Kapitel 22

[Von Jägern und Gejagten]

~Denn vielleicht ist der Unterschied nur minimal~

Die schweren Türen öffneten sich und herein kamen sechs Gestalten, allesamt dreckig und verletzt. Sie rochen nach Schweiß und Rauch mit einem unterschwelligen Gestank nach Blut und Tod. Icarus kannte all diese Gerüche nur allzu gut.

Sie waren in Charons Büro. Ein langer Tisch erstreckte sich vor ihnen, der gesamte Raum war durch die großen Fenster in ein sanftes, natürliches Licht getaucht und Charon arbeitete gerade an ein paar Dokumenten, die er als wichtig befand.
Icarus stand nur daneben und diente als Leibwächter. Die Zeiten waren gefährlich geworden. Casmiel war wieder zurückgekehrt und hatte sein Exil verlassen, Aspen war an seiner Seite und mit ihr auch Liope. Die Salem-Geschwister zusammen waren ein Problem, aber Icarus würde nicht zulassen, dass sie auch nur in Charons Nähe kommen würden.

Er hatte geschworen, auf ihn aufzupassen. Schließlich hatte Charon Icarus gerettet und für dieser Rettung würde er ihm auf ewig dankbar sein. Charon hatte ihn auch noch nie zu etwas gezwungen und noch keine Drohungen ausgesprochen. Er war gut zu Icarus, ganz anders, als die Menschen in der Arena.

Als Icarus noch dort gewesen war, an diesem grausamen Ort, war er ein Sklave gewesen. Gefangen, in Ketten. Doch nun war er frei. Er hatte vielleicht seine Flügel verloren, doch das bedeutete nicht, dass er nicht noch immer fliegen konnte. Charon hatte ihm eine Konstruktion geschenkt, die seinen Flügeln ähnelte und ihm verhalf, wieder durch die Luft zu fliegen wie früher.
Icarus war nichts besonderes mehr, nur ein ganz normaler Mensch, doch durch Charon fühlte er sich wieder, als wäre er einzigartig. Ob als Phoenix oder nicht.

Clarence trat vor ihn und neigte leicht den Kopf. Charon sah auf und musterte die sechs Gestalten, legte seinen Stift weg und faltet die Hände.
„Clarence. Was ist passiert?" fragte er und beobachtete den Mann ihm gegenüber genau. Charon war talentiert darin, Menschen zu lesen und Icarus lernte dies von ihm.

Er konnte sehen, dass Clarence nervös von einem Fuß zum anderen stieg und versuchte sich selbst zu beruhigen, doch er schien noch immer Angst zu haben. Irgendetwas war definitiv passiert, etwas, dass nicht zum Plan gehört hatte. Doch Icarus würde es sowieso bald erfahren.

„Es gab...Schwierigkeiten...vor Ort" berichtete Clarence stotternd und Icarus betrachtete ihn abschätzig. Clarence war unwürdig. Er war ein Hund, den man herumkommandieren konnte und er würde noch immer freudig mit dem Schwanz wedeln, da seine einzige Bestimmung war, Befehle auszuführen. Er sah zwar kräftig und stark aus, doch Icarus war sich sicher, dass er keine Probleme damit haben würde, ihn zu überwältigen. Icarus war nicht umsonst einstige Nummer 1 der Scena gewesen.

„Schwierigkeiten? Würde es Ihnen etwas ausmachen, dies zu elaborieren?" fragte Charon ruhig und höflich. Er wirkte interessiert an dem Bericht.

Natürlich, schließlich würde dieser entscheiden, wie Charon weiter gegen seinen Sohn vorgehen würde. Er hatte Icarus die Entscheidung überlassen, wie sie Casmiel gegenübertreten sollten und Icarus hatte sich für die Offensive entschieden.

Er kannte Casmiel. Damit hätte er nicht rechnen können. Cas war bestimmt der Meinung, dass Charon die Fäden zog, doch vergaß dabei Icarus, der ebenso eine höhere Stellung hatte als Neffe und damit Erbe von Charon. Vor allem jetzt, da Charon erlaubt hatte, ihn auszubilden und ihm damit auch praktische Aufgaben gab, wie das Vorgehen mit Casmiel.

Charon hatte im Moment besseres zu tun als sich mit seiner Enttäuschung von Sohn abzugeben. Er musste die Präsidentschaft führen und das Volk beruhigen. Er sollte sich auf diese Aufgabe konzentrieren und Icarus würde sich währenddessen um Casmiel und seinen mickrigen Aufstand kümmern.

„Nein, Sir. Natürlich, Sir. Casmiel war nicht in der Haupthalle, in die wir eingetreten sind. Dort waren nur drei seiner Anhänger. Asperia Tripe. Liope Salem. Und eine weitere Frau, die uns unbekannt war. Sie war aber kampferprobt und stark, wir konnten sie nicht schlagen" erzählte Clarence, seine Worte vorsichtig wählend.

Idiot. Icarus wusste bereits davon. Er war dort gewesen und hatte sich alles von oben angesehen. Nun ging es nur darum, Clarence Treue und Loyalität zu testen, sowie seine Ehrlichkeit. Deshalb würde sich Icarus nicht zu Wort melden. Noch nicht.

„Eleanor Tremblay. Wir wurden bereits von unseren Quellen über ihre Anwesenheit informiert" sagte Charon ruhig und Clarence wirkte einen Moment lang zu geschockt, um noch etwas zu äußern.

Dann räusperte er sich leicht und nickte. „Ja, Sir. Sie war da. Wir konnten Liope Salem anfangs ausschalten. Er verschwand. Dann haben sie unsere Truppen angegriffen, während ich die Phoenix-Staffel zurückgehalten habe, um ihnen, wie Meister Icarus befohlen hatte, einen wellenartigen Angriff zu liefern und nicht sofort all meine Ressourcen zu nutzen" erzählte Clarence und stockte dann.

Charon sah wieder von seinen Dokumenten hoch und musterte den anderen.
„Wollen Sie damit sagen, dass die Kampfstrategie von Icarus nicht funktioniert hat? Denn meiner Meinung nach, war es eine ausgezeichnete Taktik, um gegen zwei Assassine vorzugehen, die dafür ausgebildet wurden, um gegen Menschen sowie Phoenixe zu kämpfen und zu gewinnen" äußerte Charon ruhig, doch die unterschwellige Drohung war kaum zu überhören.

Clarence wurde blass und suchte nach den richtigen Worten.

„Die Strategie- hat funktioniert. Sie konnten uns dennoch überwältigen..." endete Clarence seinen Bericht stockend und sah zu Boden. Charon sah zu Icarus und nickte leicht.

Sein Stichwort.

„Oh, ich bin mir sicher, wir hätten die beiden Assassine ausschalten können, mit meiner Strategie. Doch es mangelte den Truppen an einem guten Anführer, der die richtigen Entscheidungen treffen konnte" gab er spöttisch von sich und trat nach vorne, um nun vor Clarence zu stehen. Dieser war vielleicht größer als Icarus, doch es war klar, wer von ihnen mehr Macht ausstrahlte und es war nicht Clarence.

Dennoch wagte er es einen kurzen Moment empört auszusehen und Icarus wurde wütend. Er hasste es, unterschätzt zu werden. Er war ganz oben, über all diesen unwürdigen Menschen, die dachten, ihn noch immer überlegen zu sein. Er war ein Tripe und sein Blut war mächtig. Sie sollten ihm Respekt zollen!

„Sie waren ganz einfach zu konzentriert auf Ihre eigenen Aufgaben und haben Ihre Position vernachlässigt. Anstatt sie zu töten, haben Sie Eleanor Tremblay verschont, um von ihr zu erfahren, wo sich Asperia Tripe aufhält, nur damit Sie ihre persönliche Rache verüben könnten. Sie waren blind für die offensichtliche Falle. Asperia hätte jeden Moment fliehen können. Ihre Kraft ist es, wegzurennen und sie ist sehr gut darin, sie zu verwenden. Sie ist nur nicht gegangen, da sie wusste, dass sie gewinnen konnte und das hätten wir nutzen sollen, anstatt unsere Chancen wegzuwerfen, wegen einer persönlichen Auseinandersetzung. Sie haben dafür gesorgt, dass unsere Mission gescheitert ist. Wir hatten sie beide, Asperia und Eleanor. Wir hätten sie beide in diesem Moment töten können, doch Sie haben es nicht getan. Ich frage Sie, warum" zischte Icarus nur hart und Clarence zuckte kaum merklich zusammen, als er seinen Blick erhaschte, der mörderisch war.

„Wie willst du mit ihnen verfahren, Icarus? Es ist deine Truppe. Deine Verantwortung. Du entscheidest über ihr Schicksal" meinte Charon ruhig und sah interessiert bei der Verhandlung zu. Ein charismatisches Lächeln zierte seine Lippen, doch seine Augen blieben kalt.

„Nein! Ich hätte sie getötet! Beide! Eleanor und Aspen aber- aber dann kam er!" Clarence stockte in seiner Erzählung, seine Augen wurden groß und Icarus sah deutlich die Angst in ihm aufsteigen. Pure Angst. Kein Respekt, wie er ihn vor Icarus hatte. Angst.

Es machte Icarus wütend. Wieso hatte Clarence Angst vor Casmiel aber nicht vor ihm, wenn er doch über sein Schicksal entscheiden würde?

„Er, Casmiel Tripe. Er- er war plötzlich da und hat alles verändert. Wir konnten nichts gegen seine Macht tun! Er war zu mächtig! Er hat beinahe Meredith getötet!" zischte Clarence, seine Stimme zitterte leicht und Meredith, die junge Frau, die sich selbst in Flammen setzen konnte, machte sich kleiner, als würde sie Casmiels Präsenz noch immer spüren.

Und so war es auch. Casmiel war hier überall. Icarus spürte es auch. Diese Wände erzählten Casmiels Geschichte. Sie waren sein Zuhause während Icarus ein Fremder war. Ein Fremder innerhalb der Mauern der Tripes. Er war hier nicht Zuhause. Dies war nicht sein Heim. Noch nicht. Doch er würde dafür sorgen, dass es nicht mehr Casmiels Name war, der von all diesen Wänden hallte. Sondern der seine. Er würde derjenige sein, der Menschen und Phoenixe zum Zittern brachte. Er würde nie wieder ein Sklave sein.

„Casmiel ist schwach" unterbrach Charon seine Gedanken und er sah interessiert zu ihm. Er wirkte desinteressiert, doch in seinen Augen lag ein Hauch von Amüsanz.
„Er hatte die Möglichkeit euch alle zu töten. Ich kenne die Macht meines Sohnes. Er hätte seine Feinde schwächen können, indem er euch einfach tötet. Doch er hat Angst. Angst zu töten. Angst zu verletzen. Angst, vor seiner eigenen Macht, die so viel stärker sein könnte, als sie bereits ist. Er wird euch also nur kurz außer Gefecht setzen, nicht vollkommen aus dem Verkehr ziehen. Fürchtet euch also nicht vor ihm" Charon sah zu Icarus und lächelte leicht.
„Seine Angst macht ihn schwach. Nutze dies, Icarus. Doch es geht jetzt nicht um Casmiel. Es geht um Clarence und wie du mit ihm vorgehen willst."

Icarus nickte und sah wieder zu Clarence, der unsicher schluckte und leicht vor Icarus zurückwich. Er würde dafür sorgen, dass sie Angst vor ihm haben würden. Endlich die Angst, die er verdient hatte. Icarus war so viel stärker als Casmiel es jemals sein könnte und das würde er beweisen.

„Beweisen Sie Ihre Treue, Clarence" meinte Icarus und reichte ihm eine Pistole. „Erschießen Sie Clover Irvine oder sterben Sie. Es ist Ihre Entscheidung."

Clarence' Kopf schnappte nach oben und er sah Icarus ungläubig an. „Das- das können Sie nicht-" doch weiter kam er nicht, denn Icarus ließ ihn mit nur einem Blick verstummen.

„Oh doch, das kann ich. Töte sie oder sie werden dich töten!" zischte Icarus feindselig und vergaß seine höflichen Umgangsformen. Er wollte zeigen, welche Macht er inzwischen hatte. Er war kein Sklave mehr. Niemand konnte ihm sagen, was er tun oder lassen sollte. Niemand!

Clarence schien einen inneren Krieg mit sich selbst zu führen, doch schließlich drehte er sich um und richtete die Waffe auf seinen ältesten Freund und Begleiter, Clover Irvine.

Diese starrten ihn nur ungläubig an und öffneten den Mund, doch kein Ton drang von ihren Lippen hervor. Sie sahen panisch von einer Seite zur anderen und dann wieder flehend zu Clarence, dessen Hand zitterte. Er wollte Clover nicht töten, das war Icarus klar, doch die Alternative war ebenso ungemütlich.

Denn Icarus hatte gelernt. Er hatte viel von Charon gelernt und auch seine eigenen Methoden entwickelt. Er hatte gelernt, wie einfach der menschliche Geist zu brechen war und wie wenig Aufwand dafür von Nöten war.

Würde Clarence sich weigern, würde Icarus ihn gehen lassen und die Jagd beginnen. Er würde Clarence immer wieder finden und gegen ihn kämpfen, nur damit er wieder wegrennen konnte und Icarus wieder kam. Er würde ihn wahnsinnig machen. Seinen Schlaf stehlen und sein Leben zu einem Horrorfilm machen. Icarus würde dafür sorgen, dass Clarence ihn anflehen würde, damit er endlich starb und von dieser Jagd befreit wurde.

Icarus hatte viel gelernt bei Charon und genoss die Macht, die diese Lektionen ihm gaben.

„Es tut mir leid, Clov" hauchte Clarence überwältigt von Gefühlen. Sein Finger strich am Abzug entlang, als würden sich seine Gedanken überschlagen und ihn von einer fixen Entscheidung abhalten. Er schien all seine Kraft darauf zu konzentrieren, Clover zu töten, die nichts anderes tun konnten, als ihren Mund zu öffnen und wieder zu schließen und flehende Blicke an Clarence zu wenden.

Schließlich drückte er ab.

Ein Klicken. Kein Schuss. Die Waffe war leer und Clovers Knie gaben unter ihnen nach. Sie brachen zusammen und atmeten schwer. Clarence sah die Waffe in seinen Händen geschockt an und ließ sie angewidert fallen, als könnte er nicht glauben, was er so eben getan hätte, wäre sie geladen gewesen.

Charon lächelte amüsiert und Icarus sah Clarence bestätigend an.
„Gut. Du hast deine Treue bewiesen. Beweise sie nun auch auf dem Schlachtfeld. Ich werde die Mission dieses Mal leiten. Macht euch bereit, wir werden sie wieder angreifen. In fünf Minuten treffen wir uns aufbruchbereit am Eingang. Sofort" befahl Icarus und alle Phoenixe liefen aus dem Raum, bis auf Clarence und Clover.

Icarus nahm ein Messer aus seinem Gürtel und warf es auf Clover. Es traf ihr Herz und sie stießen ein ersticktes Geräusch aus, bevor sie zusammenbrachen und auf dem Boden liegen blieben. Tot.

Clarence sah die Leiche seines Freundes entsetzt an und drehte sich dann zu Icarus, unfähig ein Wort zu äußern.

„Geh. In fünf Minuten bist du fertig, oder du wirst mit den Konsequenzen meiner Wut erleben müssen" sagte Icarus kalt und Clarence lief schnell aus dem Raum, ohne Clovers Leiche aus den Augen zu verlieren.

Icarus' Lippen verzogen sich zu einem selbstbewussten Lächeln und Charon klatschte langsam in seine Hände.

„Du machst gute Fortschritte. Ich bin stolz auf dich, Icarus. Weiter so. Und merke dir immer: Du bist kein Sklave mehr. Du stehst über ihnen. Zeige dies auch" meinte Charon und Icarus' Herz schwellte vor Freude. Charon war stolz auf ihn. Er hatte alles richtig gemacht.

„Ja Charon! Das werde ich!" versprach Icarus aufgeregt und ging schnell aus dem Raum um sich seiner Truppe anzuschließen.

Bevor er jedoch den Raum verlassen konnte, hielt Charon ihn auf.
„Eine Sache noch. Du wirst meinem Sohn auf dem Schlachtfeld begegnen und du wirst ihn nicht töten. Ich benötige ihn noch für meine Pläne. Doch richte ihm etwas von mir aus. Ich biete ihm einen Platz an. Seine letzte Chance zu der Familie zurückzukommen und seine Bestimmung als mein Erbe anzunehmen. Er wird ablehnen, doch das ist in Ordnung. Es geht nur darum, diese Idee in seinen Kopf zu pflanzen und ihn damit langsam zu zerstören. Der Rest ist ganz dir überlassen, Icarus. Mach mich stolz" sagte Charon sanft und Icarus nickte als Bestätigung.

Die Jagd würde beginnen. 

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