Kapitel 34

[Perfektion; Akt 1]

~Erster Akt der Perfektion~

Eineinhalb Jahre nach Casmiels Verschwinden

Casmiel war hier. Er war endlich hier, vor der Haustüre, hinter der sein Bruder leben sollte.

Er wusste, was er zu erwarten hatte. Er wusste, dass er seinen Bruder sehen würde, sobald er die Klingel betätigen würde. Doch es war dennoch schwer. Er konnte nicht.

Er konnte es nicht, da er Caspian seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und seine Erinnerungen an ihn nicht gerade glücklich waren. Im Gegenteil. Er kannte nur Gewalt und Hass von Caspian. Keine Liebe. Wieso sollte es nun also anders sein?

Caspian hatte Casmiel noch nie leiden können. Er war ihm ein Dorn im Auge gewesen. Schließlich hatte er seine Zukunft als Erbe ruiniert. Er hatte alles ruiniert und jetzt schien Casmiel ihn besser zu verstehen als jemals zuvor.

Früher hatte er es nicht gewusst. Er hatte nicht gewusst, wie süchtig Charon ihn gemacht hatte. Wie abhängig er von seinem seltenen Lob und seiner generellen Anwesenheit geworden war. Er hatte es erst bemerkt, als er es nicht mehr gehabt hatte.

Nun wusste er, wie Caspian sich sein ganzes Leben lang gefühlt hatte. Er wusste, wieso er ihn gehasst hatte. Er verstand es.

Er selbst hasste Aspen manchmal. Oder Icarus. Sie beide waren nun die geplanten Erben und sollten sich darum bekriegen, doch Casmiel war aus dem Stammbaum gebrannt worden, genauso wie Caspian damals. Er hatte keinen Wert mehr, keinen Namen. Jetzt war Casmiel nur noch eine Erinnerung, an jemanden, der etwas werden hätte können.

Deshalb wollte er mit Caspian reden. Er wollte sich entschuldigen. Entschuldigen, da er nie verstehen konnte.

Er klingelte. Das Geräusch drang sogar durch die Türe und Casmiel hörte Schritte sich nähern. Sie näherten sich der Türe und er spannte sich an.

Was, wenn Caspian ihn noch immer hasste? Was, wenn das alles hier ein großer Fehler war?

Doch als die Türe sich öffnete, stand dort nicht Caspian. Es war eine junge Frau mit asiatischen Zügen. Ihre Haare waren dunkel, ebenso wie ihre Augen, die Casmiel freundlich aber zugleich verwirrt ansahen. Irgendwo schwebte auch Vorahnung, doch sie begegnete ihm dennoch mit einem Lächeln.

„Kann ich etwas für Sie tun?" fragte sie und sah Casmiel an. Zwar war sie etwas kleiner als er, doch nicht besonders viel. Casmiel wusste nicht, wie er antworten sollte.

Er spürte eine seltsame Gefühlslage von ihr. Vorsicht und sogar Wut, doch zugleich auch Hoffnung.

„Äh...ja. Ich- entschuldigen Sie. Aber lebt hier ein gewisser Caspian Tripe?" fragte er höflich, doch seine Stimme stockte dennoch etwas als er diese Worte äußerte.

Die Frau schien nun vollkommen zu begreifen und nickte langsam.
„Sie sind einer der Tripes, nicht?" fragte die Frau nun etwas zurückhaltender und ihr Lächeln war verschwunden.

Bevor Casmiel antworten konnte, trat noch jemand zu ihnen und Casmiel wandte seinen Blick von der Frau ab um in himmelblaue Augen zu starren, die denen seiner Mutter schrecklich ähnelten.

Der Mann hatte dunkelblondes Haar, das in der Sonne wie Honig glänzte. Seine Züge waren elegant aber scharf und er war wirklich attraktiv. Er war groß, größer als Casmiel, und muskulös. Man konnte sehen, dass er trainierte und in wirklich guter Form war.

Die Stille war angespannt. Die beiden Männer sahen sich an, verschiedene Emotionen blitzten in ihren Augen auf, doch ansonsten änderten sich ihre Mienen nicht.

Die Frau sah besorgt zu dem Mann hinter ihr und legte beruhigend ihre Hand auf seine Brust.
„Caspian. Ist alles okay?" fragte sie leise und strich sanft über seine Brust. „Ich hole den Besen und verscheuche den Bastard, wenn er dir wehtun will! Ich werde nicht zulassen, dass du dorthin zurück musst, Schatz" versprach sie ihm und Casmiel Herz brach ein Stück, als er das hörte.

Das war also wirklich Caspian. Sein Bruder. Und er sah Casmiel möglicherweise als eine Gefahr an.

Die Stille blieb jedoch. Caspian ließ Casmiel nie aus seinen Augen. Inzwischen hatte er sich auf eine Emotion festgelegt und es war Verwirrung.

„...Casmiel?" fragte er dann plötzlich, sanfter als Cas es erwartet hatte und er nickte nur stumm.

Dann geschah etwas, das Casmiel niemals erwartet hätte.

Caspian trat an der Frau vorbei und schloss ihn in seine Arme.

Er umarmte ihn.

Caspians Umarmung war warm und stark. Sicher. Er hatte eine Hand in Casmiels Haaren vergraben und dort verankert, als hätte er Angst, dass Casmiel seinem Griff entrissen werden könnte. Seine andere Hand hielt seine Schulter fest und er hatte seinen Kopf in Casmiels Hals gedrückt.

Casmiel war zuerst geschockt von dieser vollkommen unerwarteten und plötzlichen Geste, doch dann legte er zögerlich die Arme um Caspian und strich über seinen Rücken.

Die Frau hatte bei der Erwähnung seines Namens die Augen leicht aufgerissen und lächelte nun. Sie war nicht mehr angespannt oder bereit, ihn anzugreifen. Sondern wieder sanft und willkommen heißend.

„Ich dachte, ich hätte niemals die Chance, mich für meine Fehler zu entschuldigen" hauchte Caspian überwältigt und Casmiels Herz brach erneut. Er wollte sich entschuldigen. Caspian wollte sich tatsächlich entschuldigen. Er, der Casmiel angegriffen hatte, nur weil er in eine Familie geboren worden war, die ihn zu einem Monster ausbilden wollte. Nur, weil er Caspians Platz übernommen hatte.

„Ich...ich konnte nicht zurück. Ich- ich habe dich so gehasst. Und als ich ging...als ich ging, wollte ich nicht mehr an dich denken und- und an Dad. I-ich wollte...ich wollte vergessen" hauchte Caspian überwältigt und Casmiel war geschockt. Caspian hatte nie so viele Emotionen gezeigt. Nur Wut und Abscheu. Niemals...so etwas. Reue, Trauer. Liebe.

Die Frau legte ruhig eine Hand auf seine Schulter und strich sanft darüber. Dann fiel ihr Blick auf Casmiel und sie lächelte einladend.
„Komm doch herein. Ihr solltet miteinander sprechen" meinte sie und Casmiel nickte.

Caspian ließ seine Hand nie los, als er ihn in die Küche führte, in der er sich zum recht großen Esstisch setzte und sich interessiert umsah.

Sie war ganz anders als Casmiels Küche, als er in Fairfield gelebt hatte.

Diese Küche war groß und geräumig. Sie hatte mehrere Kochflächen, ein Waschbecken und einen Kühlschrank. Die Einrichtung war recht gewöhnlich, doch dann kamen die kleinen Details, die alles veränderten.

Am Kühlschrank waren Bilder angebracht, die aussahen, wie Kinderzeichnungen. Bunte Magnete in verschiedenen Formen hielten sie dort fest. Die Wände waren voll mit Bildern. Selbstgezeichnet oder fotografiert. Eines der Bilder stach Casmiel sofort ins Auge.

Es war eine Familienfotografie, doch sie war ganz anders, als die Familienportraits, die er mit seiner Familie gemacht hatte. Diese Fotografie war lebhaft und bunt. Es zeigte Caspian, der ein kleines Mädchen mit seinen honigblonden Haaren hochhob und ein breites Lachen im Gesicht hatte. Daneben war die asiatische Frau, die die beiden lächelnd betrachtete und an ihrer Hand ein weiteres Kind, einen kleinen Jungen, hielt, dass an ihrer Hand zog, als wöllte es sie auf etwas anderes aufmerksam machen. Die Frau schien aber auch schwanger zu sein.

Unweigerlich musste Casmiel lächeln. Das Bild war wunderschön, obwohl es nicht perfekt war. Es war nicht ernst und festgelegt. Niemand hatte fixe Plätze und es war erlaubt zu lächeln. Es war freiwillig und real.

„Das ist meine Familie. Du hast meine Frau, Nieva, schon kennengelernt. Auf dem Bild sind meine Kinder, Reyner und Evalita. Vor einem Jahr kam noch Matilda. Sie sind meine größten Schätze" erzählte Caspian und Casmiel sah ihn wieder an. Er schien seinem Blick gefolgt zu sein, denn seine Augen waren auf das Bild gerichtet und ein kleines, stolzes Lächeln zierte seine Lippen.

„Du- du hast eine Familie aufgebaut?" fragte Casmiel leise und Caspian nickte leicht, bevor sein Blick wieder zu Casmiel fiel.

„Es ist viel passiert. Als ich weglief von Zuhause, hatte ich Angst. Ich dachte, er würde nach mir suchen und ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn er mich finden sollte. Also habe ich mich versteckt. Ich bin nie lange an einem Ort geblieben und das ewige Wandern hat mich wahnsinnig gemacht. Irgendwann habe ich realisiert, dass er mich nicht sucht. Ihn hat es nicht einmal interessiert, dass ich verschwunden war. Schließlich war ich nicht mehr von wert für ihn. Also habe ich aufgehört mich zu verstecken und mein Leben geführt" meinte er nur schulterzuckend und Casmiel hörte interessiert zu. Er hatte nie daran gedacht, wie Caspian sich fühlen musste, nachdem er verschwunden war. Er war zu verletzt gewesen. Schließlich war er verlassen worden von der Person, von der er gedacht hatte, dass er ihn beschützen würde.

Caspians Blick senkte sich und Reue füllte seine einst leuchtenden Augen, als würde er sich an etwas erinnern.

„Aber ich konnte kein Leben führen. Er hat zu viel von mir kaputt gemacht. Ich bin in Las Vegas gelandet und habe dort mein Geld verspielt. Ich wurde drogenabhängig und spielsüchtig. Mein Leben hatte schließlich keinen Wert mehr, da ich den Namen ‚Tripe' abgelegt hatte. Ich konnte ihn nicht mehr tragen. Dann traf ich Nieva. Sie war in derselben Situation wie ich und wir wussten beide, dass wir in unseren Problemen versanken, doch zumindest haben wir es gemeinsam getan. Und irgendwie konnten wir uns retten. Wir haben uns gemeinsam geholfen, anstatt uns tiefer ins Verderben zu ziehen und wurden glücklich gemeinsam. Als wir unseren Sohn, Reyner, bekamen, waren all unsere vergangenen Fehler Geschichte" erzählte und er gerade als Nieva zum Esstisch trat und den beiden Männern eine Tasse mit heißem Tee hinstellte.

Caspian lächelte sie dankbar an und Casmiel konnte seine Liebe spüren, die er für sie empfand, ebenso die Liebe, die sie für ihn fühlte. Wenn Seelenverwandte tatsächlich existieren sollten, dann war Casmiel sich sicher, dass diese beiden füreinander bestimmt waren.

Nieva ging wieder nachdem sie Caspian einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte und sie waren wieder alleine.

„Ich habe es irgendwie geschafft, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen, aber meine Familie hat mich nie in Ruhe gelassen. Der Gedanke an dich und Cassiopeia hielt mich wach. Wie- wie ich dich behandelt habe...all meine Fehler" seine letzten Worte waren nur ein hauchen, leise und kaum hörbar.

Caspian legte seine leicht zitternde Hand auf Casmiels und sah ihm tief in die Augen.
„Es tut mir so leid. Ich- ich war jung und absolut idiotisch. Ich dachte, du wärst der Grund dafür, dass ich alles verloren habe, doch eigentlich konntest du nie etwas dafür. Es war seine Schuld. Er hat mich manipuliert damit ich dich hasse und ihm bei seinen kranken Traditionen helfen würde. Ich- ich habe mich selbst gehasst dafür. Für alles, was ich dir angetan habe. Das war falsch und- und ich weiß das jetzt" er atmete tief ein und sein Blick landete auf dem Tisch vor ihm.

„Ich bin einmal zurückgekommen. Vor vielen Jahren. Als ich vor dem Haus gestanden bin, konnte ich nicht hineingehen. Die Erinnerung war zu viel für mich und- und ich war ein Feigling. Ich konnte nicht rein gehen ohne- ohne- ich weiß es auch nicht. Ich konnte es einfach nicht" meinte er seufzend und schloss seine Augen.

Casmiel wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte viel erwartet, aber nicht sowas. Er hatte nicht erwartet, dass Caspian ihn tatsächlich vermissen könnte. Sich entschuldigen würde. Er hatte erwartet, er würde ihn umbringen wollen, doch scheinbar war das vollkommen falsch gewesen. Caspian hatte sich verändert. Er war kein Tripe mehr und das war gut. Er hatte sich selbst gerettet.

Also begann er nun zu sprechen, die Stille zu beseitigen.

„Ich- ich habe es nie verstanden, wieso du mich nicht leiden konntest. Du warst für mich- naja, ein großer Bruder eben. Ein Vorbild. Ich habe dich vergöttert, doch du hast mich irgendwie immer gehasst. Ich habe alles getan, um dich zu beeindrucken, doch du- hast es nie akzeptiert" meinte Casmiel langsam und leise, doch bevor Caspian sich erneut entschuldigen konnte, fuhr er fort.

„Jetzt verstehe ich es. Charon- ich bin kein Erbe mehr. Ich wurde sozusagen aus der Familie verstoßen und- manchmal wünschte ich mir, die jetzigen Erben würden verschwinden. Ich wünschte, ich könnte sie umbringen und einfach- keine Ahnung. Er hat mich abhängig gemacht von sich selbst. Er hat mich dazu gebracht, ihn als ein Bedürfnis zu sehen und ich kann ihm nicht entkommen. Seine bloße Anwesenheit bringt mich schon dazu, meine Entscheidungen zu hinterfragen und zurück zu wollen, doch ich kann nicht. Ich verstehe dich also und es ist okay. Ich meine, ich bin vermutlich absolut traumatisiert von dir, aber ich kann deine Taten jetzt nachvollziehen und habe verstanden, dass es nicht deine Schuld war. Nichts davon." Sein unsicheres Lachen erstarb.

Stille. Erneut. Als würde Caspian etwas sagen wollen, doch nicht wissen, wie. Casmiel war sich ebenso unsicher. Er hatte nie mit diesem Treffen gerechnet. Nie mit dieser Möglichkeit jongliert. Er hatte Hass erwartet. Einen Tripe. Kein...Zuhause.

„Du kannst loslassen, Cassy. Eine Familie gründen, Freunde finden...glücklich werden. Du kannst das alles. Auch wenn du ein Tripe bist...auch wenn dieser verfluchte Name noch immer auf deinen Schultern lastet. Du bist nicht unfähig zu lieben. Auszubrechen. Ihm zu entkommen" meinte Caspian nur sanft und Casmiel hatte sich noch nie so verstanden gefühlt.

Er hatte Aspen und Theseus vielleicht erzählt, was er durchlebt hatte. Doch sie konnten es nicht verstehen. Sie konnten nicht verstehen, wieso Casmiel Angst hatte, eine Familie zu gründen. Wieso er sich Sorgen machte, dass er seinen Kinder dieselben Schmerzen weitergeben würde, wie sein Vater. Wieso er der Meinung war, dass manche Menschen niemals Eltern werden sollten.

Theseus hatte ihn zwar umarmt und gesagt, dass Casmiel ein guter Vater sein würde. Doch konnte er das tatsächlich? Konnte er einfach vergessen? Seinen Kindern eine normale Zukunft bieten, obwohl er so viel wusste. So viel Schmerz erlebt hatte?

Vielleicht war es nicht seine Bestimmung zu lieben. Vielleicht war er nicht dazu gemacht eine Familie zu gründen. Vielleicht war es nicht sein Weg, Kinder zu bekommen und diese aufzuziehen.

Caspian verstand diese Sorgen offensichtlich. Er hatte sie vermutlich noch stärker als Cas selbst, da er bereits den Schritt gewagt hatte, eine Familie zu gründen. Kinder zu bekommen.

Als könnte Caspian seine Gedanken lesen, ließ sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen sehen und er holte Luft.
„Ich bin nicht immer der perfekte Vater. Ich schreie manchmal...gebe ihnen die Schuld für meine Probleme. Sie werden vermutlich nicht wie normale Kinder sein. Wir werden nie eine normale Familie sein. Aber...ich liebe sie. Und sie lieben mich. Nieva ist da, wenn ich eine weitere Episode habe. Wenn ich wieder von Alpträumen geweckt werde oder einfach eine Auszeit von meinem normalen Leben brauche. Sie ist für mich da, wenn ich den Schmerz vermisse, der früher mein Leben gewesen ist. Und ich bin für sie da. Wenn sie zu viel trinkt und wieder eine trockene Periode braucht um nicht zurückzufallen. Ich bringe sie zu ihren Therapiestunden, wenn sie sich nicht gut fühlt. Ich erledige den Haushalt, wenn sie eine depressive Zeit durchmacht. Wir sind füreinander da. Das ist Liebe. Das Beste für einander wollen, auch wenn es manchmal etwas Schmerz erfordert. Den anderen daran erinnern, wieso man weiterleben muss. Weitermachen. Sich gegenseitig stoppen, wenn es zu weit geht und sich gegenseitig anschieben, wenn man stehen bleibt. Liebe ist nicht sich zu küssen oder Sex zu haben. Liebe ist nicht zusammenwohnen oder ein ‚Ich liebe dich' austauschen. Liebe ist, sich wohl zu fühlen. Sich zu helfen. Ein Gefühl. Mehr nicht."

Sanft drückte Caspian Casmiels Hand, die noch immer unter seiner lag. Er sah in die himmelblauen Augen seines Bruders und versuchte die Zweifel aus seinem Blick zu verbannen. Die Zweifel, ob er jemals genauso lieben konnte, wie sein Bruder es beschrieb.

„Charon hat mich zerstört, Casmiel. Genauso wie er dich zerstört hat. Cassiopeia. Mom. Wie er so viele Menschen zerstört hat. Trauma zerstört uns, Cas. Wir werden vielleicht nie wieder ganz sein, doch das müssen wir nicht. Wir müssen nicht perfekt sein. Für niemanden," sprach er sanft, doch es ließ Casmiels Zweifel nicht einfach verschwinden. Sie saßen zu tief, als dass ein paar Worte sie lösen konnten.

„Aber-" bevor Cas dieses Wort auch nur beenden konnte, schüttelte Caspian nur den Kopf, eine ernste Miene aufgesetzt, die Augen Stur und Stolz.

„Kein Aber. Ja, Charon war auch ein Opfer des perfektionierten Zerfalls. Ja, er hat gelitten. Doch das bedeutet nicht, dass es nicht seine Schuld ist. Trauma ist keine Entschuldigung für seine Entscheidungen, nur ein Grund. Du bist nicht er, Casmiel. Egal wie ähnlich ihr euch auch sein mögt, du wirst nie wie er sein. Du bist Casmiel Aradeon Tripe, erster deines Namens und der erste Tripe, der etwas verändern könnte. Der die Familie verändern könnte. Kämpfe nicht gegen die Lehre, die Charon dir mitgegeben hat. Kämpfe nicht gegen deinen Namen. Nutze ihn. Missbrauche ihn. Sei ein Tripe und sei stolz darauf," seine Augen waren ernsthaft und seine Lippen geschürzt, als würde er etwas weiteres sagen wollen, es sich jedoch noch einmal anders überlegen.
„Charon ist kein guter Mensch und schon gar kein guter Vater. Doch er ist ein unglaublicher Anführer, Stratege und Menschenkenner. Er ist ein perfektes Monster. Doch das bist du auch. Das bin ich. Das war Cassiopeia. Das sind Tripes. Es liegt uns im Blut. Es ist unser Erbe. Das Erbe der Tripes. Die Frage ist nur, wie wir dieses Erbe nutzen."

Casmiel hörte seinem Bruder aufmerksam zu und nickte schließlich. Ein perfektes Monster. Das könnte er sein. Perfekt. Ein Monster. Wie sein Vater und doch er selbst.
Casmiel Aradeon Tripe.

Tage nach Charons Tod

Caspian saß alleine am Küchentisch. Die Uhr zeigte vier Uhr morgens, draußen war es noch dunkel und der Kaffee, der vor ihm stand, war frisch gebrüht. Dunkle Augenringe fanden sich unter seinen himmelblauen Augen und seine Haare waren noch immer chaotisch durcheinander, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen. In seinen Händen war ein Brief, geschlossen durch ein dunkelblaues Siegel. Ein Drache als Zierde.

Nieva kam heruntergeschlichen, ihre Schritte zierlich und leise, sodass keine der alten Dielen des Hauses knarzen würden. Sie ging langsam zu Caspian und legte sanft ihre Hände um ihn, bevor sie einen Kuss auf seinen Scheitel drückte und über seine Schulter sah. Das Siegel ließ sie stocken.

„Ein Brief?" fragte sie nur, die Stimme leicht unsicher zitternd. Caspians Reaktion könnte extrem gefährlich sein, oder extrem ruhig. Es war schwer ihren Ehemann zu lesen. Das hatten die Tripes wohl so an sich. Nieva hatte keine Angst vor Caspian. Sie kannte und liebte ihren Ehemann. Sie vertraute ihm zu einhundert Prozent. Doch sie hatte Angst, vor den Nachrichten, die in diesem Brief stehen würden.

War er von Casmiel? Hatte er es geschafft und Charon von seinem grässlichen Thron gestoßen? Von seinem Familiensitz? Oder war es Charon selbst, der endlich beschlossen hatte, seinen Sohn für alle mal zu vernichten.

„Es ist nicht die Schrift meines Vaters." Waren Caspians einzige Worte, leer und fern, in Gedanken versunken, als würde er mit sich selbst kämpfen. Als würde er noch entscheiden müssen, ob er den Brief lesen oder verbrennen würde.

„Soll ich ihn lesen?" fragte Nieva sanft und setzte sich neben ihren Mann, während sie seine Hand in die ihre nahm und leicht massierte.

Caspian nickte nur hohl und gab Nieva den Brief. Sie brach das Siegel ohne auf die Verzierung des Drachens Rücksicht zu nehmen. An liebsten hätte sie den Brief generell zerstört, doch ebenso konnte sie die Neugierde nicht dämpfen, die in ihr aufkam.

Sie hatte viel von der Familie Tripe gehört. Ihr Ehemann hatte zwar lange gebraucht, doch irgendwann hatte er reinen Tisch gemacht und ihr von all den unmenschlichen Dingen erzählt, die ihm wiederfahren waren. Die seinen Geschwistern wiederfahren waren. Allen, die diesen verfluchten Nachnamen tragen. Jetzt hatte sie auch noch Casmiel kennengelernt, den Bruder von Caspian und hatte erstmals gesehen, wie gut die Maske eines Tripes tatsächlich sein konnte.

Vorsichtig zog sie den Brief aus seinem Kuvert und entfaltete ihn. Sie behandelte das Stück Papier wie eine scharfe Bombe und vielleicht war es das auch. Ein Mittel von Charon um Caspian zurückzubringen. Von ihr zu nehmen.

Langsam begann sie die Worte zu lesen und ihre Augen wurden groß. Sie schlug eine Hand vor ihren Mund und sah zu ihrem Ehemann, der nun seinen apathischen Blick verloren hatte und panisch zu ihr sah, bereit, den Brief aus ihren Händen zu reißen und zu zerstören.

Sie konnte kein Wort sagen, sondern reichte Caspian nur den Brief. Er las die Worte. Er begann zu weinen. Er ließ den Brief fallen.

Schluchzend fiel er in die Arme seines Frau, die ebenso weinte und ihn fest an sich drückte.

Der Brief segelte zu Boden, die verschlungenen Buchstaben schienen in dem dimmen Licht der alten Küchenlampe zu glimmen.

Dort geschrieben war ein kurzer Text. Nur ein paar Worte. Eine Einladung.

Eine Einladung zu dem Begräbnis von Charon Asklepios Tripe und seinem Sohn, Casmiel Aradeon.

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