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Eigentlich war es ein ganz normaler Sonntag. Die einen werden depressiv, weil morgen wieder Montag ist. Andere verschlafen den Tag und wundern sich, dass sie nichts geschafft haben. Und wieder andere gehen freiwillig früh in die Kirche.

Und zur letzten Gruppe zähle ich mich heute einfach mal dazu. Ich bin nicht gläubig oder so, bevor ihr ein falsches Bild von mir bekommt. Nein, wirklich, ich bin einer der letzten Menschen, die gläubig werden, und zwar auch dann nicht, wenn Gott persönlich vor der Tür steht. Denn das wäre ja eine Lüge und lügen darf man ja bekanntlich nicht. Denn wenn der allerheiligste Papa sich die Mühe machen würde, vor meiner Haustür zu stehen, hätte ich wahrscheinlich andere Probleme als den Glauben.

Nein, ich gehe heute nur in die Kirche, um jemanden zu betrauern, den ich gar nicht gekannt habe. Großartig, nicht wahr? Ich hätte auch zu Hause bleiben können, das hätte dem Toten genauso viel gebracht, wie wenn ich hier in der Kirche sitze und hoffe, dass alles von der Party gestern drinnen bleibt und meine Kopfschmerzen nicht noch schlimmer werden.

Du fragst dich sicher zu Recht, warum ich hier sitze, wenn ich den Mann, der hier im Sarg liegt, nicht gekannt habe. Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Na ja, es sieht so aus, dass der Typ im Sarg ein Onkel mütterlicherseits ist. Also ein direkter Verwandter, von dem ich mal wieder nichts wusste.

Tja, was soll ich sagen. Die mütterliche Seite meiner Familie ist für mich Neuland. Zugegeben. Und doch gibt es erstaunlich viele von ihnen. So wie die Kirche heute aus allen Nähten platzt. Sie ist schon so voll, dass man extra die große Doppeltür offen gelassen hat, damit die Leute draußen auch was hören.

Ich muss sagen, meine Familie war sehr fleißig, egal auf welcher Seite. Glaubt mir, als Ältester von fünf Kindern kann ich das sagen. Und dabei habe ich die wenigsten Geschwister. Hätten sich meine Eltern nicht getrennt, hätte ich vielleicht mehr Geschwister gehabt. Wer weiß.

Aber egal, wie viele Leute da sind und wie voll die Kirche ist, ich habe immer einen Platz in der ersten Reihe neben dem Pfarrer. Denn seit ich ihm einmal als Ausrede gesagt habe, dass ich keinen Platz in der Kirche bekomme und Stehen für mich definitiv keine Option ist und ich deshalb nicht in die Kirche gehen kann, hält Pfarrer Lethroy einen Platz für mich frei.

Und nun sitze ich hier in besagter erster Reihe, höre besagtem Pfarrer zu und lasse meinen Blick über den Altar mit dem Kreuz und dem halbnackten Jesus, über die bunten Kerzen bis hin zu dem braunen Sarg schweifen, der irgendwie fehl am Platz wirkt.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ein Sarg ist immer fehl am Platz. Schließlich bedeutet das in den meisten Fällen, dass jemand tot ist oder ein Vampir unter uns weilt. Wobei Letzteres für den Vampir wohl eher super-optimal wäre. Denn die Kirche hat nicht nur die bunten Fenster, die fast kein Licht durchlassen, sondern auch ein riesiges Dachfenster, durch das die Sonne gerne mal gnadenlos rein scheint. Aber genug vom Vampir, der ist bestimmt nicht in diesem Sarg.

Dieser Sarg fühlt sich hier so falsch an. Oder ich fühle mich hier falsch und projiziere das einfach auf die große Holzkiste. Das kann auch gut sein. Auf jeden Fall will ich nach Hause.

Vor lauter Gedanken hätte ich es fast versäumt, aufzustehen und mich in die Reihe der Sargträger einzureihen. Doch eine liebe, nette ältere Dame schlägt mir mit ihrem Stock gegen das Schienbein und sieht mich verächtlich an, mit denselben Augen, die mich jeden Morgen durch den Spiegel anstarren. "Steh auf, du fauler Hund, und mach dich endlich einmal in deinem verdammten Leben nützlich. Die Leiche trägt sich nicht selbst ins Grab!"

Ach, ist sie nicht ein liebenswerter Engel?

Okay, ich gebe es zu. Liebevoll und nett sind die letzten beiden Worte, mit denen ich meine Mutter beschreiben würde. Und ein Engel war sie bestimmt nicht. Aber was soll ich sagen, man sucht sich seine Familie ja nicht aus.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibe ich mir kurz die Stelle, an der mich ihr Stock getroffen hat, bevor ich mich aufmache, meinen Platz rechts zwischen meinen beiden Cousins und drei weiteren Fremden einzunehmen. Plötzlich stelle ich fest, dass keiner meiner Geschwister erschienen ist.

Meine beiden Cousins Alex und Max sind die einzigen, die ich aus der Familie meiner Mutter kenne. Und so wie die beiden sind, will ich den Rest der Familie einfach nicht kennenlernen. Selbst jetzt tuscheln die beiden über meinem Kopf über Fortnite und GTA und so einen Unsinn, als wären sie zwölf, keine erwachsenen Männer und das hier keine Beerdigung.

Als ich meinen Blick über die Trauernden schweifen lasse, fällt mir auf, dass hier sehr wenige, wenn überhaupt jemand trauert. War der Mann im Sarg so schlimm gewesen, oder war er einfach wie ich eine Enttäuschung für die ganze Familie?

Was auch immer der Grund war, jetzt musste er in dieses Loch. Und die fünf starken Männer und ich, der ich mich wie immer dezent überflüssig fühlte, begannen den Leichnam und seine Kiste zum Friedhof zu tragen, begleitet von Musik und den anderen, die gemächlich hinterherliefen.

Allen voran der Pfarrer, der es aufgegeben hat, Mitleid mit meiner Familie zu haben, weil er auch gemerkt hat, wie unwichtig dieser Fremde für alle Anwesenden war.

Apropos fremd, irgendwie habe ich nicht mitbekommen, wie der Mann heißt. Wurde das überhaupt erwähnt? Vorsichtig schiele ich um Alex herum, um vielleicht einen Blick auf den Grabstein zu erhaschen. Aber Fehlanzeige!

Weit und breit kein Grabstein, kein Holzkreuz, das auf einem Loch steht. Nein, da ist nur ein Loch zwischen zwei Gräbern. Fassungslos gehe ich weiter auf das Loch zu und ein Gefühl des Unbehagens macht sich in mir breit. Sofort kommen mir die Worte eines alten weißen Bettlers in den Sinn, der sagte, wenn man den Namen eines Menschen vergisst, hat er keine Identität mehr. Dann war das ganze Leben, das man hatte, umsonst. Dann erinnert sich sowieso niemand mehr an dich.

Notiz an mich selbst: Solange ich lebe, sage ich jedem, wie ich heiße und dass ich einen großen Grabstein haben möchte. Egal, ob ich am Ende in den Wald, ins Wasser oder in ein Loch geworfen werde.

Und nun war es an der Zeit, die Leiche des armen Mannes oder was auch immer er war, in sein letztes Loch zu stopfen.

Als dies geschehen war, wollte Lethroy eine letzte Predigt halten. Aber es war niemand mehr da, der zuhören wollte. Außer mir und einem älteren Ehepaar.

Und ja, ich bin dem Mann nichts schuldig, der da in dem Loch liegt, das gerade verschüttet wird. Seinetwegen bin ich auch nicht am Grab geblieben. Sondern wegen des Pfarrers. Ich finde, wenigstens ihm kann man heute Aufmerksamkeit schenken. Schließlich hat er sich viel Mühe gegeben. Konnte ja keiner ahnen, dass die Familie so drauf ist.

Und warum das Ehepaar geblieben ist, geht mich nichts an.

"Danke, dass ihr so zahlreich... dass ihr geblieben seid. Gemeinsam werden wir diesen Körper der Erde zurückgeben, damit die Seele den letzten Schritt tun und in den Himmel aufsteigen kann", beginnt Lethroy zu predigen. Während ich versuche, ihm zuzuhören, höre ich auch das alte Ehepaar miteinander tuscheln, nicht gerade leise.

"Er wird der letzte sein, der in den Himmel kommt, nicht wahr, Herbert?", geifert die alte Frau. "Da hast du recht, Hildegard", stimmt ihr der Mann zu. Und mal ehrlich, warum muss eigentlich jeder zweite alte Mensch in Deutschland Herbert und Hildegard heißen?

Mein Blick, starr auf den Boden gerichtet, schielt zum Pfarrer. Ich war gespannt, wie der Kirchenmann reagieren würde. Doch der redet ungerührt weiter. Und ich bin mir zu 99,9 Prozent sicher, dass er das Gespräch gehört hat. So laut, wie die sich unterhalten. Und da ich nicht gehört habe, dass der Pfarrer einen Hörschaden hat oder so, muss er das gehört haben. Aber es scheint ihn nicht zu jucken. Wobei ich auch aus vertraulichen Quellen weiß, dass Lethroy ein begnadeter Schauspieler ist und vor seiner Priesterkarriere Schauspieler werden wollte. Es könnte also sein, dass er einfach so tut, als würde er nichts hören.

Plötzlich weht ein Wind, der mich zittern lässt, und als ich zum Himmel schaue, sehe ich die dunklen Wolken über uns. Die Luft riecht nach Regen. Warum muss jede Beerdigung so klischeehaft sein, dass es immer regnet?

Der Pfarrer beendet seine Rede und schaut mich an. Die beiden Älteren machen sich sofort auf den Weg, während ich auf Lethroy warte. "Schöne Worte", sage ich zu dem anderen Mann. Der Pfarrer lächelt: "Ach, du hast zugehört? Ich hatte manchmal das Gefühl, dass das nicht der Fall war".

Ein Grinsen huscht über mein Gesicht. "Da hast du mich erwischt. Aber das, was ich gehört habe, klang doch ganz gut", antwortete ich, "du weißt ja, dass ich mit diesem Kirchenkram nicht so viel am Hut habe."

Der Pfarrer nickte zustimmend, blickte kurz auf das frische Grab, an dem der Totengräber noch arbeitete, und dann wieder zu mir. "Hast du Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken?", fragt er mich und sieht mich mit diesem flehenden Blick an, bei dem es mir immer schwer fällt, nein zu sagen.

Und so willige ich ein, mit ihm Kaffee zu trinken, ich habe heute sowieso nicht viel zu tun. Ist ja nicht so, dass ich alleine wohne und nur eine dicke Katze auf mich wartet, die sowieso nur da ist, wenn sie Hunger hat. Die kann ja warten, bis mich der Hunger nach Hause treibt.

Gemeinsam gehen der Pfarrer und ich zurück in die Kirche, damit der Heilige sein schwarzes Gewand ablegen kann. Zum Glück war es nicht Hochsommer, sondern Spätsommer. Da wird es langsam kälter und unter dem Mantel ist es bestimmt angenehmer.

"Du bist ja ganz in Gedanken versunken", kommentiert Lethroy und sein Blick fixiert mich, "hast du etwas auf dem Herzen?"

"Eigentlich nur das Übliche", antworte ich und seufze theatralisch, "Ich fühle mich mal wieder so nutzlos wie immer. Einfach wie ein nutzloses Leben in einer so bedeutungsvollen Zeit und so ein Scheiß!" Lethroy sieht mich mitfühlend an. Natürlich ist es ihm nicht fremd, wie ich über mein Leben denke. Aber er antwortet nicht, obwohl ich genau weiß, was er sagen will. Nein, stattdessen kramt er in seiner Jackentasche und zieht ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten heraus. Während er sich einen der Papierstängel in den Mund steckt, hält er mir die Schachtel hin.

"Ach lieber nicht, die Dinger sind nicht gesund für den Körper, wissen Sie, Pastor?", sage ich und lehne höflich ab. Daraufhin wirft er mir einen 'Willst du mich verarschen?'-Blick zu, zuckt mit den Schultern und zündet sich selbst eine Zigarette an.

Und von da an verschwimmen meine Gedanken. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir da gestanden und Kaffee getrunken haben. Ehrlich gesagt haben wir auch kein Wort mehr miteinander gewechselt, außer: „Zucker?" „Ja" „Milch?" „Ja" „Willst du noch einen?" „Nein, ich muss nach Hause. Verpflichtungen und so." „Tschüss Christopher!" „Tschüss Pascal!"

Und damit war ich verschwunden, wieder auf dem Weg nach Hause, zu den fetten Katzen, den Schnapsflaschen und den Unmengen an vollen und leeren Zigarettenschachteln.

Zurück in mein bedeutungsloses Leben.

Hätte ich aber gewusst, dass heute der letzte unbedeutend normale Sonntag, der letzte unbedeutend normale Tag überhaupt war, hätte ich vielleicht doch zur Kippe gegriffen und Lethroy gesagt, wie sehr ich ihn liebe und dass ich dringend Hilfe brauche.

Jetzt war es zu spät und morgen war der Tag, an dem die Welt untergehen würde.

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