Kapitel 36

[Perfektion; Akt 2]

~Der zweite Akt der Perfektion~

Casmiel wollte nicht aufwachen. Er wollte nicht die Augen öffnen und seine bequeme Position verlassen. Er wollte liegen bleiben, den gleichmäßigen Atemzügen seiner lebendigen Stütze zuhören und sich selbst wieder in den angenehmen Schlaf lullen, aus dem er soeben erwachte.

Er wollte weiterhin die Wärme genießen, die von seinem Sitznachbarn ausging und die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht, die durch die Fensterscheibe gebrochen wurden. Er wollte sich weiter in die Arme seines Verlobten verdrücken und die Hintergrundgeräusche ausblenden, doch er konnte nicht. Nicht wenn Aspen in voller Lautstärke bei „I want to break free" von Queen mitgrölte und seine Ohren damit zerbersten ließ.

Also öffnete er murrend die Augen und sah auf. Das Licht blendete ihn, doch er blinzelte die Helligkeit sogleich weg, bis er mehr als nur ungenaue Formen und Gestalten erkennen konnte. Er fühlte sich noch immer etwas schlaftrunken, doch zumindest war er nicht so erschöpft wie zuvor, als er eingeschlafen war.

„Und ich dachte schon du würdest mich gleich ansabbern wenn du noch tiefer schläfst. Geht es dir jetzt wenigstens besser oder wirst du mich wieder bei der nächsten Gelegenheit aus dem Fenster schmeißen?" fragte Theseus neben ihm amüsiert als er bemerkte, dass Casmiel langsam aufwachte.

Sie waren in einem Auto. Aspen fuhr, hinten Casmiel und Theseus. Und vorne saß noch jemand. Ein Mädchen mit langen, rotbraunen Haaren und gleichfarbigen Augen, blasser Haut, unzähligen Sommersprossen und einem breiten Grinsen. Dolores.

„Ach, halt die Klappe, Idiot. Bei der nächsten Tankstelle werde ich dich endlich los. Du hast Glück, dass du so ein gutes Kissen bist" schmunzelte Casmiel nur und zog den anderen Mann zu sich heran, um ihn zu küssen. Ihre Lippen trafen sich und Cas konnte nicht anders, als zu lächeln, während er Theseus so nahe war.

Er wusste nicht wieso, doch es fühlte sich an, als hätte er den Mann schon seit Ewigkeiten nicht mehr berührt. Gefühlt. Geliebt.

Als hätte er dessen Lippen schon lange nicht mehr geschmeckt, den sicheren Duft von alten Büchern und Blutorangentee schon lange nicht mehr in seiner Nase gehabt. Als hätte er Theseus schon seit einer Ewigkeit vermisst, ohne seine Abwesenheit bemerkt zu haben.

„Hm" summte Theseus zufrieden und sah Casmiel nach ihrem Kuss weiter an, als wären sie noch immer frischverliebte Teenager, „dann werde ich wohl weiterhin so unglaublich charmant und bequem sein, damit eure Majestät mich nicht defenestriert."

„Wehe ihr macht irgendetwas in meinem Auto! Ich schwöre bei den Göttern, ich werde euch beide defenestrieren, wenn ihr eure Liebe weiterhin so ekelhaft präsentiert! Es gibt hier Leute, die glücklich Single sind und sich kein lebendes Kissen leisten können!" teilte Aspen ihnen drohend mit und Casmiel grinste nur herausfordernd.

Er warf Theseus nur einen frechen Seitenblick zu, bevor er ihn erneut zu sich zog und noch theatralischer küsste als zuvor.

Aspen trat auf die Bremse und das Auto blieb sofort stehen. Casmiel und Theseus wurden nach vorne geworfen, Dolores quiekte verschreckt auf und Aspen drehte sich mit wildem Blick zu den beiden um.

„Ihr könnt gleich beide aussteigen, wenn ihr nicht sofort mit eurem Techtelmechtel aufhört! Also echt. Ihr seid zum Kotzen" regte sie sich auf, konnte ihre strenge Miene jedoch nicht lange aufrecht erhalten, bevor sie mit Cas und Theseus mitlachte.

Natürlich regte sich Aspen auf. Doch sobald es zu ihren täglichen Flirts kam, denen sie jedes Mal schöne Augen machte, nur um gratis überteuerte Cocktails kippen zu können, durfte es keine Beschwerden geben.

„Du verursacht Stau. Kannst du nicht mal weiterfahren?" fragte Casmiel dann nur provokant grinsend und Aspen fing langsam wieder an zu fahren, ohne auf die Straße zu sehen, da sie gerade damit beschäftigt war, Casmiel mit einem mörderischen Blick zu vernichten.
Eine wichtige Angelegenheit.

Doch dann drehte sie sich wieder wütend schnaubend um und konzentrierte sich auf die Songtexte von Queen. Ebenso wichtig wie jemanden zu vernichten...oder Autozufahren.

„Hey Cas. Hast du nicht was vergessen?" fragte Dolores nur über die lautstarke Musik hinweg und warf Casmiel nur einen neugierigen Seitenblick zu, während er sie nur verwirrt ansah.

„Vergessen? Ich bin gerade erst aufgewacht, Dolores" meinte er nur und Dolores fing an zu Grinsen. Es war ein Grinsen, dass man normalerweise nur auf ihrem Gesicht sah, wenn man etwas wirklich abgrundtief dummes getan hatte.

„Ich gebe dir einen Tipp" flötete sie gut gelaunt und drehte sich seelenruhig nach vorne, „Charon~" löste sie in einer Sing-Sang-Stimme auf und Casmiels Herz blieb kurz stehen.

Charon. Sein Vater. Er-

Er hatte keine Ahnung wieso er plötzlich so panisch geworden war. Stattdessen warf er Dolores nur einen unbeeindruckten Blick zu und nahm sein Handy aus seiner Tasche. Er hatte einen Anruf verpasst. Keine große Sache.

„Asp. Musik" meinte er noch schnell und tatsächlich schaltete Aspen die Musik etwas leiser, sodass man nicht mehr schreien musste, um eine Nachricht weiterzuleiten.

Das Handy summte kurz, bis Charon den Anruf annahm und Casmiel anfangen wollte zu reden, jedoch kam er nicht dazu.

„Casmiel. Du hast meinen Anruf verpasst. Nennst du das etwa Perfektion?" fragte er dann und klang schrecklich ernst. Casmiel lachte nur leicht bei den Worten seines Vaters und schüttelte den Kopf, auch wenn sein Vater es nicht sehen konnte.

„Es war ein Anruf, Dad. Sei nicht so dramatisch. Ich hab geschlafen." Meinte Cas nur ruhig abwinkend und kurz war es still.

„Hallo Charon! Wie geht's, wie stehts, altes Haus? Wie geht's der Hüfte?" schrie Aspen zurück und Charon lachte leicht bei ihren Kommentaren.

„Seid ihr bald dort?" fragte er dann, als wäre nie etwas passiert. Cas ignorierte es einfach. Sein Vater benahm sich seltsam, aber es war nicht absonderlich. Nichts ernstes.

„Jaja. Sind bald da. Wenn Aspen aufhören würde, wie eine Wahnsinnige zu fahren, kommen wir vielleicht sogar mit all unseren Gliedmaßen an," witzelte Casmiel und sein Vater lachte erneut leicht bei diesen Worten. Er schien gute Laune zu haben. Kein Wunder. Schließlich würde Casmiel endlich nach Hause kommen. Nach so langer Zeit...

„Gut. Deine Mutter und Cassiopeia warten schon auf dich," antwortete er nur, doch Casmiel stutzte nur.

„Was ist mit Caspian? Er hat mir versprochen, er würde auch da sein, wenn ich heim komme" fragte er nur verwirrt nach doch sein Vater lachte erneut, als hätte Casmiel etwas witziges gesagt.

„Aber Casmiel," tadelte Charon ihn amüsiert, „Caspian ist nicht bei uns. Er ist nicht tot."

Bei diesen Worten sah Casmiel auf, doch Aspen war verschwunden. Sie saß nicht mehr am Steuer. Stattdessen war dort Eirene. Braune Locken, dunkle Haut, schokoladenfarbige Augen. Ja. Es war sie, ohne Zweifel. Das Lachen war Casmiel schon längst vergangen.

„Wir warten nur auf dich, Casmiel." Meinte sein Vater noch und legte auf.

Casmiel sah verwirrt zu Theseus, doch dieser flackerte wie das Licht einer Kerze, dass gegen einen starken Wind kämpfte. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Sie warten auf dich, Cassy" waren seine Worte, bevor er verschwand und Casmiel alleine zurückließ. Dolores und Eirene saßen seelenruhig vorne, als wäre nichts an dem ganzen seltsam. Als wäre alles normal. Doch Casmiel fühlte sich nicht mehr normal.

Er griff zu seinem Verlobten, doch seine Hand glitt einfach durch die Luft, als wäre dort nie etwas gewesen. Als hätte er nicht seinen Atem gespürt, seine Wärme aufgesogen, seinen Geruch in der Nase gehabt, seine Lippen geküsst. Als hätte er ihn nur einen Moment gehabt, bevor er ihn wieder verloren hatte.

„Was ist hier los? Wo sind Aspen und Theseus?" fragte er die beiden nur vorsichtig, einen Ausweg suchend. Doch es gab seinen. Die Türklinken der Autotüren waren nicht mehr da, für die Fenster war er zu groß. Cas war gefangen. Er fühlte sich wie früher. Erinnerte sich an die Kammer.
Sein Hals schnürte sich zu, er bekam keine Luft. Die Wände schienen näher zu kommen, ihn einzuquetschen. Zu zerdrücken. Zu vernichten.

Doch dann legte Dolores ihre Hand auf sein Knie und sah ihn mit ihren sanften Augen an, als wäre nichts an alldem seltsam.
„Es ist noch nicht ihre Zeit. Aber die deine. Deine Familie wartet auch schon auf dich. Auf der anderen Seite." Berichtete sie locker, als wäre alles okay. Alles okay. Als wäre das möglich. Nicht in Casmiels Leben. Nicht in diesem Leben, dass sich schon jetzt unendlich anfühlte. Als hätte er begonnen und wüsste nicht, wie aufhören. Als wäre seine Reise ein wiederholtes hinfallen und aufstehen. Immer dasselbe. Hinfallen. Aufstehen. Hinfallen. Aufstehen.
Dazu verdammt, niemals weiterzukommen. Dazu verdammt, niemals ein Ziel zu erreichen.
Hinfallen. Aufstehen. Hinfallen.

„Du bist nicht Dolores."
Für jeden anderen wäre diese Aussage von Casmiel unlogisch, vor allem nachdem er diese Information bekommen hatte. Vor allem nachdem ihm gesagt worden war, dass er zu seiner Familie kommen würde. Doch für Casmiel stand eines fest: Das war nicht Dolores.

Er kannte sie. Sie war nicht so klar und unkompliziert. Sie war sein Anfang, der niemals endete. Sein Fluch, da er immer wieder zu ihr zurückkam, egal wie weit er gerannt war. Sie war sein Leben. Sein Grund zu Sterben. Sein Herz. Seine Seele. Sein ganzes Wesen.

Doch das hier war nicht Dolores. Sie sah aus wie Dolores. Wie eine perfekte Kopie. Doch sie war es nicht.

Die Kopie lächelte nur sanft und entfernte ihre Hand von Casmiels Knie.
„Du hast es erkannt. Bemerkenswert. Ich bin nicht Dolores. Und das hier ist nicht Eirene. Wir sind jegentlich Erinnerungen, die dich in das Ende begleiten werden." Erklärte die Kopie, nein, die Erinnerung, behielt jedoch ihre Form.

Doch sie flackerte nun. Nur kurze Lichtblitze, doch das Bild war klar. Eine Schusswunde in ihrer Brust, Blut bedeckte ihre Kleidung. Leere Augen. Blasse Haut. Tod.
Cas wich zurück und musterte sie misstrauisch, zweifelnd, bis er realisierte, was hier gerade passierte. Bis er realisierte, wo er war. Wo er hin gehen würde.

„Ins Ende. Also bin ich gestorben?" fragte Casmiel nur trocken, nicht sonderlich emotional angetan von diesem Fakt. Wenn man so oft über die Linie des Todes stolperte, wie er es tat, dann begann ein Ende sich nicht mehr wirklich wie ein Ende anzufühlen.

„Könnte man so sagen. Es kommt darauf an. Der Tod ist viel komplizierter als ihr Sterblichen begreifen könnt. Euer Glaube muss bedacht werden, Erinnerungen gefiltert, Szenen gespielt. Es ist wie eine Szene in einem Buch, geschrieben von einem unbekannten, übermächtigen Autoren, den nicht einmal wir Erinnerungen kennen. Unser Wissen ist begrenzt. Ebenso wie das deine," die Erinnerung zuckte nur mit den Schultern und lächelte schief. Es war nicht Dolores' Lächeln.

Eine träge Stille folgte auf diese Erkenntnis, nur durch den leisen Radio durchbrochen, der noch immer dasselbe Lied spielte, zu dem Aspen zuvor gegrölt hatte. Zumindest ging es ihnen gut. Das war die Hauptsache. Aber-

„Der Anruf. Charon. Ist er...?" Casmiel schluckte leicht und atmete zitternd ein, „...tot?"

„Ist er. Großartig, nicht? Ich sehe in deinen Erinnerungen, dass er nicht sonderlich gut zu dir war. Ich kann mir vorstellen, dass dir gerade ein Stein vom Herzen fällt, nicht wahr?" meinte die Erinnerung euphorisch nickend, während Casmiels Augen ihren Glanz verloren.

„Ja. Großartig." Waren seine leeren Worte, fern von jeglichen Gefühlen, ein kühler Hauch gemischt mit purer Verbitterung. Schmerz.

Doch die Erinnerung schien diesen nicht zu bemerken, denn sie nickte nur und drehte sich wieder vor. Stille übernahm das Auto und erdrückte die Stimmung zunehmend. Casmiel hatte nicht vor sie zu durchbrechen. Er hatte auch nicht vor jetzt etwas zu verändern. Gegen den Tod kam selbst er nicht an. Das Ende konnte er nicht umschreiben. Er konnte nichts. Nutzlos. Nichtsnutz. Wertlos.

„Oh" murmelte die Dolores-Kopie und sah verwirrt zu der Eirene-Kopie, die ihren Blick ebenso verwirrt erwiderte, „wie es scheint, will dich noch jemand sehen, bevor du endest."

Sie drehte sich erneut um und sah Casmiel mit einem leichten Lächeln an, als wäre alles vollkommen normal, doch er bemerkte ihre Zweifel, ihre inneren Fragen, die sich um ihn drehten. Ihr Blick verriet, dass irgendetwas nicht nach Plan verlief, sie jedoch nichts dagegen tun konnte.

„Wir sehen uns bald wieder, Casmiel. Dein Ende wartet auf dich. Bis bald," mit diesen Worten riss die Kopie von Eirene das Steuer herum, ließ die Reifen des Wagens quietschen und den Wagen herumwirbeln. Panisch krallte sich Casmiel an irgendetwas fest, bohrte seine Nägel in den weichen Sitz und spürte sein Bewusstsein abdriften. Tief in das dunkle Reich der Ohnmacht. Des Schlafes. Der Ungewissheit.

Er legte sein Leben in die Hände des Todes undvertraute auf diesen, ihn am Leben zu erhalten.

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