s u m m e r
-LA Airport, Kalifornien
Nach dem wir mit dem Bus eineinhalb Stunden zum LA Airport gebraucht hatten, dank des schlechten Verkehrs, stehen wir nun nach weiteren zwei Stunden immer noch am Flughafen und warten auf die Lehrer, die in ein angeregtes Gespräch mit der Frau am Informationsschalter verwickelt sind. Einer von den beiden Lehrern, Mr. Miller, fuchtelt immer wieder wild mit den Armen, während die arme Frau beschwichtigend die Hände hebt und ein bisschen verloren wirkt. Ich habe kein Mitleid mit ihr. Bestimmt hat sie ein ganz normales, glückliches Leben. Mit zwei Kindern und einem Ehemann. Ihren Job macht sie bestimmt erst seit Kurzem. Es ist ihr großer Durchbruch, nach der erfolgreichen Familienplanung. Ich tipple mit meiner Fußspitze auf den Boden. Ich bereue es immer noch, mich nicht einfach in meinem Zimmer eingesperrt zu haben. Es wäre so einfach gewesen. Die Busfahrt war die reinste Qual. Ich hatte das Gefühl mir wurde dauerhaft die Luft zum Atmen abgeschnürt. Ich habe mich fremd gefühlt. Und allein. Zerrissen zwischen Gefühlen. Zwischen der Wut auf meinen Vater, die Abneigung gegenüber der Fahrt und der Trauer meiner Erinnerung. Ich hatte meine Kopfhörer in meine Ohren geschoben und mir so die Zeit totgeschlagen. Ich habe eines meiner Bücher gelesen. Sie spenden mir Trost und lassen mich nicht allein. Jetzt höre ich immer noch meine Playlist, auch wenn ich die Lieder bereits alle auswendig kenne. Ich sitze auf einem der Sitzreihen, ein, zwei Meter von den restlichen Schülern entfernt. Sie haben sich ein paar Plätze weiter niedergelassen und umeinander gescharrt. Manche sitzen auch auf ihren Koffern oder stehen. Sie spielen an ihren Telefonen oder machen gemeinsam Selfies. Manchmal schielt der ein oder andere zu mir. Ihr Blick ist neugierig oder abwertend. Kein Ahnung. Mir ist es egal. Keiner von denen kennt mich wirklich, und ich setzte auch nicht viel daran, um das zu ändern.
Ich sehe wie unsere Lehrer fluchend auf uns zu kommen. Der eine reibt sich den kahlen Hinterkopf. „So." Der jüngere von den beiden bedeutet uns, ihm zu zuhören. Die Gespräche der anderen verstummen. Ich nehme meine Kopfhörer aus den Ohren. Jetzt ist nur noch der Geräuschpegel des Flughafens um mich herum wahrnehmbar. „Leider müssen wir euch mitteilen, dass unser Flug nach New York gecancelt wurde." Ein Raunen und Stöhnen geht durch die Ansammlung von Schülern, der Lehrer lässt sich jedoch nicht beirren. „Sie sagten uns, dass wir entweder erst nächste Woche einen anderen Flug nehmen könnten oder dass wir einen Flug nach-" er stoppt und schielt auf einen zerknüllten Zettel, den er aus seiner Tasche geholt hat, „Norfolk in Virginia nehmen sollen und am Samstag von dort aus nach New York fliegen könnten." Er stopft den Zettel wieder in seine Tasche. „Die nette Frau am Schalter sagte, dass sonst kein anderer Anschluss verfügbar sei. Es hört sich jetzt noch vage an, aber so oder so, werden unsere Ausflüge in New York ausfallen. Wenn wir die zweite Option wählen würden, werden wir unseren Aufenthalt in New York um drei Tage reduzieren müssen und nur die wichtigsten Sehenswürdigkeiten abklappern können. Dafür würden wir zwei Nächte in Norfolk verbringen, wofür uns die Reisegesellschaft die Kosten der Unterkunft abnehmen würde. So könnten wir dort noch ein paar Museen besuchen." Er faltet die Hände vor seinem Bauch. „Mr. Peterson," meldet sich ein rothaariges Mädchen, vermutlich Amy Winters, aus einer der vorderen Reihe, die sich gebildet hatten während Mr. Peterson geredet hatte. „Ja, Amy." Er bedeutet ihr zu sprechen. „Warum nehmen wir nicht einfach die erste Option? Dann könnten wir fünf Tage in New York verbringen." Zustimmendes Gemurmel ist zu vernehmen. Ich höre weiterhin nur schweigend zu. Mr. Peterson seufzt. „Wenn es so einfach wäre, würden wir es gerne so machen. Aber dadurch, dass uns das Geld nicht erstattet wird, müssten eure Eltern den gleichen Betrag Geld noch einmal zahlen." Er zuckt entschuldigend mit den Achseln. „Deshalb schlagen wir vor, jetzt erstmal nach Norfolk zu fliegen." Viele fangen zu stöhnen und sich zu beschweren. Der andere Lehrer hebt die Hände und sagt: „Herrschaften beruhigen sie sich! Wer nicht mit möchte, kann gerne die nächsten fünf Tage in der Schule verbringen. Die Lehrer freuen sich sicher über Ihre Anwesenheit." Die Beschwerden verstummen und nur noch wenige verziehen das Gesicht.
Ich betrachte die Gruppe. Ich gebe keinen Ton von mir, mir ist es sowie so egal, was wir machen. Ich will es einfach nur hinter mir haben. Ich will einfach nur wieder meine Kopfhörer in meinen Ohren haben und die Welt um mich herum vergessen. Ich wende meinen Blick von meinen Mitschülern und den Lehrer ab, sie besprechen die Einzelheiten oder Diskutieren, und betrachte die anderen Menschen, die sich hier am Flughafen tummeln. Es sind erstaunlich viele Menschen hier, für einen Donnerstag. Viele Männer mit Anzug und Krawatte laufen geschäftig in die unterschiedlichsten Richtungen. Die meisten halten sich dabei ein Handy ans Ohr oder reden mit ihren Headsets, während sie Familien mit Kindern anrempeln und sich dabei wüste Beschimpfungen anhören müssen. Auch viele Touristen halten sich hier auf. Sie haben große Backpacker Rucksäcke auf dem Rücken und sehen aus, als würden sie geradewegs von einem Dschungelabenteuer zurückkommen. Etwas in meinem Magen zieht sich zusammen. Sie leben alle so... normal. Als würde in ihren Leben alles normal laufen. Als würde es kein dauerndes Tief geben, mit dem sie fertig werden müssten. Ich schlucke. Tränen bilden sich wieder in meinen Augen. Ich versuche sie zurückzudrängen. Ich habe nicht vor mir hier, vor meinen Mitschülern und Lehrern und den gesamten Reisenden, die Blöße zu geben und anfangen zu weinen. Das würde nur Fragen aufwerfen oder komische Blicke und ich habe auf beides gerade keine Lust.
„Ms. Lewis sind sie noch bei uns?" erschrocken fahre ich nach vorne, und blicke in siebenundzwanzig Gesichter. So viel zu den komischen Blicken. Ich fühle mich wie ein Reh im Scheinwerfer Licht, straffe jedoch meine Schultern, und stecke meine Hände in die Taschen meiner Jacke. „Ja." Sage ich einsilbig und resigniert. Der Lehrer hebt die Augenbraue, als würde er noch auf eine deutlichere Ausführung warten, die er aber offensichtlicher Weise nicht mehr zu hören bekommen wird. Ich höre ein paar Mädchen kichern. „Okay,-" er dehnt das O in die Länge, als würde er so den Moment überspielen könnte, „Dann wäre das ja geklärt." Er blickt wieder auf eine Karte, die er anscheinend gerade als ich mich aktiv dem Geschehen abgewandt, herausgeholt hatte. Die anderen wenden ihren Blick ebenfalls wieder nach vorne. Ich atme aus. So viele Blicke. Damit konnte ich im Moment nicht umgehen.
Mr. Peterson gibt uns noch weitere Informationen zu unserem Flug und dem Aufenthalt in Norfolk, aber ehe wir fertig sind, ist wieder eine halbe Stunde vergangen. Dann deutet er in eine Richtung, schnappt sich seine Reisetasche und marschiert los. Die anderen sammeln ihre Sachen zusammen und folgen ihm. Ich lasse mir Zeit, und warte bis alle vor weggelaufen sind, ehe ich ihnen folge. Einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, einfach nicht mit ihnen mitzugehen und auf dem Absatz kehrt zu machen. Aber ehrlich gesagt, hätte ich dann keinen Ort, an den ich gehen wollen würde. Zu Hause ist im Moment keine Option und in die Schule würde ich schon gar nicht zurückkehren. Widerstrebend folge ich der Truppe vor mir. Ohne Probleme passieren wir die Sicherheitskontrolle, und als wir an unserem Gate ankommen, hat das Boarding bereits begonnen. Wir stellen uns in die Schlange und steigen ein, auch wenn das meiste einfach an mir vorbeizieht. Ich nehme nur physisch wahr, wie ich mich hinsetzte und meine Playlist anmache. Ich registriere nicht, wie sich einer meiner Mitschüler neben mich setzt und anfängt mit mir zu reden. Nicht wie ich mein Buch aus der Tasche krame und es lese. Es ist ein gutes Buch. Sowohl der Abflug als auch die Landung passieren einfach. Ich habe gemerkt wie das Flugzeug zwischendurch kurz mal geruckelt hat, aber mehr ist nicht zu mir durchgedrungen. Es war ein ziemlich kurzer Flug, jedenfalls kam es mir so vor. Als wir unser Gepäck abgeholt haben und den Flughafen verlassen haben, besteht Mr. Peterson darauf, dass wir uns noch einmal in einem Kreis aufstellen.
Anders als in Kalifornien, ist der Himmel klar und sonnig in Norfolk. Die späte nachmittags Sonne scheint auf uns herab uns ich recke meine Nase ihr entgegen und schließe kurz die Augen. Mr. Peterson holt mich in die Realität zurück. „So, willkommen in Norfolk! Der Flug hat euch hoffentlich nicht allzu viele Probleme bereitet-" er hält kurz inne und sieht zu einem Mädchen, welches eine Papiertüte in der Hand hält. Sie presst die Lippen aufeinander. In den goldenen Strahlen schimmert ihr Gesicht in einem leichten grün. „Jedenfalls werden wir nun mit dem Bus zu unserem Hotel fahren. Die Auskunft hat uns berichtet, dass es in der Nähe vom Meer ist, Ocean View heißt die Gegend. Das heißt sie können sich nach den anstehenden Ausflügen in den Museen einen Nachmittag am Strand machen." Er ist ganz begeistert von seiner Idee, und auch einige meiner Mitschüler klatschen freudig in die Hände. Ich mag den Strand. Aber nicht mit all diesen anderen Personen. Ich mag ihn, wenn er ruhig und verlassen da liegt. In der Nacht. Wenn das Meer ruhig vor sich hin summt und die Wellen an den Strand spült. Wenn sich die Sterne im Meer spiegeln und verlieren. Es ist die beste Zeit zum allein sein. Auch wenn ich mich manchmal Einsam fühle, geht es mir dort am besten. Wir steigen in den nächsten Bus und fahren zu unserem Hotel. Ich hatte es mir anderes vorgestellt. Ich dachte wir besuchen ein großes, weißes Hochhaus. Kahl und uncharmant. Aber als ich aus dem Bus aussteige bin ich überrascht. Das zweistöckige Haus ist an seiner Fassade mit Paneelen ausgestattet und in einer türkiesinnen Farbe gestrichen. Ein großes Schild, im Stile der Fünfziger Jahre verrät den Namen des Hotels. „Anchors in". Eine weiße Holztür führt uns in eine kleine gemütliche Lobby. Überall sind weiße Anker aufgestellt oder angehängt worden. Während sich die anderen auf den weißen Sofas bequem gemacht haben, schaue ich mir die gerahmten schwarz-weiß Fotos an den Wänden genauer an. Sie liegen in einem schmalen Gang, der zu den Treppen führt, und fallen einem nicht so schnell auf. Bewundernd betrachte ich die Fotos. Eines zeigt die Straßenecke nur mit einer leeren Fläche und einem Mann der strahlend einen Daumen in die Höhe reckt. Ein anderes zeigt ein Ehepaar vor dem Hotel Arm in Arm. Und das letzte, ein farbiges Foto, zeigt wohl den jetzigen Besitzer. Ein Mann Mitte oder Ende vierzig, mit einer Kapitänsmütze auf den Kopf. „Steve Sanderson" steht dort als Bild Unterschrift. „Ganz schön viel Geschichte für ein Hotel, oder?" Erschrocken drehe ich mich um. Ein Mann steht nun vor mir. Der, von dem Foto. Diesmal ohne Kapitänsmütze. Er schenkt mir ein breites Lächeln, welches ich nur schmal erwidern kann. Lachfalten zieren seine Augenpartie, welche ihn noch sympathischer wirken lassen. „Ja, erstaunlich." Ich versuche meiner Stimme ein wenig mehr Farbe zu verleihen, aber in meinen Ohren hört sie sich immer noch kalt und gebrochen an. Er hält mir eine Hand hin. „Steve Sanderson. Willkommen im Anchors In!" Ich gebe ihm meine Hand. „Summer Lewis. Ich gehöre zu der Schulgruppe dort." Ich deute hinter mich in den vorderen Teil der Lobby. Er blickt über meine Schulter. „Ah, mir wurde schon von eurer Reisegruppe berichtet. Na, dann kommen sie." Er geht an mir vorbei auf unsere Lehrer zu und ich folge ihm. Ich bleibe jedoch nicht wie er, bei ihnen stehen, sondern ziehe mich in eine andere Ecke, zurück. Ihnen bei ihrem Gespräch zuzuhören wäre wohl mehr als unhöflich gewesen. Nach einem kurzen Wortwechsel kommen Mr. Peterson und... der andere Lehrer auf uns zu, Mr. Sanderson lächelt noch einmal in die Runde, dreht sich jedoch um und läuft den Weg davon auf dem er gekommen ist. „Also dann!", Mr. Peterson klatscht in die Hände, „Es läuft zwar nicht so ganz wie wir es geplant haben, aber der Hotel Inhaber heißt uns hier herzlich willkommen und wünscht uns einen guten Aufenthalt. Wir haben die Zimmerschlüssel gerade ausgehändigt bekommen. Dann sucht euch einen Partner, mit dem ihr euch ein Zimmer teilen wollt." Sofort bricht lautes Gemurmel aus. Ich verschränke die Arme vor der Brust und warte. Warte darauf, dass alle sich ihren Partner gesucht haben. Ein Mädchen mit schwarzen Locken kommt auf mich zu. Tara White. Ihre Nase zuckt, als sie mich anspricht. „Hey, wollen wir uns ein Zimmer teilen?" Sie sieht mich aufrichtig an. Ein kleines Lächeln ziert ihre Lippen. Ich zucke mit den Schultern. „Von mir aus." Ich glaube meine Augen strahlen dieselbe Ausdruckslosigkeit aus, dich ich im inneren fühle. Trotzdem wird ihr Lächeln breiter. „Danke. Ich dachte ich müsste mir schon mit einer von denen ein Zimmer teilen." Sie deutet auf eine Gruppe von Mädchen, die aus irgendeinem Grund alle pink tragen und die immer noch wild miteinander diskutieren. Ich nicke und presse meine Lippen aufeinander. Ich ziehe skeptisch die Augenbrauen zusammen. Sie kichert und deutet mir an, ihr zu folgen. „Komm wir gehen zu Mr. Miller. Er gibt uns die Schlüssel."
Tara besorgt den Schlüssel und gemeinsam machen wir uns auf die Suche nach der richtigen Zimmernummer. Währenddessen redet hauptsächlich nur Tara. Von mir bekommt sie nur einsilbige Antworten. „Eigentlich habe ich mich total auf New York gefreut, aber weißt du was? Ich finde Norfolk gar nicht mal so schlimm." Ich runzle die Stirn. „Wir sind gerade mal eine halbe Stunde hier." Sage ich skeptisch. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach. Ich hab da ein gutes Gefühl! Du wirst schon sehen. Ich freu mich schon total darauf die Stadt zu erkunden." Der Knoten in meinem Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich werde mich wahrscheinlich nie wieder richtig gut fühlen können, denke ich kalt. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Meine Gesichtszüge verändern sich, dass spüre ich. Tara bemerkt es nicht. Aufgeregt sagt sie: „Da ist unser Zimmer. Komm!" sie sprintet los, aber ich laufe einfach normal, ohne zu hetzten. „Wow!" höre ich aus der offenen Tür. Als ich eintrete weiß ich auch wieso. Das Zimmer ist nur für zwei Personen ausgelegt, aber...wow. Zwei weiße Betten, im Maritimen Stil, sind nebeneinander aufgestellt. Gegenüber steht ein kleiner Sessel und an der hellblauen Wand hängen alte Landkarten. Es gibt sogar ein kleines gefliestes Badezimmer. Aber das schönste ist das Fenster. Es ist eher ein Terassenfenster und ist in Richtung Osten gelegen. Die Sonne scheint zwar gerade nicht herein aber der Ausblick ist fantastisch. Man kann auf den Pier schauen. Und auf den Strand. Das Meer. Das Fenster führt außerdem auf einen winzigen Balkon. Wie in Trance lasse ich meinen Koffer und meinen Rucksack bei einem der Betten stehen und gehe auf das Fenster zu. Tara redet wie wild vor sich hin, aber es ist als hätte man sie leiser gestellt. Ich öffne das Fenster und die salzige Seeluft schlägt mir entgegen. Ich öffne erstaunt den Mund. Das Wasser schimmert in einem wunderschönen blau. Der Wind fährt mir durch die Haare und ich schließe die Augen. Die Weite des Ausblickes ist atemberaubend. Ich seufze und lehne mich gegen das Geländer. „Wenn ich jetzt ein Vogel wäre... wäre ich frei."
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