Kapitel 39
[Der Anfang beginnt mit einer Beerdigung]
~Die Versammlung der Erben~
Die Geschichte der Tripes begann nicht mit Charon Asklepios Tripe oder gar Casmiel Aradeon.
Die Geschichte der Tripes begann weder mit Achill Callistus oder Cassandra Athena.
Nicht mit Caspian oder Cassiopeia.
Die Geschichte der Tripes beginnt vor hunderten von Jahren. Mit Chryso Apollon Tripe und seiner Ehefrau, Aspasia Chariklia Coldwell. Die Urvorfahren des tripe'schen Stammbaumes. Der Ursprung des tripe'schen Blutes.
Eine Familie, die sich schon seit Anbeginn ihrer Zeit durch ihre Prestige und Perfektion auszeichnete. Durch ihre einzigartige Art, Menschen um ihre Finger zu wickeln. Ihren eindrucksvollen Charme, angenehmes Charisma und sanftes Wesen. Ihr gutes Aussehen, man mochte sagen, sie wurden von Gott geformt. Ihre blonden Haare und blauen Augen. Ozeane und Sonnen der Welt. Leuchtende Sterne in der Nacht.
Sie waren erfolgreich, adelig. Schienen jede Krise zu überleben, und sogar aus diesen zu profitieren. Sie waren Berge inmitten von Meeren. Erhoben sich über allen anderen und galten als perfekt.
Die Zweige wuchsen. Chryso und Aspasia waren nur der erste Stein in einer langen Linie von Erben und Tragödien. Von Schmerz und Pein. Liebe und Leid.
Mit Archeron Abraam und Ambrosios Anatol verzweigte sich der Stammbaum zum ersten Mal und eine grausame Tradition entwickelte sich. Der perfektionierte Zerfall.
Eine gezielte Zerstörung der menschlichen Psyche, um ihr die Menschlichkeit auszutreiben und die Tripes zu einem Geschlecht der Götter zu erheben. Ihnen den Platz zu geben, den sie sich verdient hatten.
Diese Tradition wurde von Ambrosios Anatol entwickelt und seitdem triefte Gift von den Ästen des Stammbaumes. Ihre Blätter strahlten heller als Sonnen, ihre Früchte waren süßer als frischer Honig, doch auch Gift kann Schönheit bringen. Auch Gift kann zerstörerische Adoration erschaffen.
Archerons Linie versiegte. Keine Äste wuschen aus seinem Ast. Keine Nachfahren. Man könnte wohl sagen, er wäre der letzte Tripe gewesen, der nicht in des Gewässern der Perfektion ertränkt wurde, denn nach ihm, veränderte sich alles.
Mit jeder Generation setzte sich der perfektionierte Zerfall fort, befiel die Tripes mit einer seltsamen Obsession, die sie alles vergessen ließ, was sie einst geliebt hatten.
Sie waren aus Lügen entstanden und setzten dieses Spiel fort. Ein ewiger Kreislauf der ständigen Manipulation, der ständigen Zerstörung.
Manche versuchten den Kreislauf zu durchbrechen, doch sie gingen unter. Ertranken. Starben aus. Die Äste hörten auf zu blühen. Sie stoppten ihr Wachstum und starben letztendlich aus. Sie hatten keine Chance gegen die Macht der Perfektion. Die Sucht nach Mehr.
Charon Asklepios Tripe brachte den perfektionierten Zerfall auf eine neue Stufe der Extreme. Mit nur vierzehn Jahren übernahm er das Erbe seiner Eltern, Ardya Asetheia und Asklepios Asenois Tripe. Ein tragischer Attentat war der Grund für ihr frühes Ableben und die Tragödie der Familie.
Sein älterer Bruder, Achill Callistus überließ das Recht des Erben seinem jüngeren Bruder und die Familie erblühte in neuem Licht.
Die neunte Generation gedieh wie noch keine vor ihnen und schien dies an die nächste Generation weiterzugeben. Alle Verästelungen schienen von dem neuen Familienoberhaupt zu profitieren, zeigten ihren Reichtum nicht nur in ihren Taten, sondern ebenso ihrem Nachwuchs, der die Familienlinie in einem rasanten Tempo antrieb.
Charon war wie der Dünger, der nach all diesen Jahren gebraucht wurde.
Denn nicht nur Achill und Casandra, Charons Geschwister, folgten seinem Beispiel und zeugten zahlreiche Erben, sondern auch die anderen Verästlungen wurden von der neuen Führung inspiriert.
Achills Kinder, Atlas und Artemis, Casandras Kinder, Chalytea und Aristeides, und natürlich Charons Kinder, Caspian, Casmiel und Cassiopeia, waren nur der Anfang.
Denn der erste Ast verzweigte sich ebenso weiter. Cyräus und seine Frau Calia mit ihrem Sohn, Anatol und Aineas und Cosma, mit ihrer Tochter Christheia.
Die einzige Erbin des dritten Zweiges, Astaia und ihr Ehemann Adamantios passten sich ebenso an und bekamen bald Chrysovalandis, Agape und Aida, die die zehnte Generation abschlossen.
Manche von ihnen haben bereits selbst Kinder, andere sind verheiratet. Die Familie Tripes kennt kein Halten, kein Stopp. Sie bewegen sich fort, fließen nicht mit dem Strom, sondern bilden ihren eigenen Fluss. Sie veränderten die Welt, indem sie gleich blieben.
Traditionen, Ahnen, Erben.
Namen, Götter, Macht.
Die Tripes sind unbesiegbar. Eine Kraft, so unglaublich, man kann sie nicht aufhalten. Mit keinem Felsen. Keinem Damm. Keiner Katastrophe. Denn aus diesen nähren sie sich. An Zerstörung und Chaos. Bitterkeit und Trauer.
Sie wachsen während die Erde fällt. Sie gewinnen, wenn alles verloren ist. Sie sind stark, wenn andere sterben.
Doch selbst die Katastrophe dieses Tages war ein Schlag für die Familie der Tripes. Ein Schlag, der ihre Säulen zum Wackeln brachten. Ihre Mauern reißen ließen. Ihre Augen verbrannte.
Denn diese Beerdigung war nicht das, was sie gewollt hatten. Charon hatte ihre Familie geführt. Casmiel wäre sein Nachfolger geworden. Doch nun standen dort drei Särge, aus dunklem Holz, mit dunkelblauem Samt und goldenen Verzierungen, das Siegel der Tripes auf dem Deckel.
Sie standen draußen. Auf dem privaten Familiengrab der Tripes.
Der Himmel war wolkenverhangen und sagte Regen voraus. In weiter Ferne versammelten sich bereits tiefschwarze Wolken, die ein Gewitter ankündigten.
Viele Gräber standen auf dem Friedhof, der hinter dem Anwesen der Tripes angelegt war. Generation nach Generation hatte sich hier wieder getroffen. Gebeine über Gebeine.
Geschmückt mit den schönsten Blumen und Bäumen. Gepflegt von den Dienern des Hauses. Ein schöner Ort. Mit Bänken und Brunnen. Wegen aus Kies und einer Gruft, in der die Gebeine von Chryso Apollon und seiner Frau, Aspasia, lagen.
Statuen aus weißem Marmor, durch die Witterung leicht gerissen, mit Flechten und Moosen bedeckt, trotz der ständigen Pflege. Stille und Ruhe.
Viele Menschen waren gekommen. Nur Familie, verstand sich. Schließlich war dem gemeinen Volk nicht einmal bekannt gemacht worden, welche Tragödie sich hinter den Mauern des Tripe-Anwesens abgespielt hatte. Zuerst musste die Familie in Kenntnis gesetzt, nächste Schritte überdacht und eine Lösung gefunden werden. Zuerst kam die Familie.
Die Särge standen offen. Die Deckel waren aufgeklappt und die Leichen darin waren zu sehen. Von dem dunkelblauen Samt umgeben, wie ein Bett aus den feinsten Stoffen. Man hatte sie verschönert, selbst wenn dies keine öffentliche Zeremonie war. Schließlich musste ein Tripe auch perfekt sterben, nicht nur leben. Das war Pflicht. Es wäre ein Zeichen der Schwäche, wenn sie diesem Gesetz nicht nachgegangen wären. Ihre Gesichter waren durch Make-Up von ihrer Blässe befreit worden, die Abschürfung an Calliopeias Hals war verschwunden und auch Charons Hals war von einem Kragen verdeckt, sodass man den tiefen Schnitt nicht sehen konnte.
Doch Icarus sah ihn. Sie sah alles. Sie sah Charons Körper, von Blut besudelt, in der roten Flüssigkeit liegend, mit aufgerissenen Augen und offenstehenden Mund. Chaotischen Haaren, leerem Blick. Todesstille.
Sie sah Calliopeia von der Decke hängen. Ein Seil an ihrem Hals. Schneidend und schmerzhaft. Blässlich blau. Im Wind wiegend. Still.
Sie sah Casmiel. Blutverschmiertes Gesicht. Narben von tiefen Schnitten, die sein einst perfektes Gesicht durchschnitten. Zerzauste Haare. Ausgerissene Strähnen. Die Spur von Tränen auf den blutbefleckten Wangen.
Geschlossene Augen, als würde er schlafen. Ein Teil seines Hemdes über sein linkes Auge gebunden. Kleider zerrissen, rot getränkt, getrocknet. Nägel eingerissen. Spuren auf seinem Körper. Blaue Flecken. Kratzer. Wunden. Mehr Blut.
Sein dürrer Körper. Leicht. Zu leicht. Eingefallene Augen. Eingefallene Wangen. Kurze Haare. Geschnitten. Ausgerissen. Messerscharfe Kanten.
Icarus hatte Angst gehabt. Eine Sklavin hatte sie zu der Zelle geführt. Sie geöffnet. Sie ihr gezeigt.
Wände aus dunklem Stein. Boden aus dunklem Stein. Alles aus dunklem Stein. Kein Entkommen. Kein Entrinnen. Ein Raum. Ein Alptraum.
Dort war er gesessen. An die Wand gelehnt. Zusammengesackt. Schwach. So schwach. Tot. Doch Icarus wollte es nicht glauben. Konnte es nicht glauben. Unmöglich.
Die Dienerin hatte seinen Puls genommen. Negativ. Tot.
Die Dienerin hatte seine Haut gespürt. Kalt. Tot.
Die Dienerin hatte seine Atmung überprüft. Nichts. Tot.
Er war tot. Er war tatsächlich tot.
Erst dann hatte Icarus es gewagt, ihn aus der Zelle zu tragen und ihn bestatten zu lassen.
Und jetzt?
Nur mehr leichte Narben. Geschlossene Augen. Kein Blut. Saubere Kleidung. Keine Tränen. Säuberlich-geschnittene Haare. Neue Frisur. So viel Ähnlichkeit. Ähnlichkeit mit Charon. Seinem Vater. Vater und Sohn.
Es war nicht fair. Nicht fair. Nicht fair. Nicht fair.
Icarus sollte so aussehen. Icarus sollte diese Haare tragen. Diese Augen haben. Diese Haut. Diese Perfektion. Casmiel hatte sie nicht verdient. Nicht verdient. Icarus hatte alles getan, doch sie war kein Tripe. Sah nicht so aus. Sah nicht so aus. Sie war kein Tripe. Noch nicht. Sie würde es sein. Bald. Bald. Nur Geduld. Etwas Geduld. Sie würde gewinnen. Sie würde eine Tripe werden. Sie würde es ihnen beweisen. Zeigen. Sie würde diese Familie führen. Wie Charon sie geführt hatte. Sie würde sie leiten. Wie Charon sie geleitet hatte. Sie würde so sein wie er. Wie Charon. Perfekt.
Deshalb hatte sie sie alle zusammengeholt. Alle Äste und Zweige der Familie Tripe, die sich finden ließen. Sie hatte an alle Briefe geschickt. Die Beerdigung verkündet. Sie versammelt. Zu sich.
Und hier waren sie nun alle. Die Familie der Tripes. Blaue Augen. Blonde Haare. Strähnen aus Gold. Augen des Himmels. Schönheit. Perfektion. Versammelt. Bei Icarus.
Sogar Aspen war gekommen. Sie hielt sich am Rande der versammelten Menge, mit einem wachsamen Auge auf die Beteiligten. Icarus würde sie töten. Bald. Doch nicht heute. Nein. Heute war nicht die Zeit dazu. Außerdem war dort noch Atlas. Aspens Ehemann. Er stand nahe bei ihr. Bot seinen emotionalen Beistand. Seine Schulter, sollte sie weinen. Doch Aspen weinte nicht. Sie zeigte keine Emotionen. Beachtete die beiden anderen Särge nicht. Nur Casmiels. Nur seines.
Abseits stand noch jemand. Ein Mann. Alleine. Mit traurigen Augen. Keine Tränen. Geschulte Maske. Alt. Als hätte er sie lange nicht benutzen müssen. Er ähnelte Charon. Und Casmiel. Er ähnelte ihnen. Nur waren seine Haare dunkler. Ein dunkles Gold. Und seine Augen. Sie waren nicht dunkelblau. Sondern himmelblau. Wie Calliopeias Augen. Imperfekt.
Er hielt sich fern von der restlichen Familie. Warf Aspen ein paar verwirrte Blicke zu, ansonsten nichts. Er sah nur die Särge an. Schlich um sie herum, als würde er zuerst kontrollieren, ob sie explodieren würden. Vorsichtig. Nicht wagend. Distanziert.
Achill stellte sich nach vorne, streng und makellos in seinem schwarzen Anzug. Er räusperte sich, die Gespräche erstarben sofort und alle Blicke richteten sich auf den Mann, der dort am Podest stand, bereit, seine letzten Worte an seinen Bruder und Neffen zu richten.
„Meine Damen und Herren, sehr geehrte Familienmitglieder, die sich heute an diesem historischen Tag versammelt haben, um den Tod meines Bruders, seiner Frau und seines Sohnes zu betrauern. Charon Asklepios. Calliopeia Anthina und Casmiel Aradeon. Sie waren alle geschätzte Mitglieder unserer Familienlinie, ehrenhafte Nachfahren unseres Vorfahren Chryso Apollon und stolze Träger unseres Blutes. Und deshalb-" Achill unterbrach seine Ansprache, als hinter ihm ein seltsames Geräusch ertönte und einer der Sargdeckel hob sich von selbst.
„Ich bitte dich, Achill," meldete sich dort eine altbekannte Stimme. Schwach und heiser. Kratzig. Als wäre er erst aufgewacht. Dunkel und tief.
„An meiner Beerdigung sehe ich nur ungern Lügen. Mein Leben war bereits davon gefüllt, du musst nicht auch noch mein Ende damit ausschmücken."
Ein überraschtes Raunen drang durch die Menge. Aspen riss ihre Augen auf. Atlas hielt sich an ihrem Unterarm fest ohne den Blick von vorne zu nehmen. Icarus war wie gelähmt. Zitternd. Konnte sich nicht bewegen. Nichts tun.
Er hievte sich aus dem Sarg. Strich sich durch das kurze Haar.
Seine Augen glühten wie Saphire. Gefährlich und doch so rufend, wie die Stimmen von Sirenen. Süße Stimmen aus dem tiefen Meer, dass jeden sofort verschlingen würde, sollten sie diesem Ruf folgen.
Obwohl, nicht beide Augen. Eines war milchig-weiß. Nur ein leichter, bläulicher Schimmer schien aus dem dichten Nebel heraus. Seltsame Schatten durchstrichen die Iris, als würde die Narbe über diesem Auge ebenso durch die Pupille selbst laufen.
Ein charmantes Lächeln zierte seine vernarbte Lippe.
Er kam näher. Seine Schritte ließen das Gras rascheln. Die ersten Tropfen begannen zu fallen. Ansonsten war die Welt verstummt. Niemand wagte es, ein Wort zu sprechen. Seinen Namen zu nennen. Seine Anwesenheit real zu machen.
Der Mann fuhr sich über das Gesicht. Seine Finger zuckten leicht, bei jeder Narbe, die er streifte. Jede Narbe, die sein Gesicht durchbrach. Doch sein Lächeln fiel nie. Es blieb bestehen, wie es nur Charon vor ihm getragen hatte. Keine Gefühle spiegelten sich in seinen Augen. Kälte. Distanz. Als wäre er weit über allen anderen. Weit über Icarus. Als wäre er die Sonne.
Seine Hand fiel wieder von seinem Gesicht. Die Stille blieb bestehen. Er leckte leicht über seine Lippen. Hob seinen Kopf. Starrte Icarus direkt in die Seele. Direkt in seine vor Angst geweiteten Augen. Angst, vor diesem Lächeln, dass nicht auf dieses Gesicht gehörte. Das nicht ihm gehörte.
„Also wirklich. Ich hätte mir eine schönere Beerdigung gewünscht. Ihr seid erbärmlich. Vielleicht bin ich deshalb wieder hier. Um euren Mist zu reparieren. Ich meine, dunkelblauer Samt? Goldene Drachen? Als hätte ich davon nicht schon genug gehabt. Es reicht auch mal wieder mit diesem ganzen Familienzeug. Ich hätte viel lieber eine Ente auf meinem Sarg. Denkt das nächste Mal bitte daran. Vielleicht bleibe ich dann auch tot." Sprach er ungestört weiter, warf nur einen schnellen Blick auf die beiden anderen Särge und wandte seinen emotionslosen Blick dann wieder den Gästen zu, die noch immer kein Wort äußerten.
Bis ein junges Mädchen die Stille erneut brach.
„Bist du..."
Sie schluckte. Stoppte. Verstummte. Wagte es nicht, ihren Gedanken zu beenden, Wagte es nicht, ihre Gedanken zu einer Realität zu machen.
„Casmiel Aradeon Tripe?" antwortete der Mann und verneigte sich dann tief vor dem Mädchen, elegant und anmutig, ausschweifende Bewegungen als Begleitung, als wäre sie eine Königin,
„Der einzig wahre."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top