Kapitel 43
[Liebe und die Konsequenzen ihres Seins]
~Verliebe dich nicht~
Verliebe dich nicht.
Das hatte Calliopeia Anthina Tripe oft zu ihren Kindern gesagt. Jedenfalls zu den Kindern, die ihr geblieben waren. Caspian und Cassiopeia.
Casmiel hatte nie ihr gehört. Er war nie das ihre gewesen. Als sie nach der Geburt aufgewacht war, war nur ein Kinderbett neben ihr gewesen. Nur ein Baby war dort gelegen.
Kurz hatte sie gedacht, Casmiel wäre bei der Geburt gestorben. Es hatte Schwierigkeiten gegeben. Zwillinge zu gebären war gefährlich. Sie hatte Angst gehabt.
Doch dann war Charon in das Zimmer gekommen, hatte ihr erklärt, dass Casmiel der perfekte Erbe war, dass sie ihn nicht sehen durfte, nicht lieben durfte und war wieder gegangen.
Verliebe dich nicht.
Das hatte sie gelernt.
Sie hatte gedacht, sie könnte Charon Asklepios Tripe lieben. Hatte es vielleicht sogar schon einmal getan. Ja, ihr Herz war damals höher geschlagen, wenn er sie mit seinem himmlischen Lächeln begrüßt hatte. Wie adrett er ihre Hand genommen und geküsst hatte. Wie weich seine Berührungen, wie sanft sein Gemüt, wie schön diese Illusion der Perfektion.
Doch nach ihrem ersten gemeinsamen Kind hatte Calliopeia erkannt, wer ihr Mann wirklich war, was ihr Mann wirklich war. Und sie hatte sich entfernt. Nicht physisch. Nein. Dass hätte er niemals zugelassen. Doch ihr Geist hatte sich entfernt. Von dieser Realität.
In ihren Träumen war Charon noch immer der wunderschöne Gentleman gewesen, in den sie sich einst verliebte, nicht das Monster, dass ihr Herz in Stücke gebrochen hatte.
Verliebe dich nie.
Das hatte sie ihren Kindern gesagt.
Doch nicht Casmiel. Nein. Casmiel hatte sie das nie gesagt.
Denn sie hatte sich verliebt, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte ihn geliebt, wie eine Mutter einen Sohn eben lieben konnte. Hatte ignoriert, dass Charon ihr befohlen hatte, sich fern zu halten von seinem Meisterwerk. Denn Calliopeia hatte ihn geliebt.
Jede noch so kleine Faser.
Er war ihr Sohn. Wie könnte sie ihn nicht lieben?
Seine goldenen Locken, die den ihren doch so glichen. Seine dunkelblauen Augen, die er von seinem Vater hatte. Seine pure Perfektion, die er mit jedem Atemzug ausstrahlte.
Verliebe dich nie.
Das hätte sie zu ihm gesagt, hätte sie ihn nicht selbst geliebt.
Stattdessen veränderte sie ihre Worte. Nur für ihn. Nur für Casmiel. Nur für ihren Sohn.
Verliebe dich nie. Nicht, wenn deine Liebe nicht erwidert wird, wie du sie verdienst.
Verliebe dich nie. Jedenfalls nicht in die unwichtigen Dinge, die eine Person auszumachen scheinen.
Haare werden wie Asche, so grau. Fallen aus, fallen zu Boden, fallen ins Nichts. Verschwinden.
Gewicht verändert sich. Aus Dick wird Dünn. Aus Dünn wird Dick.
Zähne fallen aus, Herzen brechen wie Gläser.
Menschen schrumpfen, wenn sie altern. Werden klein.
Aber Augen. Augen werden alt mit uns. Sie wachsen, sie schrumpfen. Sie werden grau, sie bleiben farbig. Augen sind einzigartig.
Also verliebe dich nie. Nicht in eine Person, jedenfalls. Verliebe dich in ihre Augen. Denn nur Augen, wirst du niemals vergessen.
Casmiel erinnerte sich genau an die Worte seiner Mutter.
Früher hatte er sie nie verstanden. Ihre Worte hatten keinen Sinn ergeben. Er war jung gewesen. Klein. Die einzige Person, die ihn geliebt hatte, war sein Vater gewesen. Die einzige Person, von der er gedacht hatte, dass sie ihn liebte.
Als er älter geworden war, waren ihm ihre Worte entfallen. Vielleicht hatte er manchmal darüber nachgedacht, wenn er wieder nächtelang seine Gedanken gefüttert hatte, nur um nicht Schlafen zu müssen, aus Angst vor den Alpträumen. Manchmal hatte er daran gedacht, doch sie waren ihm schnell wieder entfallen.
Selbst als er Dolores kennengelernt hatte, hatte er ihre Worte nicht ernst genommen. Er hatte sich in Dolores verliebt, weil sie ein guter Mensch gewesen war, nicht wegen ihren Augen.
Doch seit er diese Worte gehört hatte, hatte er gelernt, die Augen anderer Menschen zu analysieren. Er hatte gelernt, die Augen von Menschen anzusehen und sie fast schon wie besessen zu studieren. Er hatte Menschen lange angesehen, ihre Augen wahrgenommen, sie gespeichert und war weitergegangen, als wäre nichts passiert.
Vielleicht war es nur seine kindliche Hoffnung auf Liebe gewesen. Die kindliche Hoffnung, dass jeder beliebige Fremde sein Seelenverwandter sein könnte. Dass jeder beliebige Fremde ihn lieben könnte.
Irgendwann hatte er aufgegeben, die Liebe zu suchen. Zu wollen. Irgendwann hatte er aufgehört, die Augen anderer anzusehen.
Doch dann hatte er Theseus kennengelernt. Doch dann hatte er Theseus lieben gelernt.
Unterbewusst hatte er sich wieder erinnert. Hatte ihm in die Augen gesehen. Sich jedes noch so kleine Detail eingeprägt. Seine Iriden waren zu seinen Träumen geworden. Sein Blick blieb in seinem Gedächtnis hängen. Wenn er seine Augen schloss, war dieser unglaubliche Wald aus dunklen Tannen und Fichten wieder da und umschloss ihn mit seinem seltsamen, warmen Nebel, den Theseus eben ausströmte. Der Nebel, nach dem Casmiel sich so sehnte.
Erst dann hatte er die Worte seiner Mutter wirklich verstanden.
Natürlich war es nicht wahr, was sie gesagt hatte. Augen konnten erblinden, verblassen. Man konnte seine Augen verlieren, doch darum ging es nicht. Nicht wirklich.
Denn Augen waren wahrlich das einzige, dass sich an einem Menschen niemals verändern würde. Nicht einmal in den Tod, vielleicht sogar darüber hinaus. Augen machten einen Menschen einzigartig und vielleicht waren sie genau deshalb das Fenster zur Seele. Das Fenster, in das Innerste eines Menschen.
Casmiel hatte nie bemerkt, wie sehr er Theseus' Augen doch liebte, bis er auf seine geschlossenen Lider starrte.
Er hatte ihn in die Residenz der Tripes gebracht, war seinen Familienmitgliedern ausgewichen und hatte Aspen gebeten, ihn in sein Gemach zu bringen, dass sich seit seiner Kindheit nicht verändert hatte. Dasselbe dunkle Holz. Derselbe dunkelblaue Bettbezug. Dieselbe Einsamkeit, die in ihm aufkam.
Er hatte Theseus in sein Bett gelegt, ihm die dreckigen Sachen aufgezogen und versucht ihn zu waschen, so gut es eben ging. Das Blut bekam er nicht richtig aus seinen zerrissenen Fingernägeln, der jahrealte Dreck ging nicht vollständig von seiner Haut. Doch er sah um einiges besser aus, als zuvor. Die tiefen Ringe unter seinen Augen ließen sich nicht verstecken. Die neuen Narben und Wunden an seinem Körper waren permanent.
Casmiel legte sich einfach neben ihn und ließ seinen Blick über seine Züge gleiten. Über das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes. Die Sanftheit seiner Gesichtszüge.
Er ließ seinen Finger über seine Kinnlinie gleiten, hinauf zu seiner Lippe, über seine Wange, bis seine Hand schließlich liegen blieb und sein Daumen sanft über seinen Wangenknochen streichen konnte.
Er sah wunderschön aus, für Casmiel.
Wie sich seine Muttermale zu Sternbildern verbinden ließen. Die kleinen Fältchen an seinen Augen, wenn er sie geschlossen hält. Die wilden, schwarzen Locken, die lang geworden waren und in denen sich leichte, hellgraue Strähnen finden ließen. Die leichten Erhebungen von Unreinheiten auf seiner blassen Haut. Die Länge seiner tiefschwarzen Wimpern. Der kleine Buckel auf seiner leicht spitzen Nase. Die Schatten seiner Unterlippe. Die schmälere Oberlippe. Wie seine Mundwinkel manchmal leicht zuckten. Seine ungepflegten Augenbrauen. Seine runden Augen mit den markanten Schlupflidern. All die kleinen Imperfektionen, für die Casmiel ihn so beneidete. Die Schönheit in der Normalität, die Theseus trug.
Er war nie absonderlich hübsch gewesen, wie Casmiel es war. Mit seinen schwarzen Haaren war er nie aufgefallen. Seine dunkelgrünen Augen wirkten beinahe schwarz. Sein Körperbau war recht normal, sein Kleidungsstil nicht ausgefallen oder auffallend. Seine Gesichtszüge waren ausbalanciert. Weder zu sanft noch zu scharf. Er war nicht übermenschlich. Nicht schön. Nicht perfekt.
Genau das machte ihn so wundervoll.
Für jemanden, der sein ganzes Leben lang perfekt gewesen war, war Imperfektion ein Skandal. Für jemanden, dessen Schönheit dauerhaft beschrieben wurde, war Normalität wunderschön. Casmiel hatte nichts gegen seine Schönheit. Er war gerne schön. Fühlte sich gerne schön. Doch manchmal wollte er verschwinden. Manchmal wollte er nicht besonders sein. Sich nicht von anderen abheben.
Manchmal wollte er nicht wegen seines Äußeren geliebt werden.
Manchmal wünschte er sich, jemand würde in seine Augen sehen.
Nicht nur hinsehen. Sich verlieben. Er wünschte sich, jemand würde die schöne Fassade ignorieren und in sein innerstes Sehen. Sein Wesen erkennen. Seine Hilfeschreie hören. Manchmal wünschte er sich, alle anderen würden den Rat seiner Mutter befolgen.
Verliebe dich nie.
Vielleicht hatte er deshalb das Monster gespielt. Vielleicht war seine arrogante Maske deshalb seine liebste gewesen. Sie war ein Beweis dafür, dass er nicht schön war. Dass, auch wenn sein Äußeres wiedersprach, er hässlich war.
Schönheit verlor ihren Wert, wenn sie etwas alltägliches wurde. Attraktivität wurde zu etwas beiläufigen, wenn sie nichts besonders war.
Vielleicht war Casmiel deshalb nicht allzu gestört von seinen Narben. Doch vielleicht war dies auch einfach nur eine Lüge. Er war sein ganzes Leben lang hübsch gewesen. Attraktiv. Etwas besonders. Leute hatten ihn angestarrt, weil er generell atemberaubend war. Nun blieben ihnen nur abwertende Kommentare im Halse stecken. Nun konnte man auch äußerlich sehen, was für ein Monster Casmiel tatsächlich war. Was für ein Monster Casmiel schon immer sein wollte. Jedenfalls hatte er das gedacht.
Er hatte sich selbst belogen. Es war beinahe schon amüsant, wie sehr er und sein Vater sich doch glichen. Ihre Lügen waren süß, bis sie Wahrheit wurden. Ihre Lügen waren Perfektion, bis sie zerfiel.
Oh und Casmiel war eine Lüge gewesen. Oh und Casmiel war zerfallen. Wieder und wieder. Brocken um Brocken. Splitter um Splitter. Staubkorn um Staubkorn.
Er war so oft zerbrochen worden, fallen gelassen, auf dem Boden aufgekommen, zerteilt worden, bis er nicht mehr wusste, wie es war, ganz zu sein. Vielleicht war er nie ganz gewesen.
Er wusste es nicht.
Er wusste nichts.
Er wusste nicht, wie es war normal zu sein. Ganz. Wie sollte er also wissen, ob er es jemals gewesen ist? Wie sollte er wissen, wie er hätte sein können, wenn er keine Ahnung hatte, wie er war? Es war, als würde er sich selbst nicht kennen. Vermutlich würde er das auch nie wissen. Er war ein Schatten seiner selbst. Ein Gerüst, dass niemals vollendet werden würde. Er war das Skelett eines Wesens, dass nie die Möglichkeit gehabt hatte, zu leben, da es schon so viele Leben gelebt hatte. Da es schon so oft gestorben war.
Doch er würde dieses Leben nicht so schnell aufgeben. Er würde Theseus nicht so schnell aufgeben. Er hatte vielleicht schon genug gelebt, doch er hatte noch viel zu wenig erlebt. Seine Lungen waren schwer, sein Herz voller Schmerz, doch er war noch nicht fertig mit diesem Leben. Mit dieser Existenz.
Deshalb war er zurückgekehrt. Hatte die Ewigkeit mit Dolores aufgegeben, nur um zurückzukommen in dieses Chaos, dass er Leben nannte. Denn Casmiel brauchte Chaos. Er brauchte Krieg. Er war wie Pandoras Box. Brachte Schrecken, Angst, Schmerz, doch ebenso Hoffnung.
Er würde das Leben nicht schon wieder gewinnen lassen. Dieses mal nicht.
Also strich er Theseus' eine Strähne aus dem Gesicht. Denn er wollte es sehen. Er wollte ihn sehen. Jede kleine Faser. Jede zarte Pore. Jedes Detail, dass sich finden ließ.
Er hatte sich nicht nur in seine Augen verliebt. Sondern in alles, was ihn ausmachte. Er würde es lieben, selbst wenn er alt und grau wäre. Er würde es lieben, selbst wenn er blind wäre.
Er hatte seinen Grund zu Sterben gefunden, doch er war nicht bereit, ihn schon jetzt zu verlieren.
Er war nicht bereit, ihn schon jetzt aufzugeben
und würde es vermutlich
niemals
sein.
Verliebe dich niemals.
Außer du bist bereit, dafür zu brechen.
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