4.Dezember - Arvid
Zur bimmelnden Kuhglocke, nicht schon wieder! Ich würde für einen Monat auf den wunderbaren Kirschkuchen, den mein Großvater immer aus dem Golf Club mitbringt, verzichten, wenn ich die Zeit zurückdrehen und Christmas nicht seit einer halben Stunde in der Kälte warten lassen müsste. Zum zweiten Mal in Folge. Das passiert, wenn man mich allein einkaufen schickt, ich bleibe an jeder Ecke und vor allem bei Gebäck ewig hängen.
Das letzte Mal wollte ich eine Wette gegen meinen besten Freund gewinnen, aber nein, eisige Kälte ist mir aus dem Hinterhalt in Form eines Schneeballs in den Nacken geknallt, bevor ich Andy überhaupt gesehen habe. Dieses Jahr hat diese Flitzpiepe mich zuerst erwischt und meinen dreijährigen Streak gebrochen.
Irgendwie habe ich in der kalten Hitze des Gefechts ganz darauf vergessen, dass ich eigentlich mit meiner Freundin verabredet gewesen bin. Und heute geht es mir gleich, nur dass der wunderbar duftende Kuchen in meinem Rucksack, den ich nach langem Überlegen für heute Abend ausgewählt habe, statt des Schnee daran schuld ist. Und die beiden Pappbecher voll mit heißer Schokolade, die ich in den Händen trage, aber einer davon ist immerhin für Christmas.
Sie steht einfach da und blickt in den Himmel, als ich unseren Treffpunkt an der Straßenecke erreiche. Ihr Blick ist nachdenklich, während sie die Schneeflocken beim Tanzen beobachtet. Aus den Wolken bis zur uns auf der Erde drehen sie ihre Pirouetten und landen auf der Nasenspitze meiner Freundin, verfangen sich in ihren Wimpern.
»Es tut mir leid!«, sage ich, anstatt sie zu begrüßen. »Wartest du schon lange?«
Christmas dreht sich zu mir um und lächelt zur Begrüßung.
»Ich fühle mich sowieso immer so, als würde ich warten«, erwidert sie.
Sollte das ein subtiler Hinweis sein? Ich brauche kurz, um ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten. Ihr linker Mundwinkel ist leicht nach unten gezogen und ihre Augen wirken verschleiert – so sieht sie immer aus, wenn sie in ihren Gedanken gefangen ist.
»Inwiefern?« Ich reiche ihr einen Becher. »Meinst du, dass du immer darauf wartest, dass ich endlich anspaziert komme und dich auf heiße Schokolade einlade? Dann musst du nämlich nicht mehr warten. Hier ist dein Kakao.«
Sie lacht leise und nippt an ihrem Getränk, aber ganz ist sie noch immer nicht bei mir.
Ich strecke ihr meine freie Hand hin. »Du denkst zu viel, Massy.«
Sie schiebt ihre kalten Finger zwischen meine. »Ich weiß. Aber ich kann nicht damit aufhören.«
Wir beginnen, die rutschige Straße entlangzugehen.
»Vielleicht warte ich aber auch darauf, dass du endlich aufhörst, mich Massy zu nennen.« Meine Freundin wirft mir einen Blick zu.
»Wieso das?« Ich schiebe leicht die Unterlippe vor. »Ich finde, es passt zu dir.«
»Sehe ich etwa aus wie ein Seeungeheuer?« Sie runzelt die Stirn, aber ihre Augen glitzern.
»Du Schneeflockenfloh, das ist Nessy, nicht Massy.«
»Schneeflockenfloh?« Als sie lacht und sich auf die Zehenspitzen stellt, um mir mit kakaowarmen Lippen einen Kuss auf den Mund zu drücken, weiß ich, dass sie endlich wieder ganz bei mir ist.
❄️ ❄️ ❄️
Der Kuchen für heute Abend ist nicht mehr warm und duftend, sondern ein Eisklumpen in meinem Rucksack. Vermutlich würden meine Lippen an ihm kleben bleiben, wenn ich versuchte, ihn zu essen.
Dann ist er eben für die Tochter meines Stiefvaters David gedacht, die heute bei uns angekommen ist.
Deren Ankunft habe ich übrigens auch verpasst.
Ich weiß nicht viel über sie. Nur, dass ihre Mutter wohl einen Unfall hatte und David der letzte Angehörige ist, den sie hat, weshalb sie für eine Weile bei uns unter kommen wird.
Ich habe eigentlich kein Problem damit, solange ich mich nicht mit ihr beschäftigen muss. Sie tut mir leid.
Dass nicht alles so gelaufen ist wie geplant, erkenne ich an Jürgen dem Brutalen, unserem dicken Golden Retriever, der mir leise winselnd aus dem Esszimmer entgegenläuft. Ich streichle ihm flüchtig über den Kopf und betrete den Raum, der nichts von einer glücklichen Familienzusammenführung erzählt. Die Teetassen stehen halbleer auf dem Tisch, in der Mitte ist der leere Platz für den Kuchen. Ich stelle den Eisklumpen vorsichtig ab. War das ein Klirren?
Aus dem Nebenzimmer meine ich, leise Stimmen zu hören. Vermutlich haben David, meine Mutter und unsere neue Mitbewohnerin Einiges zu besprechen. Also bleibt vielleicht noch etwas Zeit für mich, mich ins Bett zu begeben und meine eiskalten Füße langsam wieder in die Welt der Lebenden zurück zu holen.
Ich husche durch den dunklen Flur in Richtung der geschwungenen Treppe, die nach oben in mein Zimmer führt, und versuche so leise wie möglich zu sein.
Bis ich über etwas stolpere, das kurz vor der ersten Treppenstufe steht und mit einem Krachen umfällt.
»Zum angemalten Blumentopf, was ist das?«, grolle ich entnervt und taste nun doch nach dem Lichtschalter, finde ihn aber nicht.
»Du immer mit deinen seltsamen Flüchen«, ertönt eine Stimme von irgendwo knapp vor mir. Eine bekannte Stimme. Eine Stimme, von der ich nie wieder erwartet habe, sie zu hören.
Heiliger Bimbam.
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