Kapitel 6


Elian

»Walker! Hast du es auch endlich mal geschafft?«, ruft mir Jay zu, als ich den Boxclub betrete.

»Ja, ich wurde noch kurz aufgehalten. Mach kein Drama draus«, sage ich genervt. Wir würden schon eine knappe Stunde trainieren, aber die Neue in der Stadt ist zu faszinierend, weshalb ich ihr unbedingt auf die Nerven gehen wollte, bevor ich abhaue.

»Von deinem Ego, oder was?« Er wirft mir das Tape zu, welches ich mir augenblicklich um die Finger wickle. Ich schaue flüchtig zu Jay auf, der nur eine Sporthose trägt, die ihm bis zu den Knien geht. Seine Hände sind bereits getaped und er streicht sich mit diesen durch seine kürzeren braunen Haare.

»Nein, deine Mutter wollte mich nach letzter Nacht unbedingt nochmal wiedersehen«, provoziere ich Jay und kassiere einen Schlag in den Nacken von ihm.

»Halt deine Fresse und box endlich.« Er stellt sich hinter einen der Boxsäcke und umfasst diesen mit beiden Armen. Ich stelle mich davor und hebe meine Fäuste, ehe ich im langsamen Tempo abwechselnd auf den Sack schlage.

»Was ist das? Sind wir hier beim Ballett oder beim Kickboxen? Soll ich dir nächstes Mal noch ein rosa Tütü mitbringen?«

»Beruhig dich doch mal! Kann ich mich erst einmal warm boxen?«, maule ich Jay an. Abermals schlage ich gegen den Sandsack und setze ebenso mein Bein ein, mit dem ich kräftig dagegen trete.

»Dafür, dass du Arme hast wie Mike Tyson, haust du zu, wie meine kleine Schwester«, meint Jay mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht. Wieder schlage und kicke ich auf den Boxsack ein, aber dieses Mal mit mehr Kraft. Meine Gedanken schweifen zu der Neuen in der Stadt. Wie hat Liam sie genannt?

Ach ja, Toni.

Sie ist mir schon an der Tankstelle aufgefallen. Wie sie mit diesem übergroßen Pulli, der ihren Körper noch winziger aussehen ließ, an mir vorbei stolziert ist. Und wie sie anschließend gegen ihr Auto gelaufen ist, weil die Tür verschlossen war. Der Anblick war schon lustig. Und nachfolgend wirft sie mir beim Fahren frech eine Kusshand zu und zwinkert. Da dachte ich kurz, mir würden meine Augen ausfallen.

Ich merke gar nicht, dass ich aufgehört habe zu boxen, bis mich der Boxsack volle Kanne seitlich erwischt und mich zu Boden reißt.

»Ey du prima Ballerina!«, schreit Jay mich an.

Ich springe eilig auf. Mir platzt jeden Moment eine Ader, wenn er nicht aufhört, mich zu provozieren! Dann ersetze ich schnell den Sack mit seiner Fresse! Mal sehen, ob er daraufhin weiterhin solch eine riesige Schnauze hat!

»Übertreib es nicht, Jay!«, knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«

»Das geht dich einen feuchten Dreck an! Du bist hier nur zum Boxen mit mir und nicht zum Kaffeeklatsch!« Ich werde einen Scheiß tun und Jay von meiner neuen Bekanntschaft erzählen. Das würde nur wieder den Jagdtrieb in ihm wecken und allein die Vorstellung, wie er Toni zu nahe kommt, bringt mein Blut zum Brodeln. Er kann gegenüber dem weiblichen Geschlecht absolut abartig werden. Mir ist zu Ohren gekommen, dass er nicht immer anständig ist.

Jay zählt nicht zu meinen Freunden. Er weiß nichts über mich und das wird so bleiben. Ich trainiere mit ihm zusammen. Nicht mehr und nicht weniger. Er kennt die Gerüchte, aber er hat keine Ahnung, was in Wirklichkeit passiert ist. Ich scheiß' ohnehin auf jegliche Meinungen. Die meisten pissen sich ins Hemd, wenn ich nur einzelne Meter entfernt bin. Die Menschheit ist primitiv. Alle glauben zu wissen, wer du bist, ohne jemals mit dir geredet zu haben.

Sie sind bedauernswert, weil sie sich von ihren Emotionen leiten lassen. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, so etwas wie Gefühle zu haben. Das unsinnigste Empfinden ist Angst.

Warum haben Menschen diese? Wovor? Vor dem Tod? Wieso glaubt die Menschheit, es sei der Tod, vor dem sie sich fürchten müssen? Was ist, wenn es das Leben ist, vor dem sie Angst haben müssten?

»Dann solltest du vielleicht auch endlich mal boxen und nicht nur tänzeln, wie Barbie in Schwanensee!«

Jetzt hat er mich so weit!

»Fick dich!« Ich trete mit aller Kraft gegen den Sack, welcher zur Seite schwingt und dieses Mal Jay auf die Matte wirft. Ich muss mich beherrschen, mich nicht auf ihn zu stürzen und seine hässliche Hackfresse kostenlos zu verschönern!

Meine Tasche schnappend, gehe ich in die Umkleide, um dort zu duschen. Ich stelle mich unter das kalte Wasser, um meine angestaute Wut zu unterdrücken.

Als ich fertig bin, trockne ich mich notdürftig ab und rubbel mir schnell mit einem Handtuch durch meine längeren braunen Haare. Sie locken sich sofort und hängen mir ins Gesicht, was mich tierisch nervt. Allerdings kann ich dagegen nichts machen, da ich kein Mädchen bin und meine Haarprodukte überall mit hinschleppe. Ich ziehe mir zügig frische Sachen an, um anschließend, mit eiligen Schritten, den Boxclub genauso schnell zu verlassen, wie ich gekommen bin.

Draußen mache ich mir eine Zigarette an und während ich den Qualm genüsslich einziehe, sehe ich ein Auto, das auf den Parkplatz einbiegt. Ich erkenne dieses sofort und es kommt neben mir zum Stehen.

»Wir wollen einen trinken gehen, kommst du mit?«, fragt Jonas, nachdem er das Fenster geöffnet und sich zu mir nach draußen gelehnt hat. Ich schaue in den Wagen hinein. Ich sehe, dass auch Zayn und Vicky dabei sind. Letztere hat mit Farben mal wieder nicht gespart!

Wo ist meine Sonnenbrille?

Zu einem unbestimmten Zeitpunkt erleide ich noch Augenkrebs!

Ich muss mir ein lautes Aufstöhnen verkneifen. Offen gesagt habe ich keine Lust! Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, komme ich zu dem Entschluss, dass es doch lustig werden könnte. Toni zu nerven, wird definitiv eins meiner neuen Hobbys! Sie ist so niedlich, sobald sie versucht, mich mit ihren grünen Augen böse anzusehen, und sie ihre kleinen Arme um ihren zärtlichen Körper schlingt. Man möchte sie am liebsten durch knuddeln!

Okay kann mir eventuell jemand eine verpassen?

»Ja, ich komme mit dem Motorrad nach. Fahrt schon mal vor«, entscheide ich mich kurzerhand.

Jonas rauscht daraufhin weiter und ich rauche in Ruhe meine Zigarette zu Ende. Als ich fertig bin, gehe ich zu meiner Cross und setze mir meinen Helm auf. Es ist schon acht Uhr abends. Vielleicht ist Toni gar nicht mehr in der Bar. Andererseits kennt sie niemanden hier in der Stadt. Folglich wird sie vermutlich erst mal ein paar Leute kennenlernen wollen, anstatt einsam und allein in einer Wohnung zu hocken. Ich starte das Motorrad mit einer schnellen Bewegung und lasse die Kupplung augenblicklich kommen. Während der Wind sich um meinen Körper hüllt, schweifen meine Gedanken wieder zu Toni. Sie lässt sich von mir nicht einschüchtern und hat sogar die Eier in der Hose mir dumm zu kommen. Das trauen sich nur Einzelne, um nicht zu sagen, keiner.

Wie hat sie mich vor ihrer Freundin genannt? Alpha-Kevin? Sie ist absolut nicht wie alle anderen Frauen. Sie versucht mir nicht schöne Augen zu machen und klimpert nicht mit ihren künstlichen Wimpern vor mir herum. Toni wackelt nicht mit ihrem Hintern oder ihren Titten, obwohl es mir bei ihr sogar gefallen würde. Sie ist zwar wie alle anderen aus der Großstadt, elegant gekleidet, geschminkt und gepflegt und trägt die Nase zu weit oben, aber trotzdem wirkt sie auf ihre eigene Art natürlich und hübsch.

Ich komme an der Bar an und stelle mein Motorrad ab. Den Helm abnehmend versuche ich mit meinen Fingern, wieder eine Struktur in meine Frisur zu bekommen. Daraufhin betrete ich die Bar und mir schlägt der mir vertraute Brechreiz hervorrufende Geruch entgegen. Ich sehe sie sofort, wie sie auf einen der Barhocker vor der Theke sitzt.

Ihre langen gebräunten Beine übereinanderschlagend lacht sie, woraufhin ihre perfekten weißen Zähne funkeln. Ihre braunen Haare fließen locker und in leichten Wellen über ihren Rücken. Wie sich alle um sie herum tummeln, als wäre sie die neue Hauptattraktion! Wie die Kerle in der Bar versuchen, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, aber sie sich für keinen zu interessieren scheint.

Sie ist wunderschön und das Beste daran ist, sie gibt sich nicht mal Mühe!

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