6. Dezember - Aria

Ihre Nase ist nicht schön. Wenn man genau hinsieht, erkennt man eine leichte Unebenheit. Und ihre Nägel sind lange nicht so sorgfältig gefeilt wie meine. Meine Hände sind definitiv die schöneren.

Trotzdem sind es ihre Finger, die zwischen Arvids geschoben sind, als sie die graue, moderne Tür ihres Hauses öffnet. Mein Exfreund hat wohl nicht erwartet, mich hier zu sehen, denn seine Augen weiten sich kurz überrascht und er sieht aus, als würde er gerne etwas sagen.

Wahrscheinlich wäre das Zum biertrinkenden Stierkopf oder so. Pah.

»Hallo Aria.« Sie besitzt auch noch die Frechheit, mich freundlich anzulächeln. Und ihr Lächeln ist auch noch schön. Sie hat Grübchen. Das fühlt sich an, als hätte jemand Teer in meinen Bauch gegossen.

»Hallo Christmas.« Die abschätzige Betonung ist nicht beabsichtigt, aber ich kann doch nicht anders, als ihr so herablassend wie möglich zuzunicken.

Dass er eine Freundin hat, hat er mit keinem Wort erwähnt.

»Und hallo Arvid, wie hast du heute geschlafen?« Und vor allem wo?
Er weiß genau, was ich meine.
»Danke der Nachfrage, gut.«
Ich weiß nicht genau, was er meint.
Kurz stehen wir alle drei still da und sehen uns an. Scheiße ist das.

»Warte, ihr kennt euch?«, fragt Christmas schließlich.
»Wir-« Arvid bricht den Satz ab und räuspert sich, bevor er nochmal beginnt. »Darf ich vorstellen: Das ist meine neue Stiefschwester.«
Was wollte er denn sagen? Wir hatten mal was miteinander? Wir haben uns vorgestern geküsst, obwohl er mit dir zusammen ist? Wir kennen und schon viel länger als du und ich?

Da hätte ich nichts dagegen gehabt.

»Ah, so ein Zufall!« An Christmas' Blick kann ich erkennen, dass sie überrascht ist.
»Aria und ich müssen gemeinsam an einem Biologieprojekt arbeiten. Willst du uns Gesellschaft leisten?«

Und dann haben wir einen Dreier oder wie? Die Bemerkung liegt mir auf der Zunge, aber ich zügele mich gerade noch, als Arvids warnender Blick mich trifft.
»Danke, aber ich muss sowieso gleich los. Euch viel Spaß und tschüss.« Innerhalb weniger Sekunden hat er sich seinen Mantel angezogen, Christmas geküsst und sich an mir vorbeigeschoben.
»Bis später, Aria.«

»Oh entschuldige, dir muss kalt sein. Ich bin eine schlechte Gastgeberin. Komm doch rein.« Christmas tritt zur Seite und lässt mich somit endlich ins Warme. Dafür, dass das Haus von außen einfach nur wie ein normales Familienhaus wirkt, ist es ziemlich schön eingerichtet. Sobald man durch die Haustür tritt, befindet man sich in einem hallenartigen Eingangsraum, von dem aus eine Treppe in den ersten Stock führt. Christmas führt mich die große hölzerne Stiege rauf. Hier, im ersten Stock, fängt der eigentliche Wohnteil erst an. Mir wird ein bisschen schwindelig, denn von hier oben kann man runter zum Eingangsraum blicken. Wir sind bestimmt in vier Metern Höhe und zur Sicherheit gibt es nur eine bauchhoche Halbwand.

Ich kann durch eine geöffnete Schiebetüre in den Wohn- und Essbereich geradeaus  sehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich die letzten Jahre kein wirkliches Zuhause hatte, aber der Anblick  des Panoramafensters hinter dem Esstisch haut mich fast um. Man blickt über fast ganz Drayton Valley, das ringsum von Wald umgeben ist. Christmas' Haus liegt etwas abgelegen auf einer kleinen Anhöhe, sodass man die meisten Häuser von oben betrachten kann. Die langsam untergehende Sonne taucht alles in ein goldenes Licht, die schneebedeckten Wälder samt Häuser, die wie Sterne im Nachthimmel leuchten. Wie man sich so etwas leisten kann, ist mir schleierhaft.

Der Teer in mir scheint das Staunen, das sich bei dem Ausblick in mir ausbreitet, zu verdrängen zu versuchen. Versunken in meinen Gedanken bemerke ich December, die am runden Esstisch sitzt und in ihr Handy vertieft ist, gar nicht. Erst als sie mich mit »Hey Aria« begrüßt, nehme ich Notiz von ihr. Und von der Frau, die in der offenen weiß- grau gehaltenen Küche steht und dort Geschirr einräumt. Ob die wohl eine Haushaltshilfe brauchen? Ich hasse das Abspülen zwar, aber für diesen Anblick würde ich stundenlang in der Küche stehen und Geschirr einräumen, ehrlich. Und vielleicht könnte ich Christmas und Arvid zwischendurch den Moment ruinieren.

Nein, stopp. So darf ich nicht anfangen.

»Verdammt, dieses Referat.« December steht fluchend auf und drängt sich an mir und Christmas vorbei. »Ich habe Rose gesagt, ich komme heute noch vorbei. Hab ich total vergessen.« Sie schlendert zu der Frau in der Küche und drückt sie kurz. Sie ist wahrscheinlich Christmas' und Decembers Mutter. Die kastanienbraunen Haare erinnern jedenfalls an die der Schwestern, auch wenn deren Haare dichter und lockiger sind. Sowieso macht die Mutter der beiden einen sehr zerbrechlichen Eindruck auf mich.

»Okay, aber pass im Dunklen auf.« Christmas' und Decembers Mutter spricht langsam und leise, als hätte sie Angst, zu laut zu werden. Ich beschließe, auf sie zuzugehen. »Hallo, ich bin Aria, eine Schulkollegin von Christmas und December.« Sie reicht mir die faltige Hand. Ich kann den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten. Irgendwie müde. »Haley. Schön dich kennenzulernen, Aria.«

Christmas hat sich mitsamt Schultaschen an den Tisch gesetzt und schreibt irgendwas auf. »Aria und ich haben gemeinsam dieses Partnerprojekt in Biologie«, meint sie abwesend. Auf ihren Wink hin setzte ich mich neben sie. Eigentlich sollte ich mich freuen und diese wunderschöne Aussicht, die sich geradeaus vor mir erstreckt, genießen, aber bei dem Anblick des in die Kamera strahlenden Paares auf Christmas Sperrbildschirm würde ich das Panoramafenster gerne zertrümmern.


❄️❄️❄️


197 Narzissen. Es hat zwar eine Weile gedauert, alle aufgedruckten Blumen auf der Tapete meines neuen Zimmers zu zählen, aber wenigstens hat es mich abgelenkt. Ich hasse Narzissen. Mein Vater mag die Blumen ganz gerne. Sie bedeuten Respekt oder irgend so einen Schwachsinn. In meinem Zimmer würde ich mich hundert Mal wohler fühlen als in diesem unpersönlichen Gästeraum. Aber das hat ja jetzt Arvid.

Arvid und Christmas. Mein Gehirn hat die letzten Stunden an nichts anderes gedacht. Es ist, als wäre alles mit den beiden verknüpft. Die Tannenbäume am Weg nach Hause, die mich an Christmas' Augen erinnern. Die Farbe des Autos meines Dads, das den gleichen Pastellton wie der Hoodie hat, den Arvid heute Morgen getragen hat. Mein Anfangsbuchstabe. Aria und Arvid.

Der Teer will einfach nicht verschwinden und das macht mich so wütend, dass ich das Gummibärchen in meiner Hand als Anti-Stressball missbrauchen muss.

Es ist süß. Ich bin nicht süß. Christmas schon.

Ich stöhne und vergrabe das Gesicht in der Bettdecke. So geht das schon die ganze Zeit. In meinen Gedanken scheinen nur noch zwei Wörter zu existieren. Christmas und Arvid. Arvid und Christmas. Und das, obwohl meine Mutter im Koma liegt.

Ich kann nur eines probieren. Aus dem Fenster springen. Das wäre natürlich auch eine Option. Aber ich meine eine Konfrontationstherapie.
Seufzend stehe ich auf uns tapse in mein altes Zimmer, das neben dem Gästezimmer liegt. Meines Wissens nach hat Arvid gerade Hockeytraining. Also kann ich in aller Seelenruhe in sein Zimmer gehen, wenn möglich Bilder von ihm und Christmas so lange anschauen, bis der Teer getrocknet statt heiß und klebrig ist und dann wieder hinaufspazieren.

Sogar das Quitschen der Tür fühlt hört sich vertraut an. Langsam sehe ich mich im kleinen Raum um, atme den Holzgeruch ein, setze mich vorsichtig auf das Bett, das früher mir gehört hat und schließe die Augen. Obwohl alles hier nach Arvid riecht, werden die Gedanken um Christmas und ihn leiser. Stattdessen erinnere ich mich an frühere, längst vergangene Zeiten.

»Aria?«  Ich zucke zusammen. Arvids dunkle  Augen bohren sich in meine. »Was machst du hier?«

»Abwarten und Teetrinken«, schnaube ich, aber er erwartet gar keine Erklärung.
»Das mit Christmas tut mir leid. Ich wollte es dir schon vorher sagen , aber dann...«  Er zuckt hilflos mit den Schultern. »Ach du radargesteuerter Katzenkorb, ich hasse diese Situation.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, während der Teer in mir brodelt. »Hast du mir mit dem Ausruf gerade einen Korb gegeben?«
»Was? Nein! Ich meine, doch. Vielleicht.« Er stöhnt. »Ich weiß es nicht.«

Er schweigt, ich schweige.

Wir sehen uns noch kurz müde an, dann setzt er sich neben mich.
»Schau mal, Aria, ich bin mit Christmas zusammen. Aber was ich gestern gesagt habe, habe ich so gemeint. Ich bin immer für dich da.«
Der Kloß in meinem Hals ist wieder da, also sitze ich weiterhin einfach nur da und sage nichts.

»Wie geht es dir? Auch hier, wieder mit David. Das habe ich gestern gar nicht gefragt«

Ich habe ihm nie von den Problemen zuhause erzählt, nur Andeutungen gemacht. Er war meine Sandbank, auf der ich für einen Moment stehen kann, statt immer nur schwimmen zu müssen. Ein Ort, an dem ich einfach Luft holen kann.

»Es könnte besser sein. Mein Vater ist ein Arsch.«
»So hat er aber nie gewirkt.«
»Er ist es nur, wenn niemand hinsieht. Er würde sich nicht in der Öffentlichkeit die Kleidung vom Leib reißen und sich entblößen.«

Er lacht.

»Ich kann dir jedenfalls versichern, dass meine Mom und Rose nicht so sind.« Sein Blick trifft meinen. »Auch, wenn es wahrscheinlich nicht so leicht ist, Mom zu akzeptieren.«
»Mir ist egal, was David mit wem macht«, lüge ich wieder. »Susan ist bestimmt nett, aber als Mutter werde ich sie nicht akzeptieren.« Ich sehe ihn an. »Dann müsste ich auch anfangen, dich als Bruder zu sehen.«
Arvid schnaubt. »Wir befinden uns wirklich in einer skurrilen Situation. Ich sehe dich bestimmt nicht als meine Schwester, auch wenn ich versuchen werde, dir möglichst brüderlich meine Hilfe anzubieten.«

Für einen kurzen Moment ist es wieder so, als würden meine Füße den Boden der Sandbank erreichen. Sie ist immer noch da.

Ich beuge mich zu Arvid und küsse ihn, spüre seine Lippen auf meinen. Ich will endlich wieder atmen. 

Für einen kurzen Moment sitzt er nur perplex da, bewegt sich nicht, lässt es einfach über sich ergehen. Dann knarrt es irgendwo und mit dem Geräusch scheint er aufzuwachen. Er tut endlich etwas – aber nicht das, was ich gewollt habe.

Wieder sind seine Hände sanft, als er mich von sich wegschiebt. »Ach Aria, das geht nicht. Ich habe eine Freundin.« Er sieht mich mitleidig an, als er merkt, dass seine Worte mich treffen. Der Teer brodelt wieder in mir.
»Ich gehe jetzt besser«, sage ich so ruhig wie möglich, bevor ich aus dem Zimmer stürme.
»Aria!«, ruft er mir leise nach und ich höre ihn, aber ich drehe mich nicht um.

Vielleicht ist die Sandbank noch da, aber der Boden ist nun voller Seeigel. Ich kann nicht mehr darauf stehen.

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