Kapitel 41

[Anfänge; Zweiter Akt]

~Der zweite Akt eines Anfanges~

Hunger war eine grausame Art des Sterbens. Man spürte, wie man langsam aufhörte, zu existieren. Wie sich Haut von den Knochen löste. Muskeln längst ihre Kraft verloren hatte. Wie man stetig dünner wurde. Nicht mehr denken konnte. Nur mehr beten.

Anfangs hatte man noch Hunger. Der Mund wurde trocken, die Kehle ächzte nach etwas essbarem und der Magen knurrte unaufhörlich. Irgendwann hörte er auf. Man fühlte keinen Hunger mehr, fühlte sich sogar satt. Ein Kloß schob sich vor die Kehle, nahm nicht einmal mehr Luft an. Der Magen verstummte. Man fühlte sich voll, konnte jedoch die Leere in sich spüren, die nur durch Schmerzen unterbrochen wurde, wenn überhaupt.

Man bekam mit, wie man langsam verschwand. Wie Fettreserven abgebaut wurden, der Körper schwächer wurde. Wie Haare ausfielen und man seine Augen nicht mehr offen halten konnte, da man nicht mehr die Energie hatte, seine Lider zu heben.

Dazu kam dann noch Durst. Trockenheit. Man konnte nicht mehr schlucken. Keine Feuchtigkeit schien mehr übrig zu sein. Irgendwann schmeckte man nicht einmal mehr etwas. Doch die Schmerzen gingen niemals weg.

Irgendwann verschwand dann auch die eigenen Stimme. Sie wurde heiser. Leiser. Stumm. Irgendwann konnte man nicht mehr mit sich selbst reden. Irgendwann war man allein und bemerkte diese Einsamkeit. Irgendwann bemerkte man, dass niemand mehr kommen würde.

Und dann kam noch der Wahnsinn, der durch die Einsamkeit eingeladen wurde. Die Stimmen. Die Illusionen. Halluzinationen. Die Träume, die durch die Dunkelheit wieder vernichtet wurden.
Irgendwann kamen die Wände näher, drohen dich zu zerdrücken. Irgendwann dachte man, etwas in der Dunkelheit zu sehen. Irgendwann wurden Halluzinationen zu den einzigen Freunden, die man hatte.

Irgendwann vergaß man. Zuerst die Sinne. Man vergaß, wie Farben aussahen. Wie sich Flüsse anhörten. Man vergaß, wie die Stadt roch. Wie Freiheit schmeckte. Wie man lebte.
Danach kamen andere Dinge. Man vergaß seinen Namen. Seine Identität. Sein Leben. Man vergaß Leute, die einem wichtig waren. Leute, die man geliebt hatte. Nur die bösen Leute nicht. Nein. Die vergaß man nie.

Man konnte sie nicht vergessen. Denn jedes Mal, wenn man die Augen schloss, konnte man sie sehen. Ihr Gesicht. Ihre Züge. Ihr Lächeln. Jedes noch so kleine Detail, dass man von allen anderen vergessen hatte. Jede noch so schreckliche Tat, die sie begangen hatten.

Theseus war schon oft gestorben. Es war traurigerweise Alltag. Normalität. Doch noch nie hatte er sich so sehr nach dem Tod gesehnt. Dem Ende.

Er hatte sich schon oft Gedanken gemacht. Gedanken, welchen Wert sein Leben hatte. Dieses unendliche Leben. Gedanken, was seine Bestimmung war, wenn er letztendlich doch immer verlieren würde. Er hatte sich schon oft Gedanken gemacht, ob er sein eigenes Leben beenden könnte. Ob er sich so ein Ende setzen könnte. Doch er hatte es nie gewagt. Er war nie an dem Punkt angelangt, an dem er das Leben nicht als eine Chance gesehen hatte.
Bis jetzt.

Jetzt verstand er. Er verstand alles. Die Leere brachte viele Gedanken zum Vorschein. Die Einsamkeit war eine grausame Muse. Die Stille eine zerstörerische Motivation.

Doch er verstand nun. Er konnte Casmiel verstehen. Er hatte seinen Verstand verloren, um zu verstehen. Endlich zu verstehen.

Er verstand den perfektionierten Zerfall.
Denn die Gedanken, die die Leere brachte, existierten nur, um seinen Verstand zu erhalten. Er versuchte sich selbst einzureden, dass es einen Grund gab, wieso ihm das angetan wurde. Er versuchte sich selbst einzureden, dass er irgendwann stark genug sein könnte, um sich selbst zu retten. An Rettung hatte er längst aufgehört zu denken. Zu hoffen.
Er versuchte sich selbst einzureden, dass er einen Fehler begangen hatte, da niemand grundlos so etwas tun würde. Könnte. Er versuchte sich selbst einzureden, dass die Götter einen Plan hatten. Einen Plan mit ihm. Für ihn. Einen Plan, der diese Tat brauchte.
Er versuchte sich selbst zu erzählen, dass das alles eine Erklärung hatte.

Er log sich selbst an, nur um etwas Hoffnung zu finden. Nur um nicht den Verstand zu verlieren.

Doch wenn er an Casmiel dachte, dann wurde ihm klar, wie es ihm gegangen war. Wie er in dieser Zelle gesessen war und zu den Göttern gebetet hatte. Wie er in dieser Zelle gesessen war und um Rettung flehte.
Wie er seinen Glauben verloren hatte.

Theseus verstand, wieso Dolores zu Casmiels Göttin geworden war. Sie war seine Rettung gewesen. Die Antwort der Götter. Die Antwort seiner Götter. Die Halluzination war alles gewesen, was ihn bei Verstand gehalten hatte. War die einzige gewesen, die ihm jemals geholfen hatte. Sie war seine Göttin, da sie seine Gebete erhört hatte, nicht weil sie tatsächlich göttlich war.

Dolores war vielleicht nur eine Einbildung. Die Erinnerung an etwas Unmögliches. Doch für Casmiel war sie so viel mehr. Für ihn war sie Hoffnung. Rettung. Liebe. Für ihn war sie alles gewesen, da er nichts mehr gehabt hatte.

Die Götter schuldeten ihnen eine Entschuldigung. Sollte es sie tatsächlich geben, schuldeten sie Theseus und Casmiel alles. Sie schuldeten ihnen ein schönes Leben, dass sie genießen konnten. Sie schuldeten ihnen Hoffnung. Rettung. Liebe.

Sollte Theseus jemals vor den Göttern stehen, sollten sie ihre Sünden bei ihm entschuldigen. Denn er hatte keinen Glauben mehr für sie übrig.

Sie hatten ihn verraten. Allein gelassen. So lange hatte er sich zurückgehalten. So lange hatte er an eine höhere Macht geglaubt, die ihre Wege bestimmte. Es hatte ihn am Leben erhalten. Es war seine Bestimmung gegeben. Nur weil er geglaubt hatte, dass er einen Grund hatte, zu existieren.

Doch nun. Nun bereute er jedes Leben, dass er nicht genommen hatte.

Jede Klinge, die er zu Boden geworfen hatte.
Jeden Abzug, den er nicht gedrückt hatte.
Jedes Herz, das er nicht zerbrochen hatte.

Er bereute seine Gedanken. Sie waren ein Zeichen dafür, dass er sich langsam verlor. Zeigten, dass Charon gewann. Sie waren Vorboten des Todes. Omen des unendlichen Hasses.
Sie waren perfektionierter Zerfall.
Sie waren Verlust.
Sie waren Aufgeben.
Sie waren
Ende.

Ende, dass durch gleißendes Licht durchbrochen wurde.

Theseus musste seine Augen abwenden, die in dem plötzlichen Licht verbrannten. Zugleich jedoch wollte er sehen. Er wollte spüren. Er wollte das Licht aufnehmen und nie wieder loslassen. Nie wieder vergessen. Er zwang seine Augen, direkt in das Licht zu sehen. Er trotzte Schmerzen und zwang sich nicht zu blinzeln. Er wollte sehen. Hatte Angst, dass es verschwinden würde, wenn er blinzelte. Das er aufwachen würde, aus seinem grausamen Traum der Hoffnung.

Doch das Licht verschwand nicht. Selbst als Tränen seine Sicht verschwimmen ließen und seine Lider zu zittern begannen.

Es verschwand nicht. Nicht ganz. Denn ein Umriss trat vor das Licht und verdeckte es somit etwas. Das Gesicht war unerkennbar. Nur Schatten und Schemen. Mehr war die Gestalt nicht.

Kurze Haare. Ein langer Mantel. Ein Mensch.

Als die Gestalt einen Schritt näher kam, wich Theseus panisch in die Ecke zurück und machte sich klein. Er kauerte sich zusammen. Schutz. Er brauchte Schutz. Denn das Gesicht des Mannes war kein Gutes. Es war das Gesicht der Person, die ihn hier eingesperrt hatte. Es war das Gesicht eines Monsters. Keines Menschen.

Die Gestalt kam näher. Kniete sich vor Theseus. Sah ihn an.

Seine Augen hatten sich an das Licht gewohnt, auch wenn es noch immer brannte. Doch er konnte wieder sehen. Wagte es sogar, zu blinzeln, wenn auch nur schnell, da die Gestalt ihm jederzeit etwas antun könnte. Ihm jederzeit weh tun könnte.

Doch dann sah er sein Gesicht.

Sanfte Züge. Von Engeln erschaffen.
Dunkle Augen, blau wie das Meer.
Weiß-goldene Haare, seidig und weich.
Ein Lächeln. Das Theseus. Vergessen. Hatte.
Vergessen.
Hatte.

Er sah auf.
Hob seine Hand.
Streckte sie ihm entgegen.
Erwartete Schmerz.
Ignorierte die Steifheit.
Berührte das Gesicht des Anderen.
Strich über seine Haut.
Seine Narben.
Seine Lippe.
Seine Wange.
Strich sein Haar.
Seine Wärme.
Seine Nähe.

Der Mann legte seine Hand vorsichtig auf die von Theseus und strich mit seinem Daumen über die dünnen Fingerglieder, die nur mehr aus Knochen und Haut zu bestehen schienen.

Er kam noch näher. Langsam. Immer in Theseus' Sichtfeld.
Legte seine Lippen auf seine Stirn.
Weich und sanft.
Warm.
Sicher.
Er küsste sie.
Entfernte seine Lippen von Theseus' eiskalter Haut.
Legte seine Hand auf Theseus' Wange und strich eine Träne von seiner Wange.

Eine Träne.
Wie lange hatte Theseus nicht mehr geweint.
Wie lange waren seine Augen trocken gewesen.
Wie lange hatte er nicht mehr gefühlt.

‚Casmiel', wollte er sagen. Wollte den Namen des Mannes aussprechen, der sein Herz zum Beben brachte. Wollte den Namen auskosten, der seinem Verstand vor langer Zeit entfallen war. Den er vergessen hatte. Wollte ihm danken. Seinen Namen. Er wollte seinen Namen nie wieder vergessen. Nie wieder. Nie wieder. Niemals.

Die Hand des Mannes strich über seine Wangenknochen. Brachte sein Herz zum Schlagen. Ein Lächeln streifte seine Lippen.
Er wollte für immer in diesem Moment leben. Dieser Moment, in dem seine Finger seine Haut berührten, sein Lächeln ihm Wärme brachte. Es war weich und einfach, aber es fühlte sich an, als wäre es alles. Alles was Theseus gebraucht hatte, um Leben zu wollen.
In diesem Moment, fühlte er sich lebendig.
Nicht, weil er es tatsächlich war. Sondern weil er in diesem Moment lächeln konnte, obwohl er vergessen hatte, wie es funktionierte.

Theseus ließ seine Hände über Casmiel wandern. Er wollte ihn spüren. Er fühlte seine Schultern. Seinen Hals. Seine Brust. Sein Herz. Seine Arme. Seine Hüfte. Seine Beine. Seine Rippen. Seine Knochen. Sein gesamtes Sein.

Er wollte nicht glauben, dass er tatsächlichreal war, da er ihn ansonsten verlieren könnte. Realität macht einen Menschenerst Sterblich. Realität macht einen Körper erst vulnerabel. Realität macht einKörper erst zersetzbar.
Theseus würde Realität gegen Einsamkeit tauschen, wenn es bedeuten würde, dassCasmiel niemals sterben könnte. Wenn es bedeuten würde, dass er Casmiel niemalsverlieren könnte.
Theseus wäre lieber wahnsinnig, als ihn zu verlieren.
Theseus wäre lieber auf ewig allein, als einen Moment ohne ihn.

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