Kapitel 42
[Von Rettung und Göttern]
~Und wieso die Welt brennen sollte~
Als Casmiel mit Theseus aus der Zelle stolperte, konnte Aspen es nicht glauben. Sie hatte nicht verloren. Sie lebten. Casmiel und Theseus waren am Leben. Charon hatte unrecht gehabt. Aspen hatte gewonnen.
Doch zugleich kam ein bitterer Nachgeschmack mit dem Bild, dass sich ihr dort offenbarte. Wie dünn Theseus geworden war. Mit eingefallenen Wangenknochen und tiefliegenden Augen. Mit schwarzen Augenringen, die seine dunkelgrünen Augen noch weiter verdunkelten, mit aufgerissenen, trockenen Lippen, als würde er mit jeder Berührung zerfallen können. Er sah so schwach aus. Nicht mehr wie der Theseus, den Aspen gekannt hatte. Mit zerrissenen Klamotten, dreckiger Haut und zerbrochenen Fingernägeln, an denen getrocknetes Blut klebte. Getrocknetes Blut, dass seine viel zu fahle Haut durchbrach, als wäre die Schwärze der Nacht auf ihn getropft, heißes Wachs auf kaltem Stein.
Cas schien Theseus nur mit letzter Kraft halten zu können. Er war selbst nicht wirklich stark in diesem Moment. Also stürzte Aspen zu den beiden und wollte Theseus aus Casmiels Griff nehmen, doch dieser zuckte bei ihrer Berührung zusammen und sah sie an, als wäre sie ein Feind. Als wäre sie der Feind. Selbst Casmiel wirkte einen Moment feindselig ihr gegenüber, bevor er sich zu erinnern schien, wer sie war und ihr zunickte.
„Keine Sorge, Theseus. Das ist nur Aspen. Du kennst sie. Sie wird mir helfen, dich zu tragen," sprach Casmiel beruhigend, als könne Theseus sich nicht mehr daran erinnern, wer Aspen war. Sein Blick war distanziert, Paranoia lag in seinen Augen wie Gift und in Aspens Brust zerbrach etwas. Ihr bester Freund sah sie an, als wäre sie eine Fremde. Eine Unbekannte.
Er schien sie vergessen zu haben. Ihre Erscheinung war nur mehr Nebel in seinem Kopf. Ein Schatten der Vergangenheit, die er vergessen wollte. Ihr Haar war nur Haar. Nicht die Strähnen, die er überall auf seiner Kleidung gefunden hatte, da Aspen haarte wie eine Katze. Ihre Augen waren nur Augen. Nicht das Kunstwerk, dass er einst betrachtet hatte. Ihr Lächeln war nur ein Lächeln. Etwas, dass sie zurzeit nicht mehr tragen konnte. Tragen wollte.
Theseus Griff schien sich zu verfestigen, denn Casmiel verkrampfte sich etwas, während er entschuldigend zu Aspen sah und wieder zurück zu Theseus.
„Du bist müde, Theseus. Du solltest etwas schlafen. Ich werde auf dich aufpassen. Ich werde deine Alpträume abwenden und mich um dich kümmern. Vertrau mir, ich kümmere mich um dich" wisperte Casmiel noch immer ruhig und gefasst zu Theseus, der nicht wirklich begeistert von dieser Idee aussah, doch tatsächlich schlossen sich seine Augenlider langsam und er schlief ein.
Dies sah Aspen als ihr Stichwort und sie übernahm für Casmiel, der Theseus nur sehr vorsichtig in Aspens Arme legte und sie die Arbeit verrichten ließ. Er strich dem anderen Mann eine schwarze Locke hinter Ohr. Seine Haare waren lang geworden. Zwei Jahre waren schließlich vergangen. Zwei Jahre, in denen er in dieser Zelle gelitten hatte. Allein.
Es wunderte Aspen nicht, dass Casmiel ihn beschützen wollte und sich möglicherweise sogar schuldig fühlte. Schließlich war es Charon gewesen, der Theseus diese Qualen angetan hatte. Mit seinen kurzen Haaren sah er seinem Vater ähnlicher denn je und selbst Aspen war zurückgeschreckt, als er aus seinem Sarg gestiegen war. Sie hatte gedacht, es wäre Charon. Hatte gedacht, sie hätte versagt. Doch es war Casmiel gewesen. Mit neuen Narben, die sein Gesicht zerrissen und kurzen Haaren, die schief geschnitten waren, von denen eine Strähne Aspen geschickt worden war.
Ihr Herz hatte sich verraten gefühlt. Einen kurzen Moment hatte sie Casmiel umbringen wollen. Er hatte sie verraten. Hatte sie glauben lassen, sie hätte ihn verloren. Ihn umgebracht. Hatte sie glauben lassen, sie wäre schuld daran, dass er tot war. Doch dann war er aus seinem Sarg gestiegen, hatte sich verbeugt und sich vorgestellt, als wäre nichts daran abnormal oder unmöglich. Er hatte es gewagt, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen ohne sich zu Entschuldigen und hatte es gewagt, sie zu benutzen, ohne ihr auch nur eine Erklärung zu geben. Aspen war wütend. Sie war sauer. Rasend. Sie wollte Casmiel zurück in seinen Sarg stecken und dafür sorgen, dass er sich seinen Weg nach oben graben musste. Sie wollte ihre Rache dafür, dass er sie für dumm verkauft hatte, ihr diese Schmerzen angetan hatte. Sie war verzweifelt gewesen, die letzten Tage. Hatte sich selbst gehasst. Sie hatte ihr Zimmer nicht verlassen, hatte weder gegessen noch geschlafen. Sie hatte ihren Bruder angeschrien, dass er verschwinden sollte. Hatte jegliche Hilfe abgelehnt und hatte sogar überlegt, zurück zu ihrem Vater zu gehen, da sie nichts mehr hier hielt. Sie hatte ihre Freunde verloren, Charon getötet und damit alle gerettet. Sie hatte Theseus und Casmiel verloren gehabt, nur um nun feststellen zu müssen, dass sie lebten. Beide.
Die Gefühle des Hasses, des Verrates, stiegen an. Cas ging schon wieder einfach los, ohne jegliche Erklärung oder auch nur Wertschätzung. Er behandelte sie, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Als wäre sie sein treuer Hund, der ihm einfach folgen würde.
Mit dem schlafenden Theseus in ihrem Armen wollte sie nicht wirklich riskieren, ihn aufzuwecken. Er brauchte diesen Schlaf schließlich dringend. Doch Casmiel konnte sie dennoch nicht einfach behandeln, als wäre sie Dreck.
Sie hatte sie zurück in die Arena teleportiert. In das Kampfstadion. Sie hatte Wachen außer Gefecht gesetzt und hatte für Casmiel gekämpft, der zu schwach war, um mit ihr zu kämpfen. Sie hatte sich durchgefochten, hatte niemanden getötet, nach Casmiels Anweisungen und ihnen den Weg zu der besonderen, abgesonderten Einzelzelle freigemacht, in der Theseus gesessen hatte, wie Casmiel gewusst hatte. Sie hatte die Arbeit gemacht. Ohne sie wäre Casmiel nie so weit gekommen, hätte Theseus nie befreien können. Er wäre zusammengebrochen. Gestorben. Was auch immer. Es interessierte Aspen nicht mehr. Sie hatte Cas so oft verloren, es war nichts mehr besonderes mehr. Nichts mehr tragisches.
Vielleicht baute sich deshalb ihre Wut auf. Vielleicht blieb sie deshalb einfach stehen und wartete darauf, bis Casmiel es bemerkte. Doch der ging einfach weiter, in Gedanken versunken, darauf achtend, dass sie niemand angriff, dass Theseus ruhig schlief. Vielleicht erhob sie deshalb ihre Stimme und teilte ihre Gedanken.
„Danke Aspen. Danke, dass du alles tust, was ich nicht tun kann, weil ich zu schwach dafür bin. Danke, dass du dich um mich kümmerst. Danke, dass du mir folgst, ohne dass ich mich jemals bei dir bedankt habe." Meinte sie nur sarkastisch und tatsächlich blieb Casmiel stehen.
Er drehte sich um und sah Aspen fragend an, als würde er nicht verstehen, was sie hatte. Seine müden Augen wirkten sogar resigniert. Er hatte den Mut, genervt zu sein und machte Aspens Wut damit nicht gerade besser.
„Aspen, ich bitte dich. Wir haben gerade keine Zeit dafür. Wir müssen Theseus in Sicherheit bringen und uns um ihn kümmern. Können wir bitte später darüber sprechen?" fragte er nur leicht gestört von der Unterbrechung und wollte schon wieder weitergehen, doch Aspen würde ihm nicht mehr einfach folgen.
„Ein paar Worte, Cas. Nicht mehr. Ein paar Worte. Du hast mir weder erklärt, wie du überleben konntest, noch ist einmal das verdammte Wort ‚Danke' über deine Lippen getreten. Weißt du eigentlich, was ich durchmachen musste? Du hast mich im Stich gelassen und bist gegangen. Ich habe Dinge gesagt, die ich bereue, doch du hast das auch. Du hast mich einfach verlassen und bist nicht wieder gekommen. Charon hat mir einen verdammten Brief geschrieben. Hat gesagt, dass du tot wärst. Ich dachte, ich hätte alle verloren, weißt du? Ich dachte, ich hätte dich und Theseus getötet. Und dann habe ich Charon getötet."
Die letzten Worte ließen Casmiels Gesicht kalt werden. Sein neutrales Gesicht fiel und Trauer schien seine Augen einzunehmen. Er hatte selbst nicht gewusst, was passiert war. Wollte es später abklären. Doch nun hatte Aspen ihm alles gesagt, was er tatsächlich wissen wollte. Wer seinen Vater getötet hatte.
„Ich war verzweifelt. Ich habe das Blut erst von meinen Händen gewaschen, als mich Liope dazu gezwungen hatte, zu deiner Beerdigung zu gehen. Er meinte, es würde mir gut tun. Ein Abschluss. Doch dann- dann hast du es gewagt aus deinem verdammten Sarg zu steigen und- Es klebt noch immer unter meinen Fingernägeln. Jedes Mal wenn ich meine Augen schließe, sehe ich nur- ich sehe nur-" die Worte drangen nie über ihre Lippen. Denn was Aspen empfand, ließ es nicht zu, geteilt zu werden. Es war beschämend. Falsch.
Sie wollte sich nicht schlecht fühlen. Sie hatte das Richtige getan. Gott, sie hatte so vielen Menschen bereits das Leben genommen, es war nichts mehr neues für sie. Die Bewegungen hatten sich bereits in ihrem Muskelgedächtnis verfestigt. Ein Messer war schon lange keine Waffe mehr, lediglich ein Werkzeug. Ein Abzug war nur ein Knopfdruck und Blut war nichts weiter als eine Flüssigkeit. Die Angst, die in den Augen ihrer Opfer aufloderte, wenn sie ihre letzten Momente erlebten, war nur mehr ein Blick. Eine Bestätigung, dass sie ihren Job richtig machte. Denn das war das Töten von Menschen inzwischen geworden. Nichts weiter als ihre Arbeit. Sie war nicht mehr als eine Sekretärin, eine Bäckerin oder eine Geschäftsführerin. Sie war nur eine einfache Arbeiterin, deren Gehalt es war, einer Familie anzugehören und beschützt zu werden.
Doch Charons Tod war anders. Er war unglaublich. Aspen konnte nicht glauben, dass sie seinen Hals tatsächlich aufgeschlitzt hatte. Dass sie seinen letzten Atemzug miterlebt hatte. Dass sie es gewesen war, die sein Leben beendet hatte. Zugleich wollte sie es nicht glauben. Charon war unsterblich gewesen. Ein Gott. Er war über der simplen Menschheit gestanden, mit seinen Methoden der Perfektion, seinen Lehren des Gut-Seins. Er war nichts mehr sterblich, menschlich, gewesen. Nur die Hülle eines mächtigen Wesens, dessen Logik das Herz eines Menschen zerriss.
Und vielleicht war er das tatsächlich. Vielleicht war seine Logik nicht für die Menschlichkeit gedacht. Vielleicht war sein Wesen göttlicher Natur und überstieg damit das Denkvermögen des einfachen Lebens. Doch Aspen wollte nicht an diesen Gott glauben. Sie konnte nicht. Denn Glaube machte etwas erst real. Glaube bewegte Dörfer, versetzte Berge, zerstörte Welten. Glaube machte einen Menschen erst zum Gott und einen Gott zu etwas Unsterblichem. Glaube machte aus einem Schmetterlingsschlag einen Orkan. Glaube machte Ordnung zu Chaos. Tod zu Unsterblichkeit. Unmöglichkeit.
Aspen wollte nicht Glauben.
Aspen wollte Charon nicht Unsterblich machen. Seinen Fall unmöglich.
Charons Tod war für sie zu einer Unmöglichkeit geworden und der Fakt, dass sie diese Unmöglichkeit ermöglicht hatte, machte sie zu etwas Unreinem. Etwas Dreckiges. Es machte sie zu einem Monster. Einem Monster, dass sie nie verstanden hatte, jedoch immer schon gewesen war. Eine Mörderin.
Denn Asperia konnte sich nicht länger einreden, dass sie nichts weiter war, als eine einfache Sekretärin, fleißige Bäckerin oder erfolgreiche Geschäftsfrau. Sie konnte sich nicht länger einreden, dass sie gut war. Konnte sich nicht mehr länger davon überzeugen, dass Charon falsch gelegen war. Er hatte sie gut gemacht. Seine arrangierte Hochzeit, seine Namensgebung. Asperia Cassiopeia Tripe war gut. Asperia Cassiopeia Tripe war die Heldin.
Aspen Salem war nichts weiter als Dreck. Und Staub. Und Schuld.
Nichts weiter
als ein wertloses
nutzloses
dreckiges
hässliches
grausames
Monster.
Nichts weiter als Realität. Möglichkeit. Sterblichkeit.
Etwas, woran man nicht mehr glauben konnte. Sollte. Durfte.
Nichts weiter als-
„Du hast recht," sagte Aspen nur. Ihre Stimme klang neutral. Ihr Blick hatte jegliche Wut verloren. Ihr Herz die Kraft, weiter mit Casmiel zu diskutieren.
Schweigend ging sie weiter, hielt Theseus in ihren tauben Händen, die in ihren Augen noch immer von Blut verdreckt waren. Heiliges Blut, dass niemals hätte vergossen werden dürfen.
Casmiel sah ihr hinterher. Zweifelnd. Sorgvoll. Verwirrt.
Doch er sagte nichts.
Er konnte nichts sagen. Seine Lippen blieben versiegelt. Seine Worte blieben fern. Denn sie würden nur Lügen sein. Aus Lügen bestehen. Ein Berg, eine Welt, aus Lügen, die er nicht wagte, laut zu äußern. Die er nicht wagte, zu denken. Zu hoffen.
Er wusste, was Aspen sagen wollte. Wohin ihre Gedanken abgedriftet waren. Was ihre Schuld war.
Welche Tat sie begangen hatte. Welche Unmöglichkeit sie durchbrochen hatte. Welche Sünde begangen worden war.
Denn selbst wenn es keine Lüge wäre, selbst wenn ihre Tat das Gute war, könnte Aspen niemals Gut sein. Nicht, nachdem sie alles zerstört hatte. Der Welt ihren Untergang gebracht. Die Tripes geweckt. Das Blutbad um ein Erbe geweckt.
Aspen hatte Blut an ihren Händen. Nicht Blut. Ichor. Das goldene Blut der Götter, dass durch ihre Venen floss, dass Leben brachte und nahm. Die heilige Flüssigkeit, die Götter erst zu Göttern machte. Aspen hatte die Unmöglichkeit getötet. Einen Gott, der niemals vollkommen sterben würde. Könnte.
Eine Schuld, die Casmiel wohlmöglich nie vergeben könnte.
Sie hatte ihm nicht nur einen Vater genommen, sondern alles, was ihm geblieben war.
Alles, was er noch geliebt hatte.
Gewollt.
Gebraucht.
Verloren.
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