände zu finden, aber das war es wert. 
Also, lange Rede kurzer Sinn, ich bin schon ewig in dich verknallt, Madison Scott.«

Ich habe es ausgesprochen. Eine schwere Last hatte sich von meiner Seele gelöst. Ich sah ihr nicht in die Augen. Mein Blick war auf den Sand gerichtet. Mein Herz schlug so laut, dass sie es wahrscheinlich hörte. 
»Also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Alles habe ich erwartet, aber nicht das.«, sagte sie. 
Ich schaute sie an. Ich wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes war. Vielleicht würde sie jetzt einfach aufstehen und gehen. Es wäre mein schlimmster Albtraum, aber die Blamage in der Schule bliebe mir durch ihre versiegelten Lippen erspart. Wenigstens etwas positives. 

»Na, jetzt habe ich es dir ja gesagt. Können wir das Thema wechseln? Bitte?«, fragte ich. 
Zögernd nickte sie. Anscheinend war sie immer noch etwas überrumpelt. 
Nach meinem Geständnis herrschte eine unangenehme Stille. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht sollte ich einfach irgendwas reden, nur damit die Stille überwältigt wurde?
Vielleicht wäre Schweigen angebracht? Ich wusste es nicht. 

»Könnte ich dein Handy noch einmal haben?«
Verwirrt schaute ich sie an. »Du hast es immer noch in deiner Hand.«
Sie blickte auf ihre Hand und sah auf mein Handy. Zerstreut hob sie es hoch und schaltete es an. Das Licht erhellte ihr Gesicht. Das Verhältnis von Licht und Schatten ließ ihre Gesichtszüge markanter wirken. 
Ihre Finger huschten über das Display. Sie schien gefunden zu haben, was sie suchte. 

Ich meinte zu wissen, was sie vorhatte, denn ich entzog ihr das Handy. Überrascht schaute sie mich an.
»Diesmal suche ich das Lied aus.«, sagte ich mit einem Lächeln. 
Ich scrollte durch meine Musikplaylist und fand schließlich den perfekten Song als Abschluss für die Nacht. Es würde der Abschluss sein, da es schon kurz nach halb drei war und ich um drei zu Hause sein musste. 

Eine Akustikgitarre erklang. Danach begann Dennis Wilson zu singen: »If every word I said, could make you laugh, I'd talk forever.«
Das Lied beschrieb meine Gefühle für Maddy sehr gut. 

Sie blickte zu mir. 
»Es ist wunderschön. Von wem ist das?«
»Das ist Forever von den Beach Boys. Und ja, es ist wunderschön.« Ich machte eine kurze Pause. »Also, ich muss um drei zu Hause sein. Es ist kurz nach halb drei. Wir müssten jetzt fahren. Ist das ein Problem für dich?«
Zerknirscht blickte ich sie an. Sie schüttelte den Kopf und lächelte. 
Erleichtert atmete ich auf und gemeinsam liefen wir den Weg wieder zurück zu meinem Auto. 
Die letzten Klänge des Liedes waren verklungen und wir saßen wieder im Auto. 

Der Motor erwachte zum Leben und ich fuhr wieder auf die Straße. 
»Wo wohnst du eigentlich?«
»805 California Street«
Ich nickte. 
Schweigend fuhren wir weiter. 

Es gab nichts mehr zu sagen. Alles wurde gesagt. 
Ich bog in die gepflegte Straße ein, die sie mir genannt hatte. 
Die 805 war ein kleines Einfamilienhaus. Es stand am Ende der Straße. 
Ich hielt am Straßenrand an und schaltete den Motor aus. Ich wollte nicht, dass die Nacht zu ende ging. Doch es musst sein. 

»Henry. Vielen Dank. Für alles. Ich werde dich immer in Erinnerung behalten.« Und dann küsste sie mich. Ihre weichen Lippen landeten auf meinen. Es war ein kurzer Kuss und doch schien es Ewigkeiten zu dauern, bis sie sich von mir löste. In ihren Augen standen Tränen. Ich wollte sie fragen, wieso sie weinte, doch sie öffnete die Tür und stieg aus. 
»Ich liebe dich auch.« Die Worte waren in die Luft gehaucht und doch wusste sie, dass ich sie gehört hatte. Dann schlug die Autotür zu. 


⨯⨯⨯

Es war die erste Nacht und zugleich die letzte mit ihr. Danach war sie verschwunden. Es gab keine Anzeichen von ihr. Sie war weg. Und ich war die letzte Person, die sie zu Gesicht bekommen hatte. 
Tagelang habe ich nach ihr gesucht. Überall. Irgendwann gab ich meine Hoffnungen auf. Ich würde sie nie wieder sehen. Doch dann hieß es auf einmal, dass sie gefunden wurde. 

Ich wollte sie unbedingt wieder sehen. Alles setzte ich daran, sie zu sehen. Doch das, was ich zu sehen bekam, gab mir den Rest. 
Es waren ihre leblosen Augen, die mich anstarrten. Ihr Körper wurde aus dem Meer gezogen. Sie war ertrunken. Ich berührte ihre kalte, leblose Hülle. Die Kleider waren zerrissen. Sie musste ewig dort gelegen haben. Niemand hatte sie gefunden. 

Auf einmal ergab alles Sinn. Alles, was sie in jener Nacht zu mir gesagt hatte. 
Ich will noch einmal Spaß gehabt haben 
Ich nehm es auch mit in mein Grab.
Ich werde dich immer in Erinnerung behalten.

Ihre Stimme hallte in meinen Gedanken. Alles fügte sich zusammen. Sie hatte Selbstmord begangen. Es verschlimmerte alles. Ich fühlte mich schlecht, weil ich es hätte bemerken können. Ich hätte etwas unternehmen können, wenn ich die Zeichen richtig gedeutet hätte. 

Doch das Meer war mir zuvor gekommen. Es hatte sie verschluckt. Das schwarze Loch hatte sie in seinen Fesseln. 
Das war es doch. Das Meer. Wer einmal hineinsank, kam nie wieder heraus. 




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