Kapitel 38
[Verluste; Vierter Akt]
~Letzter Akt des Endes~
Alle bemerkten die Schwere, die die Stimmung bekommen hatte. Alle bemerkten die Veränderung in der Luft, die Härte jedes noch so kleinen Atemzuges.
Alle bemerkten wie seltsam es war, Aspen so zu sehen. Mit starrem Blick, der in die Leere gerichtet war. Suchend, doch niemals findend. Wie ihre noch immer blutüberströmten Hände die Tasse mit heißer Schokolade umklammert hielten, als wäre diese ihr letzter Anker in der Realität, die sie im Moment mehr hasste als alles andere. Wie sie dort kauerte, auf dem Tisch sitzend, wie Casmiel es immer getan hatte, da die Wände ihn zu sehr eingekesselt hatten, die Beine angezogen, eine Decke um sie gelegt und tiefe Ringe unter den schwarz-unterlaufenen Augen, die einst Wimperntusche gewesen war. Ihr Eyeliner war verwischt, hässliche Spuren davon waren noch auf ihrer leicht geblassten Haut übrig, die normalerweise schön schimmerte wie Bronze, jetzt jedoch jegliche Farbe verloren hatte. Als wäre Aspen krank.
Haare fettig, ungewaschen. Das Zimmer verpestend, anders konnte man es nicht mehr bezeichnen. Sie war dreckig. Müde. Hatte nicht geschlafen seit Tagen und wenn doch, dann war sie innerhalb weniger Minuten schreiend aufgewacht, hatte ihre noch immer blutigen Hände gesehen und hatte geweint.
Niemand wusste wirklich, wie sie ihr helfen sollten. Aspen war normalerweise die emotionale Stütze gewesen. Natürlich hatte auch sie schlechte Tage gehabt. Die hatte jeder. Doch noch nie war sie so stark auf die Hilfe anderer angewiesen gewesen.
Deshalb ließen die anderen ihr Abstand und hatten sich in einem anderen Raum des langsam zerfallenden Hauses eingesiedelt um privat über die neuesten Informationen zu sprechen. Es war der Raum im ersten Stock, den Casmiel in eine Schneiderei umgewandelt hatte, als sie zu der Party gegangen waren, bei der Cas sein Interview gehalten hatte.
Seitdem war viel passiert. Es hatte sich viel verändert. Und daran war nur dieses eine Event schuld, das eigentlich alles verändern hätte sollen. Der erste Schritt ihrer neuen Rebellion um gegen Charon vorzugehen. Und jetzt? Jetzt war dieser Plan belanglos.
Aspen hatte Charon getötet. Er war tot. Genauso wie Casmiel.
Niemand hatte es wirklich erwartet. Charon war eine Art Gott gewesen. Unsterblich. Doch genauso war es auch Casmiel gewesen. Es ergab einfach keinen Sinn. Er war immer zurückgekommen. Wie ein Bumerang, der immer wieder gegen deinen Kopf knallt und dir eine neue vermutlich tödliche Platzwunde verpasst. Doch er war immer zurückgekommen.
Jetzt? Jetzt war er weg. Tot. Und es veränderte alles.
Sie hatten kein Ziel mehr. Keinen Anführer. Sie wussten nicht, was als nächstes passieren würde. Welche Konsequenzen Charons Tod tatsächlich für sie bringen würde. Sie hatten keine Vorstellung der Zukunft. Keine Gewissheit. Nichts. Nur sich selbst.
Sie hatten gewartet. Tag um Tag. Hatten gehofft, dass er durch die Türe stolpern würde, mit einem charmanten Grinsen und sich über ihre Tränen witzig machen würde. Sie stellten sich vor, wie er sie tadelte, arrogant erklärte, dass er niemals sterben würde. Sie stellten sich vor, wie er unverändert wiederkehren würde. Wie es wieder sein würde. Wie früher.
Doch er kam nicht wieder. Er kam nicht durch die Türe. Dort war kein charmantes Lächeln. Keine blassgoldenen Locken, keine dunkelblauen Augen, keine Spur des Mannes, der einst ein Gott gewesen war, bevor er gestorben war.
Vielleicht war es gut so. Schließlich war Casmiel gebrochen gewesen. Zu Staub zermahlen. Jeder hatte bemerkt, wie unglücklich er gewesen war. Wie leer seine Augen manchmal geschimmert hatten, wie sein Lächeln zu zittern begann, seine Maske fiel. Die dunklen Ringe unter seinen Augen, die Knoten in seinen Haaren. Sie hatten bemerkt, dass Casmiel ihnen immer nur etwas vorgespielt hatte. Etwas perfektes, falsches. Sie hatten es geglaubt.
Vielleicht hatten sie es geglaubt, da er anfangs nie so gewesen war. Vielleicht hatten sie es geglaubt, da nichts Vernichtendes in seinem Leben geschehen war, jedenfalls nichts, was das Trauma seiner Kindheit schlagen konnte, dass über Casmiel lauerte wie ein bedrohlicher Schatten. Es hatte nichts gegeben, dass diese extreme Veränderung ausgelöst haben hätte können.
Ja, Casmiel hatte Eirene verloren. Doch er hatte schon zuvor Menschen verloren. Dolores, Cassiopeia, seinen Wiederstand. Er hatte sie alle beerdigt, Jahre lang als einziger von so vielen überlebt und dabei zugesehen, wie Bauer um Bauer, Turm um Turm, Dame um Dame, wie sie alle nach und nach fielen.
Ja, Casmiel war wieder in der Arena gewesen. Er hatte den Frost überlebt, die Leiterin. Er war erneut geflohen, nach all den Jahren. War wieder auf die Beine gekommen, nachdem er für Tod gegolten hatte. Doch dies für einen hohen Preis, den Preis seiner Freiheit.
Ja, er hatte seine Schuld beglichen. Er war zu Charon zurückgekehrt, hatte an seiner Seite gestanden, während seine Figuren immer weiter fielen. Er hatte dabei zusehen müssen, wie seine einstigen Verbündeten seine Feinde wurden. Seine Freunde zu Gegnern. Sein Wort zu einem richteten Schwert.
Ja, er hatte sich aus Charons Zwängen erneut befreit. Erneut war er geflohen. Erneut hatte er alles hinter sich gelassen. Erneut hatte er einen neuen Start angefangen, fern seiner Familie, fern der Tripes. Fern von vergiftetem Blut und verfluchten Namen. Fern von seiner Bestimmung, das Erbe der Tripes anzunehmen. Fern jener Wasser, die ihn so lange ertränkt haben.
Ja, er hatte in nur zwei Jahren die Geschehnisse seines gesamten Lebens verarbeiten müssen. Hatte einen Krieg hinter sich gelassen, nur um in einen neuen hineingeworfen zu werden. Er hatte zwei Jahre Zeit gehabt sich von seinen Fehlern zu befreien und sein Leben als normaler Mensch genießen können, bevor sein Fortschritt zunichte gemacht wurde und das Rad sich von vorne drehte. Doch dieses mal konnte er sein Wissen nicht mehr löschen. Seine Emotionen nicht ausblenden.
Ja, Casmiel hatte sich verändert. Doch all diese Veränderung hatte letztendlich nicht ausgereicht, um zu überleben. Letztendlich starb er doch. Letztendlich war er doch nicht stark genug gewesen. Genug gewesen. Gewesen. Letztendlich war er doch nur ein Mensch. Sterblich. Verletzlich. Lebendig. Tod.
Vielleicht war er nun glücklich. Vielleicht wurde er wiedergeboren, in einer normalen Familie. Mit liebenden Eltern, großen Geschwistern und einem gewöhnlichen Leben, wie er es sich verdient hatte. Vielleicht war er kein Phoenix. War nicht gezwungen zu absoluter Perfektion. Vielleicht würde er nie wieder perfekt sein müssen. Genug sein. Leben.
Vielleicht war er nun glücklich. Vielleicht war er im Ableben. Nachleben. Im Danach. Vielleicht war er jetzt bei all den Leuten, die ihn liebten. Bei Eirene, Dolores. Theseus. Seinem Wiederstand. Seiner Schwester, Cassiopeia. Seiner Mutter. Seinem Vater. Vielleicht waren ihre Pflichten der Perfektion endlich abgefallen. Vielleicht konnten sie tatsächlich lieben. Vielleicht konnte Charon tatsächlich lieben. Wie Casmiel es verdient hatte. Wie er es sich schon immer verdient hatte.
Vielleicht war er nun nichts. Vielleicht kam nichts danach. Nur Schwärze und Schatten. Ende. Nichts. Vielleicht existierte Casmiel nicht mehr und würde nie wieder existieren. Vielleicht war seine Ära mit diesem Kapitel zu Ende, die Geschichte abgeschlossen, das Buch zugeschlagen und die Seiten leer. Vielleicht folgte nun nur mehr ein Epilog. Ein Abschluss.
Niemand wusste es. Casmiel hatte sein Leben genauso beendet, wie er es begonnen hatte. Als ein Mysterium. Er war in die Geschichte eingegangen. Hatte Wellen geschlagen, Stürme benannt und alles verändert. Er hatte der Welt mit einem charmanten Lächeln den Frieden geschenkt und sie mit ein paar Worten in den Krieg gestürzt. Er hatte alles gehabt, war jedoch nichts gewesen. Er war alles gewesen, hatte jedoch nichts gehabt.
Denn so ist das mit Staub. Mit Splittern und Dreck. So ist das mit den Überresten einer Seele, wie Casmiel es gewesen war. Scherben. Zerbrochen und zusammengesetzt, nur um erneut zu zerbrechen. Sand aus glänzenden Stücken einer einst wunderschönen Vase. Glitzernde Partikel, die einst eines waren. Staub, überall und doch nicht greifbar. Nicht fassbar. Unmöglich.
Casmiel war die Unmöglichkeit, die die Welt gebraucht hatte, um sich zu verändern.
Casmiel war die Unmöglichkeit, die die Welt verbraucht hatte, um einen nutzlosen Krieg zu führen.
Casmiel war die Unmöglichkeit, die die Welt brauchen würde, um sich zu wenden.
Casmiel war die Unmöglichkeit, die Aspen brauchte, um sich ihrer Möglichkeit bewusst zu sein.
Denn jetzt war sie ohne Ziel. Ohne Pflicht. Sie war allein. Nutzlos.
Es war, wie das Beenden eines Buches. Ein Schlussstrich. Es war vielleicht nicht wie das Ende eines Lebens, doch wie das Ende einer Ära. Der Ära. Das Ende eines Lebensabschnitts, der so viel größer wirkt, als er eigentlich ist. Der Glaube, dass man nie wieder etwas besseres als dieses Werk schreiben würde. Das Gefühl von Stagnation, Resignation. Wenn man bemerkt, dass man anhaltet, langsamer wird und die Entwicklung langsam zu einem Halt kommt.
Die letzte Haltestelle.
Schließlich war es nun zu Ende.
Charon war tot. Casmiel war tot. Theseus war tot. Der Widerstand war aufgelöst. Die Menschen aufgeklärt. Phoenixe waren nun Normalität. Der Kampf beendet.
Also was nun?
Ein leeres Ende. Ein unbefriedigendes Ende. Es fühlte sich nicht an, als könnte es tatsächlich schon aufhören. Wie ein Buch, dessen letzte Seiten fehlen. Ein unvollendete Symphonie, die den Leser zwingt, selbst ein Ende zu entwickeln. Selbst zu schreiben, was letztendlich passieren könnte.
Doch Aspen hatte nie eine Feder gehalten. Ihre Finger waren nie über Tasten geflogen, hatten Texte geschrieben. Ihre Hände waren getränkt in Blut. Ihre Hände hielten ein Schwert, schnitten durch Körper. Ihre Hände waren nicht da, um zu Schaffen. Sie waren dazu bestimmt, zu vernichten.
Ihre Hände waren kein Kunstwerk. Sie waren rau, angepasst an den schweren Griff eines Schwertes und stark. Keine filigranen Finger, die Pinsel hielten, sondern stark und mächtig, um eine Waffe zu schwingen. Sie waren nicht schön.
Ihre Hände brachten Zerstörung und Ende. Keinen Anfang. Sie waren nicht wie Casmiels Hände. Feingliedrig und elegant. Anmutig in jeder Bewegung. Ihre Hände waren besudelt von Dreck und Staub. Mit tiefen Narben geschmückt, von Wunden übersäht, mit Blut bestückt.
Asperias Hände brachten Tod und trotzdem hatte Casmiel sie gehalten, als wären sie in der Lage zu lieben.
Vielleicht hatte Asperia Casmiel mehr gemocht, als nur einen Freund. Mehr als einen gewöhnlichen Bruder. Sie hatte ihn geliebt, wie sie den Tod geliebt hatte. Nie genug, um ihm zu begegnet. Ihn kennenzulernen. Nie genug, um seine Mauern einzureißen, sein Herz zu entdecken. Nie genug, um seine Ketten zu zerreißen. Nie genug, um seine Wunden zu heilen. Nie genug, um seine Feinde zu verbrennen. Nie genug, um ihm zu versprechen. Nie genug, um ihn zu heilen.
Nie genug.
Nie genug, bis er nicht mehr erreichbar war.
Asperia hatte Casmiel geliebt, wie sie den Tod geliebt hatte.
Und als er nicht mehr erreichbar war,
hatte sie ihn gebraucht.
Nach ihm geschrien.
Geweint.
Gestorben.
Asperia hatte Casmiel geliebt, wie sie das Ende geliebt hatte.
Auf der schmalen Linie balancierend.
Nie übertretend.
Vorsichtig.
Haltend.
Asperia hatte Casmiel geliebt, wie sie die Sterblichkeit geliebt hatte.
Unwissend.
Fern.
Fremd.
Unmöglich.
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