Kapitel 3
Toni
5 Monate später
»Noch einen!«, brüllt meine beste Freundin über die laute Musik im Club hinweg. Ich laufe Gefahr, einen Tinnitus zu bekommen! Der Barkeeper reicht uns zum wiederholten Mal zwei Shots Wodka, und wenn Leo nicht aufhört immer wieder „noch einen" zu rufen, bin ich mir zu hundert Prozent sicher, diesen Abend nicht zu überleben!
»Auf die neue Geschäftsführerin des BARacuda's!«, ruft die Blondine aus, ehe wir anstoßen und die beiden Gläser zeitgleich leeren.
Die ersten paar Shots waren eklig, aber jetzt nach dem vierten läuft die Plörre meinen Rachen runter, wie warme Semmel. Und ja, ich habe es endlich geschafft! Ich habe lange darauf hingearbeitet und bin von nun an nicht nur die Barchefin, sondern auch die Geschäftsführerin einer Bar! Nach all den Monaten ergibt mal wieder etwas Sinn in meinem Leben.
Die Trennung von Ben habe ich noch nicht verkraftet. Die Erinnerung an ihn schmerzt genauso, wie an den Abend, als er mir alles nahm. Und doch hat er offenbar nicht genug. Er kommt ständig bei mir an und versucht, ein Gespräch anzuzetteln. Dabei weiß ich nicht, was das noch bringen würde. Ich lebe seit dem Vorfall bei Leo, obwohl ich mir finanziell eine eigene Wohnung leisten könnte. Allerdings bezweifle ich, dass ich allein zurechtkommen würde. Leider mache ich mich wirklich schnell abhängig von anderen Menschen. Mein Selbstbewusstsein ist zu gering, als dass es mir gelingen könnte, mich auf mich selbst zu verlassen.
Aber ich weiß, dass es an der Zeit ist. Ich muss mich langsam zusammenreißen und mich aus meinem Kokon befreien. Mich von den Menschen abkapseln, die mir Halt geben. Die Raupe sollte endlich zu einem wunderschönen Schmetterling werden. Ich muss lernen, auf mich allein gestellt zu sein. Was nützt es mir, wenn ich mich jederzeit nur auf andere stütze und nicht erlerne, eigenständig stehen zu können?
Und genau deshalb habe ich meinem Chef zugesichert, eine weitere Bar zu leiten. Jedoch muss ich das noch Leo beibringen. Sie wird sicher ausflippen vor Wut und mich beschimpfen, aber es ist meine Chance! Nach all dem Chaos, mich wieder selbst zu finden. Glücklich zu werden. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Leo mir einen Longdrink in die Hand drückt. Offensichtlich sind wir mit den Shots durch. »Was ist das?«, rufe ich ihr zu.
»Long Island Iced Tea«, ruft sie zurück und strahlt mich mit ihren blauen Augen an.
Klar, kein Problem!
Dann pumpen wir uns neben Wodka auch noch mit Rum, Gin, Tequila und, wer weiß, was alles in diesem Komagetränk drin ist, zu. Nachdem wir davon ebenfalls zwei getrunken haben, stützen wir uns aneinander ab und beschließen, nach Hause zu gehen.
Zwei Liter Wasser am Tag, das schaffe ich nie! Aber sechs Shots und zwei Longdrinks fließen runter, wie ein dickes Kind auf der Wippe. Morgen werden wir sicher den Kater unseres Lebens haben. Gemeinsam verlassen wir den stickigen Club und meine Lungen füllen sich mit der frischen Frühlingsluft.
Meine Ohren dröhnen von der ohrenbetäubenden Musik und den lauten Stimmen. Vielleicht auch von Leos lautstarkem Organ, man weiß es nicht. Da es schon wieder anfängt zu dämmern, kann man bereits die Vögel zwitschern hören. Es ist so friedlich und ausnahmsweise wird man nicht ständig angerempelt von Geschäftsleuten, die es eilig haben, zur Arbeit zu gelangen. Leo und ich gehen Arm in Arm über den Bürgersteig in Richtung ihrer Wohnung.
»Hat sich Ben noch mal gemeldet?«, fragt sie überraschend in die Stille hinein.
»Nein, nach deinem letzten Wutausbruch hat er mich tatsächlich vorerst in Ruhe gelassen. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden.«
»Dann lernt er mich richtig kennen!« Vielleicht sollte ich meinen Zustand ausnutzen und sie jetzt schon in meinem Vorhaben einweihen. Im Augenblick hätte ich ausreichend Mut, um ihr alles zu erklären.
»Du Leo, ich müsste da noch etwas mit dir besprechen«, nuschle ich vor mich hin. Doch sie scheint mich verstanden zu haben, da ihr Kopf direkt in meine Richtung schnellt und sie mich mit fragendem Blick ansieht.
»Was hast du getan?« Leo verengt ihre Augen zu Schlitzen und sieht mich argwöhnisch an.
»Nichts Schlimmes, denke ich mal.« So langsam verlässt mich doch der Mut. Ihr Blick liegt weiterhin fragend auf meinem Gesicht und deutet mir endlich mit der Sprache herauszurücken.
»Also i-ich habe die B-beförderung aus e-einem bestimmten Grund b-bekommen ...«
»Toni! Stottern wird zusammengeschrieben, aber auseinander gesprochen! Also hör bitte auf, so zu stammeln, und komm auf den Punkt!«
Ist sie nicht reizend?
»Ich soll mich um die Bar in Jacksonville kümmern. Also das Jacksonville in Illinois, nicht Florida!«
»Du hast aber in Geografie aufgepasst, oder du Blitzbirne? Das Jacksonville in Illinois ist vier Stunden von hier entfernt!«
Den Rest des Satzes kreischt sie nur noch, während sie zu mir herunterschaut, da sie einiges größer ist als ich.
»Ja, Leo. Ich weiß, wo Jacksonville liegt! Aber es ist die Chance für mich! Ich kann mich endlich selbst finden und ich habe Abstand von Ben. Ich muss das endlich hinter mir lassen können!«
»Bist du irgendwie irre geworden? Deswegen musst du gleich so weit weg? Mach, wie alle anderen auch, einfach 2 Wochen Urlaub auf Hawaii, verdammt!«
»Du tust ja so, als würde ich das Land verlassen! Genau genommen verlasse ich nicht mal den Bundesstaat!« Jetzt werde ich ebenso lauter. Ich wusste, Leo würde es nicht hinnehmen, aber, dass sie deswegen gleich so am Rad dreht, hätte ich nicht gedacht.
»Jacksonville ... ist da überhaupt etwas los? Ist das überhaupt eine Stadt oder nur ein Dorf?« Sie scheint sich endlich beruhigt zu haben und über das, was ich ihr erzählt habe, nachzudenken.
»Es ist eine Stadt, aber bestimmt wesentlich ruhiger als Chicago. Und glaub mir Leo, Ruhe ist genau das, was ich jetzt benötige!«
»Ich weiß nicht. Ich kann dich doch nicht einfach allein lassen.« Leo seufzt und sieht mir traurig entgegen. Mich überkommt ein schlechtes Gewissen und ich zweifle langsam daran, ob es wirklich eine so gute Idee war, direkt zuzusagen. Einen Rückzieher kann ich nicht mehr machen, aber Leo so bedrückt zu sehen, tut mir im Herzen weh.
»Leo, ich werde schon klarkommen. Du kannst mich jederzeit besuchen und auch andersherum! Außerdem können wir auch immer telefonieren.«
»Wann geht es los?«, fragt sie mich und sieht mir das erste Mal wieder in die Augen.
»Direkt Montag werde ich los und mir schon einmal einen Eindruck von der Bar machen.«
»Das ist übermorgen! Du hast nicht einmal eine beschissene Wohnung! Wieso so schnell? Dein Chef hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun!« Sie fängt schon wieder an, herumzuschreien und wild umher zu gestikulieren.
»Genau genommen hat mein Chef ein Apartment für mich gemietet, damit alles so schnell wie möglich passieren kann«, erkläre ich kleinlaut und fühle mich unglaublich schlecht, Leo so zu überrumpeln.
»Kommst du noch mal wieder? Ich meine, wenn du Montag hinfährst. Oder bleibst du gleich für immer da?« Sie sieht aus wie ein kleiner, zurückgelassener Welpe.
»Ich werde erst einmal nur für eine Woche dort sein. Und über das Wochenende werde ich all meine Sachen packen und aus deiner Wohnung holen.«
Leo fährt sich frustriert durch die Haare, ehe sie mich an sich drückt und halbwegs zerquetscht.
»Du wirst mir so fehlen«, schluchzt sie an meinem Hals, während ihr die Tränen herunterlaufen.
»Du mir auch!« Wir stehen einige Minuten da und halten uns in den Armen, ehe wir die restlichen Meter zu Leos Wohnung gehen. Nicht nur Leo werde ich vermissen, auch die laute Stadt. Die ganzen Menschen, die den Tag über komplett gestresst durch die Straßen laufen. Das permanente Gehupe der Autos und die Sirenen, die fast durchgehend von überall zu hören sind. Aber ich weiß, dass es das Richtige ist! Es wird mein Neuanfang sein, indem ich über mich selbst hinauswachsen kann! In welchem ich den Schmerz und den Verlust vergessen und mein Leben neu ordnen kann. Es kann nur besser werden.
Es ist bereits Montag früh und ich sitze in meinem Auto auf dem Weg nach Jacksonville. In meinem Bauch kribbelt es und ich bin mehr als aufgeregt, wie meine erste Woche dort verlaufen wird. Ob mich die Mitarbeiter der Bar akzeptieren werden? Der gestrige Tag war grausam!
Wie bereits zu erwarten war, hatten Leo und ich einen fiesen Kater.
Was übrigens nicht zu unserer, ohnehin schon schlechten Abschiedsstimmung, beigetragen hat. Wir haben den halben Tag auf der Couch verbracht und uns dort zusammen eingekuschelt, während wir über Jacksonville geredet haben.
Ich glaube, Leo ist immer noch sauer, dass ich mich so einfach aus dem Staub mache. Allerdings kenne ich Leo. Sie wird sich schon wieder einkriegen und falls ich sie brauche, kann ich trotzdem auf sie zählen.
Der Großteil der Strecke verging erstaunlich schnell, nun trennen mich nur noch eine Stunde und knapp hundert Kilometer von meinem neuen Leben.
Mein Chef hat mir zum Glück gestern bereits die Schlüssel und die Adresse meines unbekannten Apartments gegeben. So kann ich, bevor ich zur Bar fahre, mich frisch machen und umziehen. Für die Fahrt habe ich mich für eine schwarze Leggings und einen übergroßen rosafarbenen Pullover entschieden. Mein Handy klingelt und ich erschrecke mich leicht, da ich mich zu sehr auf die Straße konzentriert habe.
»Du glaubst mir nie, was hier gerade abging!«, ertönt die Stimme von Leo durch meine Autolautsprecher. Sie hat das Talent, mit der Tür direkt ins Haus zu fallen.
»Dir auch Hallo! Na dann erzähl mal. Was ist passiert?«
»Ben war vor meiner Wohnung mit roten Rosen und jetzt halt dich fest! Er stand mit einer Gitarre vor der Tür!«, redet sie viel zu schnell. Ihre Stimme überschlägt sich regelrecht.
Heilige Scheiße!
Da bin ich gleich doppelt so froh, von dem Irren mehrere hundert Kilometer entfernt zu sein.
Mutiert er zu einem Soziopathen?
»Ist er jetzt vollkommen übergeschnappt?«, frage ich, wobei es eher an mich gerichtet ist. Was denkt der sich? Er hat mich doch mit der Tussi betrogen!
»Toni, das war der Hammer! Wusstest du, dass er Gitarre spielen kann? Oh mein Gott, das war so unglaublich süß! Und du hast es einfach verpasst!«, schwärmte sie voller Euphorie.
Mädel, hol mal Luft!
»Vielleicht solltest du doch noch einmal mit ihm reden. Ich mein ernsthaft, welcher Typ macht so etwas Verrücktes, wenn er es nicht ernst meint? Du hättest ihn ...«
»Leo! Atme!«, unterbreche ich sie.
Ich höre sie am Telefon schwer Luft holen und glaube beinahe, dass sie kurz vor einer Hyperventilation steht.
»Du vergisst da anscheinend gerade etwas Wesentliches! Und zwar hat er mich betrogen. Er hat einfach eine andere Tussi auf unserer Küchentheke gebumst!«
Ich wollte mich nicht mehr aufregen, geschweige denn, überhaupt daran denken, doch Leo verliert, wie man hört, komplett den Verstand!
»Ja, aber jeder macht mal Fehler und er scheint es wirklich zu bereuen! Warum gibst du ihm nicht einfach noch eine Chance?«, fragt sie mich aufgeregt. Ungläubig schaue ich auf mein Navi, obwohl Leo es nicht sehen kann.
»Ein Fehler? Wenn er vergisst, die Milch einzukaufen oder den Müll herauszubringen, das wäre ein Fehler!«, schreie ich in die Freisprechanlage. Ich muss mich selbst ermahnen, locker zu bleiben, weshalb ich tief durchatme.
»Dramaqueen«, nuschelt Leo. Ich höre regelrecht, wie sie ihre Augen so weit verdreht, dass sie ihr kleines Erbsenhirn begutachten kann.
»Wieso nimmst du ihn nicht, wenn du ihn so toll findest?« Warum muss diese Frau nur so nervig sein?
»Nein, er kann mir nicht das Wasser reichen.«, meint Leo mit überheblicher Stimme, woraufhin wir beide lachen. Wir unterhalten uns über andere Nebensächlichkeiten, ehe ich den Freeway verlasse.
»Leo, ich bin in wenigen Kilometern da. Ich melde mich heute Abend und berichte dir von der Arbeit«, teile ich ihr mit. Mein Herz klopft nervös, als ich das Ortseingangsschild sehe. Allmählich wird mir bewusst, dass jetzt mein neuer Lebensabschnitt anfängt.
»Ja gut, aber überleg es dir nochmal.«
»Tschüss!« Ich lege auf, ohne auf eine Antwort von Leo zu warten. Sie raubt mir zeitweise echt den letzten Nerv!
Ich beschließe, vorher einen Stopp an der Tankstelle einzulegen, da ich dringend einen Kaffee benötige. Als ich aussteige, fühlen sich meine Glieder wie versteinert an und ich muss mich erst einmal ausgiebig strecken. Dabei knacken hier und da ein paar meiner Knochen.
Ja, eindeutig im knackigen Alter!
Meine innere Stimme ist fast genauso nervig wie Leo!
Ich betrete die Tankstelle und stelle mich an den Kaffeeautomaten. Dort tippe ich die Nummer ein und werfe zwei Münzen in den Automaten, als ich von draußen ein lautes Dröhnen höre. Während mein Kaffee in den Becher läuft, schaue ich durch die Glasscheibe und erkenne, dass ein Motorrad an rauscht. Es kommt an einer Zapfsäule zum Stehen und ein großer, breiter Typ steigt elegant davon ab.
Ich beobachte den Typen, wie er seinen Helm abnimmt und lässig seine Cross tankt. Seine Augen schweifen in die Tankstelle und direkt zu mir. Am liebsten hätte ich schnell weggesehen, aber etwas an ihm fesselt mich. Er strahlt keinerlei Emotionen aus und wirkt dadurch einfach nur kühl. Sein Blick ist vernichtend, so als würde er mich hassen, obwohl er mich nicht mal kennt. Unerwartet reißt mich ein lautes Piepen von dem Automaten aus meinen Gedanken. Ich erschrecke mich so heftig, dass ich mit dem Ellenbogen dagegen stoße.
Autsch, das war der Musikantenknochen.
Ich drehe mich hektisch zu dem Kaffeeautomaten herum und nehme mein Getränk, ehe ich etwas Zucker und Milch hineingebe. Mit einem Holzstab rühre ich alles um und schließe den Becher mit einem Deckel.
Ich verlasse hastig den Tankstellenshop und laufe, ohne meinen Blick zu heben, an dem Schrank, mit der irren Miene, vorbei. Seine Augen bohren sich regelrecht in meinen Rücken, als ich eilig zu meinem Auto gehe. Jedoch ignoriere ich es gekonnt, denn solche Kerle versprechen nichts als Ärger. Ich möchte mir gerade innerlich auf die Schulter hauen für meine Coolness, als ich aber nicht ganz so gelassen versuche, die Autotür zu öffnen, obwohl der Wagen verschlossen ist. Ich laufe halbwegs gegen das Auto und rutsche vom Türgriff ab, wobei ich mir meinen Finger klemme.
Fuck!
Am liebsten würde ich mich umsehen, ob es jemand mitbekommen hat, aber wenn mich daraufhin alle anglotzen, versinke ich definitiv im Erdboden. Daher habe ich mich dazu entschlossen, es sein zu lassen. Ich entriegle mein Auto mithilfe der Zentralverriegelung und mache einen zweiten Versuch, die Tür zu öffnen. Dieses Mal klappt es und ich steige ein. Ich nehme mir einen Kaugummi aus der Mittelarmkonsole und schnalle mich an, ehe ich den Motor starte und losfahre. Ein letztes Mal schaue ich zu der Stelle, wo der rätselhafte Typ vorhin stand, und muss leider feststellen, dass er mich genauso mustert, wie bisher.
Habe ich was im Gesicht?
Ich überlege, ihm zum Abschied zu winken, entscheide mich letztlich für eine Kusshand und ihm zuzuzwinkern.
Für den Blick hat sich das auf jeden Fall gelohnt!
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