Kapitel 27
[Eine neue Geschichte]
~Der Beginn des Endes~
Die Zeiten waren seltsam grau.
Grau und eintönig.
Sie machten keinen Spaß mehr, wie sie es einmal getan hatten.
Sie hatten keine schöne Seite, kein Happy End.
Sie waren grau.
Juno hatte die Beziehung zwischen Aspen und Casmiel nie wirklich verstanden. Sie war seltsam und ungewöhnlich.
Schon damals, als Aspen ihre Hochzeit vorbereitet hatte und erzählte, dass Casmiel sie beinahe umgebracht hatte, es aber dennoch nichts seltenes war, hatte Juno erkannt, dass diese Beziehung nicht wirklich zu verstehen war.
Es war eine Beziehung, wie man sie von Geschwistern kannte. Juno hatte eine kleine Schwester gehabt, Marlis, und sie hatten sich ständig gegenseitig geneckt.
Juno hatte Marlis öfter als nur einmal von der Bank geschubst, oder ihr erzählt, dass ein Melonenbaum in ihrem Bauch wachsen würde, wenn sie die Kerne mitessen würde, sodass Marlis sich jedes Mal die Mühe gegeben hatte, jeden einzelnen Kern zu entfernen, bevor sie eine Frucht gegessen hatte und beinahe gestorben war, wenn sie doch einen versehentlich geschluckt hatte, doch dafür war Marlis ihr einmal mit einem Messer in der Hand hinterhergelaufen und hatte sie durch das Haus gejagt.
Juno hatte Marlis auch angeschrien und Marlis hatte Juno so fest gebissen, dass sie noch immer eine leichte Narbe von Marlis' Gebissbadruck hatte. Doch das war okay. Am Ende hatten sie sich wieder umarmt, waren für einander da gewesen, hatten Taschentücher und Eiscreme geteilt und hatten sich gegenseitig geliebt. So waren Geschwister eben. Deine größten Feinde und zugleich besten Freunde.
Juno würde für Marlis ertrinken, durchs Feuer gehen und sich von Messern durchbohren lassen, obwohl Marlis sie einmal von einem Spielturm gestoßen hatte und Juno danach ins Krankenhaus gemusst hatte.
Es war normal gewesen, obwohl Juno vermutlich ein Trauma von diesem Tag davongetragen hat und Marlis nicht mehr über den Weg traute, wenn sie ein Messer in der Hand gehalten hatte oder Juno auf einem Spielturm war.
Doch Casmiel und Aspen hatten genau dieselbe Energie, nur, dass sie Freunde waren.
Sie hatten sich des Öfteren beinahe gegenseitig umgebracht, doch am nächsten Tag konnten sie wieder normal miteinander reden, als wäre dergleichen nie passiert.
Sie schienen gedanklich kommunizieren zu können und waren auf einer Wellenlinie, während alle anderen versuchen, in ihrem chaotischen Meer zu schwimmen.
Nicht einmal Liope hatte eine Beziehung dergleichen mit Aspen, obwohl sie tatsächlich Geschwister waren. Generell wirkten Liope und Aspen fremder als jedes andere Geschwisterpaar.
Doch jetzt war selbst diese absolut chaotische, kunterbunte, geschwisterliche Beziehung ergraut. Ihre Schönheit war verwelkt, ihre Einfachheit hatte sich in einem Labyrinth der Komplikationen verirrt und sie zerbrach unter den Lasten, die sich Aspen und Casmiel gegenseitig auferlegten.
Juno hatte meist nur zugehört. Sie war nie wirklich bei den spannenden Sachen dabei gewesen, schließlich wollte Casmiel, dass sie im Schatten blieb und ihm von seinem Vater Bericht erstattete. Doch Juno war sowieso keine große Sprecherin. Sie genoss es, stumm daneben zu sitzen und leicht zu lächeln, wenn Casmiel und Aspen wieder einmal aufsprangen, irgendeinen non-sense redeten und durch das Haus tigerten. Sie hatte es genossen.
Denn jetzt war Casmiel weg und Aspen war nicht mehr dieselbe. Etwas hatte sie verändert. Juno konnte nicht ganz einteilen was genau es war.
Vielleicht war es Charon. Seine ständige Präsenz, die auf allen lasteten, die ihn persönlich kennengelernt hatten. Juno hatte ihn als einen Helden gesehen, jetzt war er Teil ihrer Alpträume. Sie hatte die Wahrheit gesehen. Gesehen, wie er mit Atlas sprach und wie er Icarus manipulierte. Juno war nicht dumm. Sie war bekannt mit Manipulation und dessen Auswirkungen. Und genau diese zerstörten Casmiel und Aspen langsam aber sicher.
Vielleicht war es die generelle Situation. Casmiel hatte Theseus verloren und gab sich selbst die Schuld während Aspen nur die alte Zeit zurück haben wollte, als sie noch ein Dreiergespann gewesen waren. Juno verstand sie irgendwie. Sie wollte auch die Zeit zurück haben, als es hieß Seoras und sie gegen den Rest der Welt. Jetzt fühlte es sich an, als würde er selbst sich gegen sie stellen. Als würde er sie zum Rest der Welt schmeißen und gegen sie kämpfen.
Auf eine kranke Art und Weise vermisste sie die Arena. Dort hatte sie einen Platz gehabt, ein Schicksal. Eine Bestimmung. Nun? Nun schwamm sie verloren in einem Meer der Möglichkeiten. Sie wusste nicht, welche Seite sie tatsächlich retten und wegen welcher sie letztendlich untergehen würde. Weder Charon noch Casmiel waren wirklich gesunde Zeitgenossen, so gern sie Casmiel auch mochte. Er war ein guter Freund (wenn man es erst einmal dazu gebracht hatte), doch ein eher weniger guter Anführer. Trotz allem war er noch immer recht toxisch, ließ sich nicht helfen und verdarb sich selbst mit seiner elenden Arroganz, die sogar Juno langsam nervte.
Charon war definitiv ebenso toxisch, doch aushaltbar. Es war, als würde man sich sogar gerne von ihm manipulieren lassen, da man sich den Sieges sicher war. Er versprach Gewinn und man glaubte ihm. Casmiel konnte das nicht.
Deshalb war Juno zwiegespalten. Sie wollte hier bleiben, bei Eleanor, Liope, Milany und Aspen. Doch ebenso wollte sie sich ihre Zukunft mit Seoras sichern und zu Charon überlaufen. Sie vermisste den alten Icarus, der mit ihr gesprochen hatte, als wären sie tatsächlich Freunde. Jetzt war er vergiftet von Macht und der Halluzination des Erbes der Tripes. Er war vergiftet von falscher Perfektion und den schönen Lügen, die besser waren, als die grausame Realität, in der sie lebten.
Juno fragte sich, ob Casmiel ebenso vergiftet war. Ob er anders wäre, wenn er nie gezwungen worden wäre, Perfektion zu erlangen.
Wäre er ein guter Anführer? Charmant und charismatisch.
Wäre er schüchtern, zurückhaltend? Ein Schatten, immer da aber still und zurückgezogen.
Wäre er freundlich, ein gewöhnlicher Mensch? Könnte er lächeln, wie jeder andere es konnte?
Was wäre Casmiel Tripe, wenn er nie zerfallen wäre?
Wenn er ein gewöhnliches Leben gehabt hätte.
Eine gewöhnliche Kindheit.
Eine griechische Sage besagte, Prometheus hätte Menschen aus Lehm geformt. Lehm, der mit dem goldenen Ichor und göttlichem Blut des Uranos getränkt gewesen war. Mit Macht, versteckt hinter Schlamm und Dreck. Alle Menschen waren daraus entstanden. Schlamm und Dreck. Staub.
Prometheus hatte ihnen Leben eingehaucht, ihnen eine Form gegeben, einen Namen.
Und vielleicht waren Menschen nicht mehr. Nur Lehm.
Sie wurden von ihrer Umwelt verformt, verändert. Ihre Form war nie fest, sondern in ständiger Veränderung, ständiger Erneuerung. Ständiger Bewegung. Ihr Charakter, ihre Werte, ihre Seele, dass alles blieb nicht stehen. Es bewegte sich mit jedem Tag, jedem Schritt, jedem Wort.
Das war das Wunder des Lebens. Veränderung.
Doch vielleicht waren die Tripes nicht mehr in der Lage sich zu verändern.
Vielleicht war der Prozess des perfektionierten Zerfalls genau dafür gedacht.
Charon hatte Casmiel eine Form gegeben, den Lehm gehärtet und ihm beigebracht, Gold zu sein, obwohl es nicht seine Natur war. Denn Casmiel war Lehm. Er war Schlamm. Er war Dreck. Er war Staub. Kein Gold.
Doch wenn die goldene Farbe abblättert und die hässliche Wahrheit zeigt, die hässliche Wahrheit des menschlichen Wesens, war Casmiel fallen gelassen worden. Er war zersprungen. Scherben, die nicht mehr verstecken konnten, was Casmiel wirklich war. Scherben, die außen noch ihre goldene Farbe trugen, doch ihr Inneres nicht mehr dahinter verstecken konnten. Scherben, die immer und immer wieder auf den Boden geworfen worden waren, bis aus ihnen Staub wurde. Staub, ohne jegliche Form.
Vielleicht wollte Casmiel sich verändern. Vielleicht wollte er jemand anderes sein und seinem Namen entkommen, doch Staub hatte die Fähigkeit verloren, sich zu verformen. Staub hatte keine Möglichkeit mehr, sich zu verändern. Sich zu bessern.
Diese Möglichkeit war Casmiel genommen worden.
So war Trauma.
Es bricht einen Menschen. Vielleicht sind es nur Splitter, vielleicht entstehen Scherben. Vielleicht nur ein feiner Riss, vielleicht ein minimaler Sprung. Doch egal ob die Teile wieder zusammengesetzt werden, der Riss übermalt, der Sprung retuschiert, die Splitter ergänzt, es wird nie wieder ganz werden. Denn es wurde etwas verloren. Etwas wertvolles.
Kleine Körner von Staub, durch die Zerstörung geschliffen, im Winde verweht, von unserem Wesen entfernt. Kaum bemerkbare Splitterchen, die für immer verschwinden.
Verlust schaffte Platz für etwas Neues. Das japanische Konzept „wabi-sabi" besagt, dass Imperfektionen Schönheit sind. Nichts bleibt, nichts wird vollendet, nichts ist perfekt. Aus diesem Konzept entstand auch die Tradition, zerbrochene Vasen wieder zusammenzukleben und die Risse mit goldener Farbe zu übermalen, sodass sie durch ihre Schönheit auffallen und ihre Zerstörung zu Kunst wird.
Trauma kann übermalt werden. Es ist eine natürliche Reaktion der menschlichen Psyche auf eine schädliche Erfahrung und sorgt dafür, sich zu verbessern und auf diese Erfahrungen besser und schneller zu reagieren. Man kann seine Risse also mit goldener Farbe übermalen und so zeigen, dass man stärker geworden ist. Besser.
Doch manchmal ist Trauma keine Verbesserung. Manchmal ist Trauma Zerstörung und diese Zerstörung kann aus Rissen Scherben machen, aus Scherben Staub und aus Staub Nichts.
Manches Trauma kann man nicht vergolden. Manches Trauma bringt keine Stärke. Manches Trauma ist nicht dazu gemacht, um schön zu sein. Denn Zerstörung ist hässlich. Zerstörung ist dreckig. Zerstörung ist grausam. Zerstörung ist Verlust. Zerstörung ist Schmerz. Zerstörung ist nicht mehr als das. Zerstörung.
Casmiel war zu jung gewesen, um Hässlichkeit zu sehen.
Zu jung, um den Dreck der Welt kennenzulernen.
Zu jung, um Grausamkeit zu erleben.
Um Verlust zu erfahren.
Schmerzen zu haben.
Zerstört zu werden.
Casmiel war zu jung gewesen, um er selbst zu sein.
Vielleicht konnte Juno ihn nicht mehr retten. Vielleicht war es schon zu spät für ihn. Doch Juno würde ihm helfen andere zu retten, die seine Vergangenheit teilten. Andere, die zu jung waren, um Zerstörung zu erleben. Andere, wie Icarus.
Deshalb hinterließ sie einen Brief für ihre Freunde, packte ihre Sachen und verließ den Unterschlupf, um zum Anwesen der Tripes zu gehen. Zum Ort, an dem sie gebraucht wurde.
Sie würde Icarus nicht aufgeben. Sie würde nicht zulassen, dass sie dasselbe Schicksal erleben würden, wie Casmiel. Sie würde Icarus retten und jeden anderen Tripe, der ein Opfer des perfektionierten Zerfalls war.
Juno konnte vielleicht keine Heldin sein, wie Aspen, Theseus oder Casmiel.
Doch sie konnte ihre eigene Geschichte schreiben. Ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sie könnte eine Heldin für diejenigen sein, die dachten, nie gerettet zu werden.
Sie würde diejenigen retten, die schon viel zu lange ignoriert wurden.
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