Kapitel 33
[Verluste; Akt 1]
~Erster Akt des Endes~
Das Ende fühlte sich unwirklich an.
Jeder bemerkte das, als Aspen in den Raum trat. Ihre Finger blutgetränkt. Ihre Augen leer und starr, als hätte sie etwas im Blick, doch es war weit entfernt.
Ihre Hände zitterten. Zuckende Bewegungen ließen sie zusammenziehen bevor sie erneut anfing gleichmäßig zu zittern.
Tränen waren in ihren Augen, doch sie flossen nicht. Noch nicht. Als würde sich der Damm erst füllen und in Kürze überfluten.
Ihr Atem war stoßweise, noch nicht ganz panisch, doch erschwert und ebenso zittrig wie ihre Hände es waren.
Als sie durch die Türe trat, stürzte Liope sofort besorgt zu ihr, sprang achtlos über den Tisch und warf einen Stuhl um, der in seinem Weg war, bevor er zu ihr trat, sanft eine schwarze Locke aus ihrem Gesicht wischte und ihren Kopf leicht anhob, damit sie ihn ansah, nicht an ihm vorbei. Zwar fokussierten ihre Augen sich nicht, doch wenigstens konnte Liope ihr Gesicht sehen.
„Ass. Was ist passiert? Komm, rede mit mir. Welchen Bastard muss ich umbringen? Was hat Charon dir angetan?" fragte Liope mit einem knurrenden Unterton in seiner Stimme, die vor Wut überquoll, jedoch für Aspen ruhig blieb. Man konnte ihm ansehen, dass er kurz davor war loszustürmen, um den Verantwortlichen kaltblütig zu ermorden.
„Nichts" antwortete Aspen nur tonlos. Ihre Stimme war in etwa so emotional wie ein Stein, sie hörte sich leer an, als würde Aspen nicht wissen, welche Stimmung sie haben sollte, in dieser Situation.
Sie schien erst langsam aus ihrer Dissoziation zu erwachen und ihre Lage nur langsam begreifen. Als wäre sie in einer anderen Welt gewesen.
„Casmiel...er..." stotterte sie bevor der Damm brach. Das Wasser lief über und sie brach in Tränen aus. Ihr Körper klappte zusammen und Liope konnte sie nur in letzter Sekunde auffangen und sachte auf den Boden setzen, wo er sie in seine Arme schloss und beruhigend über ihren Hinterkopf streichelte.
Aspen schluchzte und drückte ihren Bruder an sich. Sie krallte sich an ihn fest, möglicherweise hinterließ sie sogar Spuren ihrer Nägel an seinem Rücken, doch keinen der beiden Geschwister schien dies im Moment zu interessieren.
Aspen weinte. Sie ließ die Tränen raus, die sie seit ihrem Besuch bei Charon zurückgehalten hatte. Seitdem sie die Information über Casmiels Tod erhalten hatte. Sie konnte nicht länger verstecken, wie stark es sie verletzte, ihren Freund, Bruder, verloren zu haben.
Die Information schien sie erst jetzt erfasst zu haben. Als hätte sie sie zuvor ignoriert, um ebenso ihre Emotionen zu ignorieren, die sie erwartet hatte. Als hätte sie erst jetzt die Worte von Charon aufgenommen. Casmiel war tot und es war ihre Schuld.
„Hey. Alles okay. Es ist alles okay. Ich bin da. Ich werde immer für dich da sein" hauchte Liope tatsächlich sanft während er seine Hand noch immer über Aspens wilde Locken streicheln ließ und sie an sich drückte.
Aspens Weinen verstummte kurz bevor sie anfing zu schreien. Sie schlug um sich, schlug Liope und wollte ihn mit aller Gewalt von sich stoßen, doch er ließ sie nicht los, obwohl ihre Tritte und Schläge schmerzten und definitiv blaue Flecken und Wunden zurücklassen würden. Doch Liope wusste, dass er Aspen nicht loslassen konnte. Sie würde sich ansonsten noch selbst verletzen.
Alle anderen standen nur geschockt um die beiden Geschwister herum und stellten sich tausende Fragen.
Eleanor vermutete bereits, was geschehen war und hielt gerade noch so ihre eigenen Tränen zurück. Sie hatte Aspen noch nie so aufgelöst gesehen. Sie war selbst noch nie so aufgelöst gewesen. Doch ihre Vermutungen gingen eine endlose Spirale hinab, in die tiefe Dunkelheit ihrer schwärzesten Ängste, die sie um jeden Preis verstecken wollte.
Sie fühlte sich nutzlos, als sie nur so dort stand und nichts anderes tun konnte, als abzuwarten, bis Aspen die Kraft gefunden hatte, sich zu beruhigen.
Dakota, Nike, Neveah, Tatum und Indigo, Aspens Gefolgsleute, waren ebenso ratlos wie Eleanor. Sie hatten Aspen als starke, unabhängige Frau kennengelernt. Sie hatte nie auch nur eine einzige Träne vergossen, war mit ihrem Trauma umgegangen als wäre es nur ein Kieselstein in ihrem Weg und war immer für sie da gewesen, wenn Alpträume sie an ihre Vergangenheit erinnert hatten.
Doch nun. Nun war sie es, die weinend, schreiend, um sich schlagend am Boden saß und sie konnten absolut nichts tun. Sie wussten nicht, welche Worte sie wählen sollten. Wie sie damit umgehen konnten. Sie waren nicht in der Lage Aspen zu helfen, so wie sie es immer für sie getan hatte.
Juno und Milany fühlten sich fehl am Platz und doch wollten sie etwas tun.
Juno, weil sie ein Herz hatte. Sie sah, dass Aspen Schmerzen hatte. Schlimmere Schmerzen als irgendeine Wunde es jemals auslösen könnte. Sie hatte Schmerzen, die tiefer gingen als nur ins Fleisch. Sie wollte Aspen helfen, weil sie nicht mitansehen konnte, wie jemand anderer Schmerzen dergleichen durchmachen musste. Doch sie konnte nicht helfen. Sie fühlte sich nicht befugt dazu. Aspen und sie waren so gut wie Fremde. Zwar war die junge Assassine es gewesen, die sie zu der neuen Rebellion eingeladen hatte, doch irgendwie kannten sie sich trotzdem nicht so wirklich.
Milany wollte Aspen helfen, weil sie seine Freundin war. Er wollte ihr helfen, weil sie es auch bei ihm getan hatte, doch er wusste nicht wie. Sie war eine gute Freundin. Eine Freundin, die immer für jeden da war. Eine Freundin, der er vertraut hatte. Doch er war das nicht. Er wusste nicht wie. Er könnte ihr zeigen, wie man anderen das Herz aus der Brust riss, doch keinesfalls wusste er, wie man jemanden tröstete. Wie man jemandem die Zuneigung gab, die derjenige gerade benötigte. Er wusste nicht, wie er Aspen helfen konnte. Vielleicht war er ja ein schlechter Freund. Doch er konnte im Moment nichts daran ändern. Er konnte generell nichts tun. Nur zusehen. Und hoffen. Und beten. Beten, dass es Aspen bald wieder besser gehen würde.
Liope hatte seine Schwester noch nie so erlebt.
Sie war oft wütend, definitiv. Aspen war generell ein recht emotionaler Mensch, doch nicht im Sinne von weinerlich. Nein, geweint hatte sie nie. Doch sie war wütend gewesen, glücklich, genervt, gereizt, hoffnungsvoll, beleidigt, aggressiv, sogar bemitleidend. Doch niemals traurig.
Vielleicht hat sie die ein oder andere Träne vergossen, doch es waren nie Tränen der Trauer gewesen. Tränen der Wut, des Glücks, der Überforderung. Ja. Doch Trauer kannte sie nicht.
Tatsächlich würde Liope Aspen als glücklichsten Menschen bezeichnen, den er kannte. Sie war vieles, doch niemals traurig. Trauer passte einfach nicht zu ihr.
Doch jetzt, da sie um sich schlug, schrie, kreischte, weinte und Liope gezwungen war sie festzuhalten, damit sie sich nicht selbst verletzen würde, spürte er deutlich, dass Aspen nicht glücklich war. Sie war traurig.
Sie wandelte diese Trauer in viele andere Emotionen um, die zu viel waren, als dass sie sie verstecken könnte, doch sie konnte nicht die wahren Schmerzen verstecken die sie fühlte. Die sie in sich trug.
Es war nicht so, als wäre Liope besonders emotional. Im Gegenteil. Er hatte aufgehört dem Draht der Menschheit zu folgen als er sechs Jahre alt gewesen war. Damals hatte er seinen ersten Menschen mit seinen eigenen Händen getötet und erkannt, dass es besser war, wenn man nicht mehr fühlte.
Es war besser, da er danach immer wieder Menschen getötet hatte und nie irgendetwas für sie fühlte. Er hatte aufgehört damit. Manchmal sogar Glück oder Stolz empfunden, da er gut darin war. Doch er hatte vergessen wie sich Reue anfühlte, Trauer. Mitleid.
Jetzt erinnerte er sich wieder daran. Er erkannte den Schmerz in seiner Brust, der von keiner Wunde stammte. Er erkannte die Hilflosigkeit, da er nicht wusste, wie er seiner Schwester helfen konnte, die um sich schlug und blaue Flecken auf seiner Haut hinterließ. Er erkannte die Reue, da er ihr nicht helfen hatte können, als sie es tatsächlich gebraucht hätte.
Was auch immer zu diesem Gefühlschaos geführt hatte, er war nicht bei Aspen gewesen, als sie es erlebt hatte. Als sie es erleben musste. Er war nicht bei ihr gewesen, als sie ihn am meisten gebraucht hätte.
Liope fühlte sich nicht oft schlecht. Gott, er war ein professioneller Killer. Er tötete teilweise sogar, einfach weil es Spaß machte. Nein. Es machte keinen Spaß. Es machte nie Spaß. Doch er fühlte sich mächtig. Als wäre er dort, wo er tatsächlich hingehörte. Inmitten von Wimmern und Geschrei. Von Schüssen, Stichen und dem Tod. Es war zu seinem Zuhause geworden, da er nie etwas anderes gehabt hatte.
Außer Aspen. Sie war sein Zuhause. Nicht das Morden. Nur wenn sie dabei war. Dann war es Zuhause. Dann war es lustig, so krank diese Aussage auch war. Doch Aspen war sein Zuhause und bei ihr fühlte er sich wohl. Sicher. Als wäre er richtig. Als könnte er nichts falsch machen. Aspen war sein Zuhause, weil er nichts anderes brauchte außer sie.
Und sie hatte ihn gebraucht.
Er war nicht da gewesen.
Er war nicht da gewesen und nun war Aspen verzweifelt. Traurig. Am Boden zerstört.
Nun war Aspen zerbrochen.
„Es war meine Schuld" wimmerte sie leise und Liope löste seine enge Umarmung etwas, um sie ansehen zu können.
Ihre Augen waren verquollen. Letzte Reste ihrer Schminke strichen ihr Gesicht mit einer leichten Schwärze und ihre Lippe zitterte. Ihr gesamter Körper zitterte. Sie zitterte.
„Sag das nicht" bat Liope ohne den Grund ihrer Worte zu kennen. Doch er hatte gelernt, dass Leute, die diese Worte sagten, tatsächlich schuld waren, an was auch immer sie dachten. Vor allem nicht Aspen. Casmiel war vollkommen falsch gewesen. Seine kleine Schwester war nicht manipulativ oder ein Monster. Sie war seine Familie. Sein Zuhause. Er konnte und wollte nicht glauben, dass sie das alles nur spielte.
„Doch!" schrie Aspen auf seine Worte hin und nutzte seinen kurzen Moment der Irritation um sich aus seinem Griff zu befreien. Aspen war trotz allem verdammt stark und es war kein Problem für sie, Liopes Arm zu verrenken, sich aus seinem Griff zu winden und sich dann sicher zu entfernen.
Zwar war sie weniger elegant, doch sie erreichte ihr Ziel und brachte einen gewissen Abstand zwischen sich und den Anwesenden. Liope akzeptierte das, auch wenn er jederzeit bereit war wieder vorzustürzen, sie in seine Arme zu zwingen und sie zu halten, damit sie sich nicht selbst verletzen würde. Das könnte er sich nie verzeihen.
Aspen wirkte wie ein wildes Tier. Wie sie dort in der Ecke lungerte, ihren Kopf einzog, ihre Knie an sich gedrückt und ihre Arme schützend um sich gelegt. Ihre Augen rasten von jeder Person, jedem Gegenstand, als würden sie sie jeden Moment angreifen. Ihre Augenringe wirkten dunkler als zuvor, sei es von ihrer tagealten Schminke oder der natürlichen Müdigkeit, die man nach einem solchen Zusammenbruch hatte. Wie sie ihre Hände an ihre Ohren presste, als würde sie versuchen, die Wahrheit auszublenden, in friedlicher Stille zu leben.+9
Mit einem Handzeichen befiehl er den Anderen sich nicht zu nähern. Sobald Aspen sich bedroht fühlen würde, könnte sie sich wegteleportieren und sie alle entweder in Gefahr bringen, oder sich selbst und keine der beiden Optionen wollte Liope erleben.
„Ich bin die Schuld an allem! Casmiel ist tot wegen mir! Theseus ist tot wegen mir! Und- und Charon! Ich habe Charon getötet!" sie hob geschockt ihre beiden Hände, die noch immer blutgetränkt waren und deutlich zitterten, bevor sie sie hastig um ihren Körper schlang und ihr Blick in die Leere zurückfiel.
„Er- er hat Cas getötet. Meinen Cas. Das war nicht geplant! Das war nicht fair! Nicht fair! Nicht fair! Nicht fair!" ihre Stimme war immer lauter geworden, bis es zu einem ohrenbetäubenden Kreischen ausgeartet war und Liope sich die Ohren zuhalten musste.
„Er darf das nicht! Das- das darf er nicht! Er- er hat ihn getötet! Er hat mir einen Brief geschickt! Er- er darf nicht gegen die Regeln spielen!" schrie sie weiter und Liope wusste nicht mehr weiter. Aspen schien hysterisch. Der Tod von Casmiel schien sie vollkommen aus dem Konzept geworfen zu haben. Und Liope auch. Alle von ihnen.
Bei ihren Worten hatte Juno erschrocken nach Luft geholt und bereits sammelten sich Tränen in ihren Augen.
Die Bestätigung brachte auch Eleanor dazu, sich kurz wegzudrehen und unauffällig ihre Augen zu wischen, bevor sich ihr Blick wieder verhärtete und sie sich bemühte nicht zu weinen.
Selbst Milany wirkte geschockt von dieser Nachricht und sah sich verloren im Raum um, als hätte er antworten, wie sie weitermachen sollten.
Aspens Anhängerinnen schienen sich fehl am Platz zu fühlen. Die Nachricht über Casmiels Tod schien sie nicht gerade mitzunehmen, dafür aber Aspens Gefühle, die sie gerade offen zeigte.
„Es war meine Schuld! Meine Schuld! Meine Schu-" der Rest des Satzes verschwand in verzweifelten Schluchzern während Aspen ihren Kopf hinter ihren Armen vergrub und man nur das Zittern ihres Rückens sehen konnte, der sich mit jedem Wimmern hob und senkte.
Plötzlich kreischte sie laut und ohne sich zurückzuhalten. Sie schien alles raus zu lassen, was sich inzwischen angesammelt hatte. All die Gefühle, die sie durch Charon Tripe hinter Mauern versteckt hatte.
Der Frust der fehlenden Perfektion. Weil Aspen wusste, dass sie niemals gut genug sein könnte. Niemals gut genug um ihren Angaben zu entsprechen, um in ihre Reihen zu passen. Frust, da sie tatsächlich reingefallen war, in das tiefe Loch, dass Charon ihr angeboten hatte. Frust, da sie den einzigen Freund verloren hatte, bei dem sie das Gefühl gehabt hatte, sie könnte sein, wer sie wirklich war. Nicht Asperia. Nicht Aspen. Asp. Bei ihm war sie Asp gewesen. Niemand anderes hatte sie so genannt und wenn, dann nicht durchgehend. Nur er. Er allein.
Es hatte physisch geschmerzt, wenn er sie bei einem anderen Namen angesprochen hatte. Wenn er sie Aspen oder gar Asperia genannt hatte. Es hatte sie wütend gemacht. Rasend. Denn es war nicht ihr Name. Nicht ihr Name, nicht bei ihm. Es war der Name eines Mädchens, das nie ein Zuhause gehabt hatte. Eine Frau, die zu viele Lasten tragen musste.
Er hatte Asp erschaffen. Asp, ein Mädchen, dass ein Zuhause in ihm gefunden hatte. Asp, eine Frau, die ihre Lasten mit ihm teilen durfte. Asp, die einfach nur Asp war. Ohne Titel. Ohne Nachnamen. Nur Asp. Sie hatte ein Zuhause in ihm gefunden.
Und jetzt hatte sie es verloren.
Jetzt hatte sie ihn verloren.
Ihr einziges Zuhause.
Ihren einzigen Freund.
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