Kapitel 35

[Verluste; Akt 2]

~Zweiter Akt des Endes~

Calliopeia Athina Tripe

Als Calliopeia Tripe ihren Ehemann tot am Boden liegen sah, summte sie ein Lied. Ihr Hochzeitslied. Als sie zusammen über den teuren Marmorboden des Ballsaals geschwebt waren, sie in seinen Armen geflogen war und endlich den Namen des Mannes angenommen hatte, den sie so sehr liebte.

Als Calliopeia Tripe ihre Ehemann tot am Boden liegen sah, mit rotem Blut bedeckt, menschlicher als je zuvor, schöner als je zuvor, weinte sie keine Tränen. Sie lächelte. Ein sanftes Lächeln, wie es immer auf ihren geschwungenen Lippen lag, mit abwesenden Augen, die in eine andere Realität sahen, die nicht die ihre war. Eine Realität, in der Charons Kopf auf ihre Schoß weilte, sie durch seine goldenen Haare strich, einen Kuss auf seiner Stirn hinterließ und ihm ein Lied vorsummte. Ihr Hochzeitslied.

Als Calliopeia Tripe ihren Ehemann tot am Boden liegen sah, tat sie genau das. Sie legte seinen Kopf auf ihren Schoß, strich durch die blutgetränkten Strähnen seinen dreckig-blonden Haares und summte ihm ein Lied vor. Ihr Hochzeitslied.

Sie hatte gespürt, als er seinen letzten Atemzug getan hatte. Als er sein letztes Wort sprach. Sie hatte gewusst, dass es sein Ende war. Und somit auch ihres.

Calliopeia war in ihr Zimmer gegangen und hatte letzte Vorbereitungen getroffen. Sie würde endlich mit ihrer Familie zusammen sein. Mit ihrem geliebten Ehemann, ihrem Sohn Caspian, ihrer Tochter Cassiopeia und natürlich ihrem Liebling, Casmiel. Sie würde endlich ihre perfekte Familie bekommen, von der sie jeden Tag geträumt hatte. Ihre perfekte Familie, die nur noch auf sie wartete. Am Ende.

Sie hatte den Knoten gebunden, das Seil an ihrem Bettrahmen befestigt, die Schlinge um ihren Hals geschlungen und sich auf den Stuhl gestellt.

Sie hatte ein Lied gesummt. Ihr Lieblingslied. Ihr Hochzeitslied.

Und dann war sie gefallen.

Dann war sie gefallen.

Zusammen.

Vereint.

Bei ihrer Familie.

Bis zum Ende.


Icarus Athena Caysila Tripe

Icarus liebte Charon wie man einen Vater nur lieben konnte. Er war nicht ihr Vater, das war ihr mehr als nur bewusst, doch das hielt sie nicht davon ab ihn zu lieben. Er war da gewesen, als jeder andere sie fallen gelassen hatte. Er war da gewesen, hatte ihre Scherben eingesammelt und sie als ein Kunstwerk gesehen. Er war da gewesen, hatte die Schönheit in ihrem Schmerz gesehen und sie angenommen. Er hatte ihn geliebt, als sonst niemand in der Lage dazu gewesen war.

Icarus war Charon dankbar. Sie würde für ihn sterben, seine Flügel wieder und wieder verlieren und seine Befehle blind befolgen. Sie sah in Charon einen Helden. Ihren Helden. Sie sah etwas besonderes. Ein Ziel.

Sie wollte so mächtig werden, wie Charon es war. Sie wollte Leute in die Flucht treiben, nur weil man ihren Namen hörte. Heere befehligen, Armeen bezwingen und dennoch geliebt werden. Sie wollte das Leben eines Tripe.

Deshalb konnte Icarus Casmiel nicht verstehen. Er weigerte sich seinem Namen anzugehören. Diesem heiligen, wunderbaren Namen, der ihm seit seiner Geburt zustand, nicht erst seit ein paar Jahren. Diesem heiligen, wunderbaren Namen, den er so hasste. Diesem heiligen, wunderbaren Namen, den er nicht tragen wollte.

Icarus war kein Idiot. Er bemerkte, dass Casmiel einen höheren Stellenwert hatte als sie. Schließlich war Cas Charons Sohn. Sein Meisterwerk. Doch Casmiel hatte die Familie im Stich gelassen. Er hatte seinen Vater ihm Stich gelassen. Alles, was Icarus so sehr wollte.

Vielleicht konnte Icarus Casmiel deshalb weder hassen noch lieben. Er konnte seine Taten nicht verstehen, sie jedoch auch nicht verteufeln, da er das große Ganze nicht kannte. Weder Charon noch Casmiel hatte je über das gesprochen, dass sie letztendlich zerbrochen hatte.

In Icarus' Sicht gibt es keine größere Liebe, als familiäre Liebe. Sie übersteht Krisen, Fehlschläge, Schlaglöcher, Gräben, Risse, Neustarts, Enden, Herzschmerz, Schläge, Schicksäle, Krankheiten und sogar den Tod. Familien zerbrechen, doch sie finden sich wieder. Geschwister streiten, würden jedoch füreinander durchs Feuer gehen. Eltern achten auf das Wohlergehen ihrer Kinder, selbst wenn es bedeutet, Schmerzen auszuhalten.
Natürlich waren Familien nicht immer perfekt. Icarus' Vater hatte sie weggegeben, nur weil er ihr Geschenk nicht gemocht hatte. Doch obwohl es nicht der perfekte Anfang gewesen war, was Icarus jetzt wieder mit ihrer Familie vereint. Hatte ihren Namen gefunden. Ihre Bestimmung.

Deshalb verstand Icarus, wieso Charon seinen Sohn bei sich haben wollte. Wieso er ihn vermisste, obwohl sie Feinde waren. Rivalen. In einem Schachspiel, dass niemand wirklich verstand, außer sie beide. Sie, die die Wahrheit hinter all dem kannten. Vielleicht war Icarus nur eine Schachfigur, die beliebig herumgeschoben werden konnte, doch das war egal, solange er seinem Spieler vertraute. Und das tat Icarus. Sie vertraute Charon.

Sie wollte ihn nach ihren nächsten Schritten fragen. Was als nächstes passieren sollte. Auf welches Feld Icarus als nächsten geschoben werden würde.

Doch als Icarus an die große Türe von Charons Büro klopfte, erhielt sie keine Antwort. Nur Schweigen.

Vielleicht war Charon im Moment beschäftigt. Schließlich hatte er wichtigen Besuch. Er war schließlich jetzt der Präsident. Das war nicht selten. Doch meistens kam dann wenigstens eine Antwort. Irgendetwas. Nicht dieses Mal.

Icarus horchte an der Tür. Keine Stimmen. Nicht einmal gedämpft. Nichts kam durch die massiven Türen, doch auch nicht durch das Schlüsselloch, durch das man normalerweise wenigstens unverständliches Gemurmel hören konnte. Doch da war nichts.

Panik stieg in Icarus auf. Schließlich war Charon seine wertvollste Familie. Sie liebte ihren Onkel mehr als irgendjemanden anderen. Mehr als Kalea. Deshalb hatte Icarus sie auch verlassen. Um bei Charon zu sein und seine Pläne auszuführen. Um ein Tripe zu sein, wie es sein Geburtsrecht war. Ein Teil der Familie.

Sie stieß die Türe auf indem sie ihr ganzes Gewicht dagegenstemmte und sie mit ihrer Stärke aufstieß, beinahe sogar aus den Angeln riss. Es war ihr egal, in diesem Moment gab es nur Charon.

Vielleicht hätte sie bemerkt, dass die Türe nie abgeschlossen war oder dass sie nie probiert hatte, die Türe normal zu öffnen, doch als sie das Zimmer betrat, lief alle Farbe aus Icarus' Gesicht. Kreidebleib starte sie auf den leblosen Körper auf dem Boden, umgeben von rotem Blut, seinem Blut. Es hatte schon aufgehört zu rinnen, sein Puls war schon längst erstorben. Er war tot.

Charon Tripe war tot.

Er lag da, mit befleckten Haaren und weit aufgerissenen Augen, die jedoch ins Leere starrten. Kein charmantes Lächeln auf seinen Lippen, seine Regung in seinem Gesicht. Nichts.

Icarus stürzte nach vorne und hob Charons Körper behutsam auf seinen Schoß. Den Schmerz, der in seinen Knien aufgekommen war, ignorierte er einfach. Er existierte gar nicht mehr und wurde vollkommen ausgeblendet, von dem Adrenalin, dass in ihr aufstieg.

Sie strich ein paar wilde Strähnen von Charons Stirn. Schließlich hätte er es gehasst, wenn seine Haare nicht perfekt gewesen wären. Er hätte es auch gehasst, dass sie von Blut befleckt waren und zerzaust. Er würde hassen, dass er am Boden lag, wie ein gewöhnlicher Mensch. Er würde hassen-

Icarus hasste es. Sie hasste, dass seine Haare in seine Stirn flogen. Sie hasste, dass sie von Blut verklebt waren. Sie hasste, dass er am Boden lag.
Denn all diese Dinge zeigten, dass er tatsächlich tot war. Dass Charon tatsächlich gestorben war, wie sie es nie für möglich gehalten hatte.

Tränen tropften von ihren Wangen auf Charons Gesicht und Icarus wusste, dass er das gehasst hätte. Er hätte Tränen gehasst. Icarus sollte nicht weinen. Er war ein Krieger. Ein Kämpfer. Er sollte nicht weinen. Durfte es nicht. Charon würde es hassen. Er würde ihn hassen. Das durfte nicht passieren.

Icarus hatte doch so viel gegeben. Sie konnte nicht wieder alles verlieren. Sie hatte alles gegeben. Alles. Sie konnte nicht schon wieder verlieren. Nie wieder. Sie konnte nicht.

Charon hatte sie stark gemacht. Er hatte sie zu etwas gemacht. Etwas wertvollem. Ohne ihn war sie wieder allein. Schwach. Wertlos. Sie konnte ihn nicht verlieren. Niemals.

Sie musste Charon stolz machen. Stolz. Und wie sollte er jemals stolz auf sie sein können, wenn sie emotional war? Ein Tripe war nicht emotional. Emotionen waren Schwäche. Icarus durfte nicht schwach sein. Niemals. Niemals. Nein. Niemals.

Sie wischte sich also die Tränen von den Wangen und von Charons Gesicht. Sie wischte ihm auch noch ein paar chaotische Strähnen aus dem Gesicht. Schließlich war ein Tripe immer perfekt. Bis in den Tod.

Sanft strich Icarus noch einmal über Charons blutbefleckte Wange und schloss dann seine glasigen Augen. Kein Schluchzen entkam seiner brennenden Kehle, die danach schrie, endlich loszulassen, den Kloß zu lösen, den Icarus vorgeschoben hatte um jedes noch so kleine Geräusch der Schwäche zu unterdrücken. Zu ersticken. Er ließ keine Schwäche zu, seine Tränen schienen zu trocken und sein zuvor geschockter Ausdruck wurde apathisch, als würde ihr Blick einfach an Charons Leichnam vorbeigehen.

Icarus entfernte sich von dieser Welt. Sie entfernte sich von ihren Emotionen und hinterließ eine Hülle. Es war, als würde sie auf sich selbst herabschauen. Auf ihren Körper, der Charons Leiche auf dem Schoß hatte und gefühlslos an ihm vorbeistarrte. Als wäre alles nur ein Traum. Alles nicht real.

Nicht einmal als ein Klopfen an der Tür ertönte riss es Icarus aus seiner dissoziativen Trance. Er blieb entfernt von jeglicher Schwäche, die sie in diesem Moment überholen könnte.

„Herein," sagte er nur leicht zu der Person, die geklopft hatte und herein kam ein Dienstmädchen mit hellbraunen Haaren. Icarus hatte sich noch nie für ihren Namen interessiert.

Sie wollte etwas sagen, doch da fiel ihr Blick auf das Blut und die Leiche von Charon. Ein geschocktes Wimmern entkam ihren Lippen und sie schlug ihre Hand vor den Mund, die Augen weit aufgerissen und einen Schritt zurücknehmend, als würde sie das Bedürfnis haben zu rennen.

Schwäche. Kein Tripe. Schwäche. Emotionen. Icarus erhob sich über dieser Schwäche. Sie ließ sich nicht herab auf das Niveau einer Sklavin. Sie würde es nie wieder tun. Nie wieder.

„Was willst du?" fragte Icarus ruhig, keine Regung auf ihrem Gesicht zu finden. Nur absolute Distanz. Absolute Emotionslosigkeit. Absolute Perfektion.

„Mi- Miss Calliopeia Tripe...sie ist..." weiter kam die Sklavin nicht. Ihre Stimme brach, sie verstummte. Schwäche. Gefühle. Schwäche. Sklavin. Sklavin. Sklavin.

Nie wieder würde Icarus eine Sklavin sein. Nie wieder würde sie so sein, wie die Dienerin. Nie wieder würde sie weniger sein, als perfekt. Nie wieder.

„Tot? Das wolltest du doch sagen, oder? Tot. Calliopeia ist tot. Das war zu erwarten," antwortete Icarus kühl und hob Charons leblose Gestalt sanft auf den Boden, bevor sie sich aufrichtete und ihre blutigen Hände an ihrer Hose abwischte. Sie sah zu der Sklavin und nickte nur.

Calliopeia war schwach. Keine richtige Tripe. Casmiel hatte seine Schwäche wohl von ihr. Denn von Charon konnte sie nicht stammen. Charon war Perfektion gewesen. Niemals schwach.

„Das war das Werk eines Killers. Der Schnitt ist präzise und schnell geführt. Kein gewöhnlicher Mensch würde jemanden so töten, geschweige denn ungesehen in Charons Anwesen kommen, ohne gesehen zu werden. Es war Aspasia Tripe. Schick Briefe an alle Tripes aus. Sie werden zur Beerdigung von Charon und Calliopeia Tripe eingeladen. Wir müssen außerdem weitere Schritte planen, jetzt, da mein Onkel verstorben ist. Die Öffentlichkeit darf davon nichts erfahren. Niemand darf das. Nicht bevor wir eine Lösung für unser Problem gefunden haben. Einen Nachfolger. Einen Erben" bei diesen Worten schlich sich ein leichtes Leuchten in die sonst trüben Augen von Icarus, doch dieses erstarb sofort wieder in völliger Apathie.

„M-miss Tripe," meldete sich die Sklavin erneut, zurückhaltend und vorsichtig, ihre Schultern alarmiert angespannt und den Blick gen Boden gerichtet. Schwäche. „Wird diese Beerdigung ebenso für Casmiel Tripe gelten?" fragte sie zaghaft und Icarus wurde aufmerksam.

„Wie bitte?" fragte sie bedrohlich leise nach, den Blick überlegend nach vorne gerichtet, die Sklavin nicht ansehend.

„Casmiel Tripe...er war hier. Er wollte mit Mister Charon sprechen. Nach dem Gespräch hat der Hausherr mich gebeten, mich um das Verlies zu kümmern, um Mister Casmiels Aufenthalt vorzubereiten. Das war vor Tagen. Und der junge Herr war schwer verletzt als er die Kammer betreten hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das überleben konnte," erklärte die Sklavin gefasster als zuvor, auch wenn ihre Augen noch immer geschockt nach unten starrten und sie sich zwang, nicht auf die Leiche zu sehen.

Kurz erfüllte Schweigen den Raum, bis Icarus anfing zu lächeln. Ein charmantes Lächeln, dass nicht ihre entfernten Augen erreichte, die noch immer nicht den kleinsten Hauch ihres einstigen Glanzes zurückgewonnen hatten.

„Perfekt. Schicke die Einladungen für die Beerdigung an die Tripes. Jeden von ihnen. Erwähne ebenso, dass ein neuer Erbe benötigt wird und sie sich hier einfinden sollen. Richte den anderen Sklaven aus, dass sie die Leichen von Calliopeia und Charon für die Feier vorbereiten sollen. Ich will, dass das ganze Haus sauber ist für unsere Gäste. Ich kümmere mich um den Rest. Nun geh. Erledige deine Aufgabe." Es war ein scharfer Befehl und die Sklavin verbeugte sich nur leicht, bevor sie schon wieder verschwinden wollte, jedoch zögerte, bevor sie die Türe hinter sich schloss. 

"Und...Casmiels Leiche...Miss?" fragte sie zögerlich und Icarus' eiskalter Blick landete auf ihr. 

"Ich sagte, ich kümmere mich um den Rest. Verschwinde." zischte Icarus nur und die Sklavin nickte schnell bevor die Türe endlich geschlossen wurde und sie alleine ließ.

Icarus würde nie wieder schwach sein. Sie würde nie wieder emotional sein. Sie würde nie wieder eine Sklavin sein. Nie wieder. Sie war eine Tripe. Eine Nachkommin des großen Charon Asklepios Tripe. Sie war kein Mensch. Sie war mehr und genau das würde sie beweisen. Sie würde allen zeigen dass sie der rechtmäßige Erbe der Tripes war.

Sie würde zeigen, dass sie perfekt war.

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