Kapitel 45

[Ein nettes Familiendinner]

~Mit Manipulation als Vorspeise, Zerstörung als Hauptgang und Perfektion als Nachtisch~

Casmiel hasste Familientreffen.

Es war ein Tag, der nur aus falschen Lächeln, versteckten Morddrohungen und ständiger Manipulation entstand. Ein Tag, der nur dafür da war, zu zeigen, wer der Beste war.

Eine alte Leier, die er bereits kannte. Irgendwie wurde sie langweilig.

Als er noch jünger gewesen war, waren diese Treffen der Horror gewesen. Er war panisch den Verwandten ausgewichen, hatte sich an seinen Vater gehalten und sich bei Cassiopeia versteckt. Er war paranoid gewesen, hatte sich selbst hinterfragt und so viel gedacht, bis er Kopfschmerzen gehabt hatte. Inzwischen war das hier ein Kinderspiel. Inzwischen musste er sich nicht mehr konzentrieren.

Er war Charon gewohnt. Charon Asklepios Tripe. Es gab einen Grund, weshalb er das Familienoberhaupt geworden und geblieben ist, obwohl er es mit gerade einmal dreizehn Jahren an sich gerissen hatte. Er war über all den anderen gestanden.

Nun war es Casmiel, der über allen stand. Besser gesagt saß.

Denn er hatte die Ehre am Tischanfang zu thronen, dem Platz, den immer sein Vater bekommen hatte, mit einem Weinglas in der Hand, dessen dunkelrote Flüssigkeit er drehte, während er sich das Spektakel gelangweilt ansah.

Aspen saß zu seiner Rechten, während Casandra seine linke Seite beansprucht hatte und ihm immer wieder analytische Blicke zuwarf, die ihm nicht entgingen, so unterschwellig sie auch waren.
Neben Casandra war nicht ihr Ehemann, der seit seinem Fall aus dem Präsidentenamt festgenommen wurde und irgendwo in seiner selbstgebauten Arena in einer Zelle sitzt, die früher von einem Phoenix bewohnt worden war. Cas fand, es war ein witziger Zufall und geschah dem Mann recht.

Es reihten sich neben seiner Tante also Icarus und ihr Sohn Aristeides mit seiner Frau Chalytea. Neben ihr saß noch Casandras zweiter Sohn, Chrysanthos und dessen Ehefrau Antigone.

Die Reihe wurde weitergeführt von Casmiels entfernten Onkel des ersten Zweiges des Stammbaumes, Aineas und dessen Frau Cosma, so wie seiner Tochter Chrystheia und deren Mann Archeus.

Neben Aspen saß natürlich Atlas, der das Essen ebenso still schweigend verbrachte und nicht auffallen wollte. Cas sah, dass Aspen beruhigend seine Hand hielt und immer wieder drückte, als würden sie in einem Morse Code miteinander sprechen.

Neben Atlas reihten sich Achill und Calantra, Casmiels Onkel und Tante und deren jüngste und einzige Tochter Artemis, die ihm weniger analytische und mehr genervte Blicke zuwarf.

Neben Artemis war dann noch seine liebreizende Tante aus dem dritten Zweig, Astaia mit ihrem Ehemann Adamantios und ihren Kindern Chrysovalantis, dessen Frau Chrisanthe und Aida mit deren Ehemann Agamemnon.

Am anderen Tischende saß Cyräus, neben ihm seine Frau Calia und sein Sohn Anatol, neben dem noch Aphelandra, seine Frau, saß. Sie hielten sich größtenteils aus der Familiendiskussion heraus und schienen unter sich zu bleiben, doch Casmiel ließ sie nicht aus seinen Augen.

Wenn er eines gelernt hatte, dann, dass die lauten Familienmitglieder Idioten waren. Sie zogen die Aufmerksamkeit auf sich, führten sich auf, als wären sie die großen Fische, während Casmiel genau wusste, dass sie niemals gewinnen könnten. Doch die, die still waren und abwarteten, waren diejenigen, über die er sich sorgen machen musste.

Er wusste, dass Astaia wahnsinnig war. Der Selbstmord ihrer Tochter Agape hatte ihr den Rest gegeben und ihren ganz persönlichen Zerfall eingerichtet. Er war weder perfektioniert noch würde er ihr etwas bringen. Es war reine Zerstörung, Chaos, Verschwendung.

Verschwendung, von Talent und Schönheit. Casmiel erkannte das sofort.
Er sah die dunklen Ringe unter ihren Augen, die sie versucht hatte, mit Make-Up zu verstecken. Er sah die leicht abstehenden Haarsträhnen, die nicht perfekt gekämmt waren und die kleinen, kaum erkennbaren, kahlen Stellen in der ansonsten so schönen, weißen Haarpracht.
Er erkannte das nervöse Tippe gegen ihr Glas, den leichten Tremor ihrer Hand, als sie ihre Gabel hielt und die huschenden Blicke, die den Raum inspizierten.

Es ging Astaia nicht gut. Sie würde nicht mehr lange leben. Würde sie diesen Streit verlieren, würde sie zu großer Wahrscheinlichkeit aufgeben. Sie hätte keinen Wert mehr, wäre eine Schande für ihre Eltern, die sie dafür trainiert haben, perfekt zu sein und irgendwann einmal das Familienoberhaupt zu werden. Sie würde einfach verschwinden, ihr Körper würde auftauchen und es wäre ein weiterer tragischer Unfall, wie es bei ihrer Tochter gesagt worden war.
Nur eine weitere Tragödie der Familie Tripe, um die sich niemand kümmern würde. Um die niemand trauern würde. Für die niemand kommen würde.

Casmiel hatte kein Mitleid. Ehrlich gesagt war es ihm egal, was Astaia machen würde. Mitleid war in dieser Familie nicht gerade wünschenswert. Es zerstörte einen. Es wurde ausgenutzt, bis es nichts mehr gab, das man ausnutzen konnte. Casmiel hatte das gelernt und, selbst wenn er Mitleid haben wöllte, könnte er es nicht in dieser Familie. An diesem Tisch. Als neues Oberhaupt.

Im Moment war er nicht sicher. Jeder Schritt, jedes Wort, jeder Atemzug könnte ein fataler Fehler sein. Er musste perfekt sein, denn in Kürze würde jemand die unangenehme Stille durchbrechen. Vermutlich wurde das Wort an ihn gerichtet, er wurde unnötige Dinge gefragt und jemand würde einen Streit vom Zaun brechen wollen. Er kannte all das, hatte seinem Vater oft genug dabei zugesehen, wie er diese Konflikte gelöst hatte. Er war bereit.

„Casmiel," da war es also. Das Gespräch, auf das er wirklich verzichten konnte. Er stellte sein Weinglas behutsam ab, sodass die dunkelrote Flüssigkeit kaum schwappte, richtete seinen dunkelblauen Blick ruhig auf seine Tante Casandra, die seinen Namen genannt hatte und schenkte ihr ein höfliches Lächeln, wie es schon sein Vater getragen hatte.

„Casandra." Antwortete er ebenso ruhig, wie seine Miene war. Sein Lächeln erreichte seine kühlen Augen nicht. Seine Haltung war distanziert aber höflich, nicht abgelehnt oder abweisend. Sondern offen, fordernd und interessiert.

Er bemerkte Aspens Blick, den er nur aus dem Augenwinkel sehen konnte. Wie sie ihn einen Moment lang stirnrunzelnd musterte, bevor sie sich wieder abwandte und nachdenklich in ihr Glas sah.

„Nur aus Interesse, wie konntest du von den Toten wiederkehren? Dein Puls wurde gecheckt, deine Vitalwerte ebenso. Du warst definitiv und unwiderruflich tot. Und ich will keinen arroganten Kommentar hören, wie du ihn bei deiner Beerdigung gebracht hast. Ich will eine richtige Erklärung. Oder müssen wir uns vielleicht Sorgen machen, dass Charon plötzlich durch diese Tür prescht und sich seinen Platz wiederholt?" fragte sie und klimperte mit ihren langen, elegant-geschwungenen Wimpern. Ein schönes Lächeln saß auf ihren unbeweglichen Lippen, ihre Augen strahlten wie dunkelblaue Diamanten und sie schien nicht älter als zwanzig, auch wenn sie in etwas so alt gewesen war, wie Casmiels Vater.

Auf diese Frage hatten wohl alle gewartet, denn es wurde abrupt still. Alle Augen richteten sich interessiert auf den Tischanfang, durchbohrten ihn mit einer verlangenden Intensität, warteten nur darauf, dass er endlich einknickte und das Geheimnis des ewigen Lebens teilte.

Casmiel jedoch machte eine geschickte Kunstpause, indem er sein Glas erneut anhob, einen leichten Schluck Wein nahm, es wieder abstellte und den Bogen weiter spannte.

„Nun. Wir haben doch alle unsere Tricks. Unser Ass im Ärmel. Es wäre doch langweilig gleich alle Karten offen darzulegen. Dafür spielen wir das falsche Spiel, Casandra," der ersten Falle entgangen, blieben noch tausende weitere vor ihm. Casandra hatte das Festmahl offiziell eröffnet und Casmiel war der begehrte Hauptgang. Er durfte nicht verlieren, ansonsten würde die Meute ihn zerfetzen und fressen, wie der junge, unerfahrene Mann, der er in ihren Augen war. Der er in aller Augen war.

„Dein Ass im Ärmel? Welch interessante Wortwahl. Ich dachte, Asperia wäre dein Ass," fragte das Astaia leicht kichernd, einen herausfordernden Blick gegen Casmiel gerichtet. Typisch. Sie versuchte vergangene Worte gegen ihn zu richten, ihn damit in eine Sackgasse zu locken, der er nicht entkommen konnte und ihn dann mit einem finalen Wort zu vernichten. Casmiel kannte diese Taktik.

Er war seinem Vater stundenlang gegenüber gesessen in vollkommener Stille. Ein Schachbrett zwischen ihnen, eine tickende Uhr neben ihnen, um das Spiel zu begleiten.

So waren sie da gesessen. Manchmal hatte Charon ein Gespräch begonnen. Wenn er Casmiel mit seinen Worten besiegt hatte, durfte Charon Casmiels nächsten Zug bestimmen und andersherum.
Casmiel hatte nie gewonnen. Manchmal hatte er so lange ausgehalten, das Gespräch vor sich hin geschoben und Zeit erkauft, bis das Schachspiel auf natürlichem Wege ein Ende fand. Manchmal hatte er eine Möglichkeit gefunden, sich zu entschuldigen um einem Fehler auszuweichen. Doch er hatte nie gegen Charon gewinnen können. Seine Worte waren scharf wie Messer, präzise wie ein Dolch und tödlich wie eine sehr gut gefeilte Axt.
Mit jedem Satz war Casmiel mehr in die Enge getrieben worden. Mit jedem Satz war die Panik gestiegen. Denn wenn man Charon einen Zug überlässt, ist das Schachspiel verloren. Das ist ein Fakt. Egal welche Eröffnung man spielt, egal welche Seite man hat, Charon konnte mit einem einzigen Zug jeden Vorteil vernichten.

Jetzt erkannte Casmiel, dass Charon ihn hierfür vorbereitet hatte. Er hatte Casandras Züge genommen, ihre charmanten und wohlgesinnten Worte, die jedoch eine versteckte Klinge. Er hatte Astaias flinke und offensichtliche Angriffe ausgeübt, die einen immer weiter zurückdrängten.
Nur seine eigene Methode hatte er nie verwendet. Nur seine eigene Methode hatte er Casmiel nie gezeigt.

Doch Cas hatte sie dennoch gelernt. Er hatte zugesehen, geduldig gewartet und ausgenommen. Er hatte analysiert, hospitiert und sich alles gemerkt. Er war vorbereitet. Das hier war nichts im Gegensatz zu einem Schachspiel gegen Charon. Das hier war nichts im Gegensatz zu seiner Erziehung.

„Oh, ich kann dir versichern, dass Asp mein Ass im Ärmel ist und immer sein wird. Sie ist nämlich nicht nur eine Dienerin, Astaia, sie ist eine Freundin. Und zudem noch eine sehr tödliche Assassine der höchsten Familie. Doch nur ein Idiot würde nur ein Ass verstecken, schließlich habe ich zwei Ärmel," er zeigte bereitwillig seine beiden Arme und zwinkerte ihr zu. Fans wären bei diesem Akt wohl in Ohnmacht gefallen, doch Astaias Miene wurde nur kalt und sie wandte sich ab. Er hatte ihren Angriff abgewehrt, umgelenkt und stattdessen sie in eine Sackgasse gelockt. Wenn er wöllte, könnte er sie jetzt noch mit einem letzten Wort vernichtet, doch Casmiel hat ihm gelehrt, seine Feinde nicht zu unterschätzen. Deshalb ließ er es sein und die Stille zurückkehren.

Er nippte an seinem Wein, aß ein paar Bissen. Doch eigentlich hatte er keinen Hunger. Er würgte die Kartoffeln irgendwie runter, ohne das es jemand bemerkte, wie er es schon immer getan hatte, wenn er an diesem Tisch gesessen war. Wie er es immer tun würde. Früher war er zur Rechten seines Vaters gesessen, dort, wo jetzt Aspen speiste. Dort, wo irgendwann sein eigenes Kind sitzen würde, essen würde, lernen müsste.

Er hatte es nie gewagt, sich dieser Frage zu stellen. Ob er jemals Kinder bekommen würde. Er war noch nie wirklich wählerisch bei den Geschlechtern seiner Partner gewesen. Er hatte Dolores geliebt, er hatte Eirene geliebt doch nun liebte er Theseus. Sein Vater hatte das gewusst. Er hatte nie etwas dagegen gesagt. Doch er hatte Casmiel klar gemacht, dass Erben wichtig waren, vor allem wenn man das Familienoberhaupt war. Er war gezwungen einen Erben zu zeugen, ihn mit den familiären Namen zu schmücken und ihn zu seinem Nachfolger zu erziehen. Ihn zu zerstören. Zu perfektionieren. Das war seine Aufgabe. Seine Zukunft. Seine Pflicht.

Natürlich könnte er wegrennen. Alles hinter sich lassen. Er sollte eigentlich in Fairfield leben, sich langweilen, im kleinen Haus in der Akazienstreet sein und einfach dahinsiechen. Er sollte nicht hier sein. An diesem Tisch. Bei dieser Familie. Hier, in seiner Vergangenheit.

Doch er wollte die Welt nicht diesen Menschen überlassen. Er konnte dieses Erbe nicht diesen Monstern überlassen. Vielleicht würde er etwas ändern. Seine Kinder anders perfektionieren. Nicht zerstören. Vielleicht könnte er diesen Traditionen endlich ein Ende bereiten, wie Caspian es getan hatte. Eine Familie gründen, die glücklich sein konnte.

Vielleicht würde er auch aufgeben, seine Emotionen abschalten und genauso werden, wie Charon es schon immer gewollt hatte. Sein perfekter Erbe. Sein perfekter Sohn.

Plötzlich wurden die Türen aufgestoßen und die Anwesenden drehten sich zu dem unglaublich lautem Geräusch. Casmiel zuckte nicht zusammen, sondern erhob sich elegant, erblickte den neuangetroffenen Gast, dessen hohen Absätze in dem Speisesaal widerhallten, während sie näher an den Tisch traten und schließlich stehen blieben.

Von ihren Kleidern tropfte das Wasser, dass sich durch den Sturm auf ihnen gesammelt hatte. Ihre Haare waren klitschnass und hingen in ihr Gesicht hinein, während ein Grinsen ihre Lippen bedeckte und ihr Blick alle anderen ignorierten, starr auf Casmiel gerichtet waren.

Eine schwarze Lederjacke, die zu groß für die zierliche Gestalt schien, glänzte vom Regen. Ein durchnässtes, durchsichtiges, bauchfreies T-Shirt mit einem ACDC-Logo war darunter zu sehen und die Jeans der Person, die ebenso viel zu weit waren, klammerten sich gerade noch so an ihren femininen Hüften fest, schienen jedoch zu halten. Eine Sonnenbrille mit feuerroten Gläsern, geformt wie Herzen, saß lässig auf ihrer spitzen Nase und ihre Augen leuchteten, als hätten sie gerade ihre Beute erspäht

„Meine Damen und Herren, entschuldigt die Verspätung aber draußen ist ein richtiges Arschwetter. Das kann ich euch sagen. Cassy, freut mich auch dich lebendig zu sehen. Hast mich ziemlich überrascht. Bin stolz auf dich. Ich hoffe, ihr habt mir etwas zu Essen übrig gelassen, ich verhungere. Diese Bruchbude ist nicht zu finden. Deine Anweisung war scheiße, Cas. Das nächste Mal will ich eine Limousine mit heißem Fahrer, verstanden?" verlangte die Person und wischte sich die grünen Haarsträhnen aus dem Gesicht, wrangen sie auf dem teuren Marmorboden aus und schüttelten sich wie ein Hund. Casmiel hätte gerne die Gesichter seiner Familie fotografiert, denn sie schienen so geschockt, wie er es erhofft hatte.

„Geehrte Familie, dass hier ist unser letzterGast." Stellte Casmiel die absonderliche Gestalt mit dem durchnässten Wieselauf den Schultern vor, die gerade in das Familiendinner geplatzt war, „CaamisViitor Ciego Jacáre Prieto Mincinos Sergeij Alexejew Pesqui-Ceva." 

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