Kapitel 44
[Träume]
~Die Stille vor dem Sturm~
Als Theseus erwachte, schlief Casmiel neben ihm. Er selbst war gerade erst gestorben. Das war anstrengender, als man denken würde. Theseus wusste das bestimmt. Er war ebenso oft gestorben. Das hatten sie nun wohl gemeinsam. Sie waren beide dem Tod begegnet. Öfter sogar. Vielleicht nicht immer direkt. Doch sie kannten das Leben, sie kannten den Tod. Sie kannten das Ende, sowie den Anfang. Sie kannten die Existenz selbst.
Das Bett war weich. Zu weich.
Das Licht hell. Zu hell.
Alles war zu viel.
Wenn man zwei Jahre lang nur Dunkelheit und Schemen gesehen hatte, wirkten Formen nicht real. Sie wirkten beinahe schon wie Lügen. Eine schöne Wahrheit, die man glauben wollte, die jedoch nicht der Realität entsprach. Nicht tatsächlich existierte. Sie wurde nur real gemacht, durch den Glauben daran. Glauben, den Theseus nicht aufbringen konnte.
Farben waren zu grell.
Lichter stachen wie Messer.
Man musste sich der Schönheit entziehen, da es Schmerzen bereitete, sie anzusehen. Schmerzen, die man für die bloße Schönheit erfahren wollte, jedoch körperlich nicht konnte.
Vielleicht war er deshalb so apathisch. Vielleicht sah er sich deshalb nur ruhig in dem Zimmer um, während er sich aufrichtete. Er versuchte, sich aufzurichten.
Denn sein gesamter Körper wehrte sich gegen die Anstrengung, die Bewegung. Knochen knackten, Muskeln schmerzten. Jede Bewegung schien wie der tödliche Stich eines Messers, das stille Durchdringen einer Kugel. Jede Bewegung war eine Qual, weshalb Theseus beschloss, liegen zu bleiben und sich nur oberflächlich umzusehen.
Lange blieb seine Konzentration sowieso nicht auf dem Raum liegen. Sein Blick landete auf dem Mann, der neben ihm lag. In dreckiger Kleidung, mit wilden Haaren. Blonden Locken, die sein Gesicht umspielten, sich in leichten Wellen formten und seine blasse Haut überschatteten.
Geschlossene Augen, ein Gesicht von Narben zerrissen. Tiefen Kerben, die frisch wirkten. Als wären sie noch nicht einmal richtig verheilt.
Zuerst hatte Theseus sich erschreckt. Der Mann neben ihm ähnelte seinen Alpträumen. Er ähnelte einem Mann, dessen Namen Theseus nicht einmal wagte, in seinen Gedanken auszusprechen.
Doch er erkannte, dass es nicht dieser Mann sein konnte. Er war viel zu jung. Zu schön. Zu...bekannt. Theseus fühlte sich wohl. Er fühlte sich zuhause in diesem fremden Bett, nur weil es seinen Geruch trug. Casmiels Geruch.
Scheinbar hatte der andere Mann bemerkt, dass Theseus Blick auf ihm lag, denn er öffnete selbst die Augen, blinzelte etwas verschlafen und begann dann leicht zu lächeln, sobald er sich an die Helligkeit gewohnt zu haben schien. Seine Hand war über Theseus' Körper gelegt, doch nun bewegte Cas sie nach oben an seine Wange.
Theseus wollte bei der sanften Berührung nicht zusammenzucken, doch er konnte den Reflex nicht aufhalten. Doch er wollte ebenso nicht, dass Casmiel ihm seine Wärme wieder nehmen würde. Er konnte ihn nicht verlieren. Niemals. Deshalb bewegte auch er seine Hand, ließ sie einen Moment über Casmiels schweben, bevor er sie herabsenkte und auf die Hand des Anderen legte, wo sie einen Moment lang ruhte.
Einen Moment, in dem das grelle Licht nicht in Theseus Augen brannte. Einen Moment, in dem das Bett nicht zu weich für seinen Körper war. Einen Moment, in dem Theseus tatsächlich wieder lächelte, wie er es so lange nicht mehr getan hatte.
In diesem Moment, erkannte er wohl, dass er den Mann vor sich liebte. Er hatte es schon immer vermutet, geahnt, doch Wissen war etwas weit gewesen. Etwas...schnell.
Er hatte Casmiel schließlich gerade erst kennengelernt. Und selbst das konnte man nicht wirklich so nennen. Es war ein ständiges Verlieren, Wiederfinden und wieder Verlieren. Ein ständiger Kampf mit Casmiels Gedanken und dem eigenen Glauben.
Casmiel war nicht einfach. Das war er nie gewesen. Doch Theseus hatte gelernt, diese Seite von ihm ebenso zu lieben, wie die sanften Berührungen, die weichen Küsse. Er hatte gelernt, dass Gewalt ebenso eine Art der Liebe war, wenn es um Casmiel ging. Nicht so, wie sie bei vielen Opfern von Gewalt vorhanden war, sondern eine eigene Art des Fühlens. Es war Casmiels Methode, Leute von sich fernzuhalten, um sie zu beschützen. Sie vor dem zu beschützen, dass ihnen drohte, würden sie ihm zu nahe kommen.
Sie würden brennen.
Oh und wie Theseus brannte. Wie er doch gebrannt hatte. Wie sein Haare sich langsam in Staub verwandelt hatte, Narben auf seiner Haut hinterlassen wurden und seine Knochen schmolzen in den heißen, zerstörerischen Flammen der Perfektion, der er gegenüberstand. Er würde nie wieder Casmiels Nachnamen hören können, nie wieder durch seine Haare streichen, seine Augen bewundern, sein Gesicht ansehen, seine Existenz bemerken können, ohne an seine Alpträume zu denken, die ihn ausnahmsweise nicht sofort aus dem Schlaf gerissen hatten.
Doch er erinnerte sich an Casmiels Worte, als er ihn gerettet hatte.
Ich werde die Alpträume abhalten
Ja, Theseus liebte Casmiel. Er liebte ihn.
„Hey." Wisperte Casmiel in die Stille des Raumes. Seine Stimme war brüchig und tiefer als sonst. Sie war noch leise, teilweise nicht einmal zu hören, doch in Theseus' Ohren klang sie wie eine Symphonie, gespielt von einem Orchester. Vielleicht war er kitschig und hoffnungslos romantisch. Doch wie könnte man sich nicht in der Schönheit von Cas verlieren?
Er wollte den Gruß erwidern, doch über seine Lippen kam nicht ein Ton. Seine Stimme war verstummt, sein Hals trocken und kratzig, sodass er nur ein Husten herausbrachte. Doch die Worte blieben in seiner Kehle stecken.
Cas richtete sich sofort auf, die Wärme seiner Hand verließ seine Wange und er fühlte sich ihm wieder so fern. Doch Cas verließ das Bett nicht. Er setzte sich nur auf, griff nach einem Glas Wasser auf der anstehenden Kommode und hielt es Theseus hin. Sanft platzierte er seine Hand unter Theseus' Nacken, hob seinen Kopf und half ihm zu trinken. Die Flüssigkeit ließ seinen Körper aufschreien. Es war, als hätte er noch nie getrunken. Als hätte Wasser nie seine Kehle berührt.
Theseus wollte das gesamte Glas auf einmal austrinken, doch Casmiel nahm es ihm einfach weg und stellte es wieder auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Theseus warf dem Glas einen sehnsüchtigen Blick zu, vor allem da die Trockenheit wieder zurückkam und seinen Hals kratzen ließ.
„Langsam, Darling. Wir müssen darauf achten, deinen Körper nicht zu überfordern. Schließlich hast du seit zwei Jahren weder gegessen noch getrunken. Du musst dich erst wieder daran gewöhnen." Beruhigte Cas ihn nur, doch ab dem Spitznamen hallte in Theseus Ohren nur noch dieses eine Wort wider. Wie lange hatte er es nicht mehr gehört. Wie oft hatten ihn nur seine Gedanken so genannt. Wie hatte er sich doch danach gesehnt, dieses Wort wieder von den Lippen des Mannes zu hören, denn er liebte.
„Ich liebe dich," krächzte Theseus weder sonderlich romantisch, noch wirklich laut. Es war, als würden seine Worte sogleich mit dem Wind verfliegen. Als würden sie nicht einmal einen Moment lang überleben. Doch Casmiel lächelte, beuge sich herab und küsste Theseus' Stirn, als wäre er etwas wertvolles. Als wäre er etwas wichtiges.
„Ich liebe dich auch. Schlaf weiter. Ich muss einige Dinge erledigen," mit diesen Worten war Casmiel aufgestanden und zu seinem Kleiderschrank gegangen, aus dem er ein paar Kleider zog. Theseus beobachtete ihn dabei, auch wenn ihm tausende Fragen im Kopf herumschwirrten.
Was war passiert? Was hatte er verpasst? Wo war Casmiel so lange gewesen und wo war sein Alptraum?
„Du bist im Anwesen der Tripes. Aber mach dir keine Sorgen. Charon ist- tot. Er wird dir nichts mehr tun können. Solange ich seinen letzten Willen weiterhin fälschen kann und ihn vor meinen Verwandten verstecke, gehört dieses Haus mir. Alles um genau zu sein. Es ist viel passiert, seitdem du weg warst. Ich werde es dir erzählen," während Casmiel erzählte, zog er sich die dreckige Kleidung aus und zog sich neue über. Als er leicht zögernd sein Hemd auszog, sah Theseus seinen Oberkörper.
Er war von Narben bedeckt. Alten Narben. Hässlichen Narben. Narben an seinem Rücken, die fast aussahen, als wären es Kratzspuren. Narben an seinen Armen, die an die Halbmondform von Fingernägeln erinnerte. Sogar unter seiner Brust waren zwei gleichmäßige Narben, die aussahen, als wären sie von einer Operation.
Schnell hatte er ein anderes Hemd übergezogen und knöpfte es geduldig zu, auch wenn er leicht angespannt wirkte und nur einen schnellen Blick zu Theseus schickte. Ein freches Grinsen zierte seine Lippen. „Dir gefällt scheinbar, was du siehst. Gewöhn dich nicht daran." Er kam wieder zu ihm und wischte eine schwarze Strähne hinter sein Ohr, „ich werde leider nicht viel Zeit haben. Aber ich werde die Alpträume abhalten. Sobald du wieder gesund bist, werde ich dir alles erklären, doch jetzt musst du mir einen Gefallen tun, Theseus. Du musst mir vertrauen. Mir und meinen Freunden. Sie werden sich um dich kümmern, okay? Ich vertraue ihnen, also kannst du das auch. Du musst ihnen vertrauen. Kannst du das?" fragte er ernst, dass Lächeln war gefallen.
Theseus wollte nein sagen. Er wollte nicht, dass Casmiel ging. Wollte ihn nicht schon wieder verlieren. Er wusste nicht, ob er wirklich vertrauen konnte. Ob er jemals wieder vertrauen könnte.
Doch Casmiel brauchte ihn gerade. Und Theseus vertraute ihm. Bedingungslos.
Also nickte er leicht und Casmiel lächelte wieder. Ein sanftes Lächeln, dass seine dunkelblauen Augen erreichte und sie leuchten ließ. Casmiel war wirklich wunderschön, wie Theseus fand. Mit oder ohne Narben.
„Danke, Theseus. Ich weiß, wie viel Überwindung es dich kosten muss. Aber ich verspreche dir, dass wir das irgendwann hinter uns lassen können. Dann sind wir zusammen. Für immer. Wir gegen den Rest der Welt," er beugte sich noch einmal hinunter, küsste Theseus' Wange und entfernte sich dann wieder von ihm.
Die Türe schloss sich hinter ihm und Theseus war allein. Seine Müdigkeit übernahm Überhand und er driftete zurück in einen traumlosen, angenehmen Schlaf.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top