6.Dezember-December

Biolehrer sind schon eine seltsame Spezies. Sie stochern freiwillig während ihres Studiums in Nieren herum (bestimmt geht ihnen das Unverständnis des Aufbaus dieser Dinger auf die Nieren), kennen alle Risiken, die der menschliche Körper auf dem Planet Erde so anzubieten hat und bleiben dabei mehr oder weniger bei Verstand. Dass sie dabei aggressiv und sadistisch werden, überrascht mich ehrlich gesagt nicht, trotzdem finde ich es scheiße, dass wir jetzt ein Referat halten müssen.

So. Jetzt ist es draußen. Ich mag Ziegen, aber ich habe absolut keinen Bock auf einen Vortrag über Chorea Huntington. An meinen freien Nachmittagen setze ich mich normalerweise nicht mit Erbkrankheiten auseinander und trinke währenddessen Chai Latte mit Eiswürfeln. Auch wenn Rose ihn wirklich vorzüglich zubereitet hat und es generell sehr gemütlich in ihrem Zimmer ist mit dem warmen Licht aus der Deckenlampe im Kontrast zu der Winterlandschaft vor dem Fenster und Jürgen dem Brutalen zu meinen Füßen.

Am liebsten hätte ich mich in eine der regenbogenbunten Flauschedecken auf dem Bett eingewickelt und einfach hier gelegen, bis Arvid in seinem Zimmer oben ein Greis und somit nicht mehr interessant für Christmas wäre, aber leider würden wir mitaltern. Verdammte Logik, wieso muss sie mir immer einen Strich durch die Rechnung machen? Und wie wird es wohl sein, wenn wir dann alle unsere Haare benennen und personalisieren und Essen nur noch in verflüssigter Form zu uns nehmen können? Wie schnell wird die Zeit bis dahin vergehen?

In plötzlich melancholischer Stimmung lasse ich mich auf den Rücken fallen und starre an die cremeweiße Decke. Eine kalte Hundeschnauze reckt sich in die Höhe, berührt meine Hand und erinnert mich daran, dass ich vor kurzem noch fünf Jahre alt war und täglich um ein Haustier gebettelt habe.

Glücklicherweise ist jetzt ein leises Türknarren zu hören und Rose betritt mit zwei Zuckerstangen (scheinbar ist es doch nicht allzu schlimm, dass ich die letzte Bibellesung verschlafen habe) und einer grob herausgerissenen Zeitungsseite in der Hand wieder ihr Zimmer.

»Und? Hat Dschibuti einen neuen Kanzler?«, frage ich sie, als ich mich aufsetze.
»Nein«, erwidert Rose und grinst schwach. »Aber Uruguay oder Walen...Gibt es das überhaupt? Wie heißt der Ort, an dem man Walisisch spricht?«

»Das ist eine sehr gute Frage, aber heute leider nicht unser Thema.« Ich schnappe mir eine der Zuckerstangen, die sofort klebrige Spuren an meinen Fingern hinterlässt.
»Was schleppst du da eigentlich mit?«

Arvids Schwester lässt sich neben mich fallen und gewährt mir Blick auf ihr zerfleddertes Mitbringsel.
»In dem Artikel geht es um den Brand im Hochhaus. Ich dachte, sie sollte ihn nicht unbedingt sehen.«
Ein leichtes, angenehmes Brennen macht sich in meinem Bauch breit. Meine Neugier ist geweckt. 
»Was ist denn mit ihr passiert?«, hake ich nach und nehme Rose das knisternde Papier vorsichtig aus der Hand.
»Nichts Gutes. Der Club, in dem sie waren, hat zu brennen begonnen und ihre Mutter liegt jetzt im Koma.«

Verdammt. Das habe ich nicht erwartet. Trotzdem prickelt diese leichte Faszination in meinem Bauch wie Himbeerbrausepulver. Die Geschichte erinnert mich an einen Kriminalfall, den ich kürzlich gelesen habe.
»Darf ich...?«

Ich muss meine Frage nicht einmal ausformulieren, meine hoffentlich nicht baldige Schwägerin (oder Schwester des Schwägers oder Cousine der Freundin des Bruders der Tante der Braut oder was auch immer) nickt schon.
»Du kannst ihn gerne haben, wir brauchen ihn nicht.«

Und vielleicht sehe ich schon wieder Gespenster, aber wenn ein madagassischer Mafiaboss mit gebrochenem Herzen Aria und ihre Mutter im Hochhaus brennen sehen wollte, werde ich es herausfinden. Oder den Gärtner verdächtigen.


❄️❄️❄️


Göttlich. Rumkugeln sind göttlich. Meine Hefte und Bücher habe ich achtlos auf den Küchentisch geknallt, jetzt brauche ich meine Finger für eine viel sinnvollere Tätigkeit. Nämlich das Führen der Gabel mit Götterspeise in meinen Mund. Genüsslich lasse ich mir eine auf der Zunge zergehen, dann rufe ich ein »Hallo« ins Haus. Meine Familie kommt natürlich gleich an zweiter Stelle.

»Hallo, wie war's bei Rose?« Meine Mutter betritt den Raum beinahe lautlos und drückt mir einen Kuss auf den Kopf.
»Und was ist das schon wieder für eine Unordnung am Tisch?«

Ich verdrehe die Augen und will wie Dieter Bohlen johlen. Solche Sätze kenne ich schon so gut wie jeder hier meine schlechten Modern Talking-Witze.
Hinter mir ist Papierrascheln zu hören. Vermutlich verräumt meine Mutter mein Zeug wieder so, dass ich nichts finden werde. Als ich mich umdrehe, um sie aufzuhalten, sehe ich, dass sie einfach nur dasteht. Sich nicht bewegt. Etwas anstarrt.

Den Artikel, den Rose mir gegeben hat.

Als ich näher trete, um zu sehen, auf was ihre Augen gerichtet sind, macht sie einen Schritt zurück. Sie hat die Farbe von abgelaufener Milch angenommen und meidet meinen Blick.

»Mum? Alles okay?«

»Ich muss noch schnell...äh, kochen. Sonst haben wir heute Abend nichts zu essen.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und verlässt die Küche. (Man bemerke den Widerspruch.)

Verwirrt wende ich mich dem Zeitungsstück zu.

Advent, Advent, der Club brennt!, lautet die Schlagzeile. Ich überfliege den Rest. Feuer ausgebrochen, Menschen nur leicht verletzt, Angeolina D. liegt im Krankenhaus, darunter ein Foto von zwei Kindern. Klar, das ist tragisch, aber nichts davon würde meine Zeugerin normalerweise so aus der Ruhe bringen.

Hoffentlich ist meine Mutter nicht der madagassische Mafiaboss.

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