4. Dezember - Aria
Sein T-Shirt ist noch nass vom Schnee und die Nasenspitze rot vor Kälte.
Seine grün-braunen Augen blitzen im Licht.
»Aria?« Er tritt einen Schritt näher an mich heran und sieht mich prüfend an. Ich bin jetzt kleiner als er.
Aria. Früher war ich Ari. Es hat sich so viel verändert. Ich blicke auf das Foto neben der Haustür, das mir gleich am Anfang aufgefallen ist. Es ist ein Foto von Arvid und einem Mädchen, das ein wenig jünger ist als er. Ich nehme an, es ist Rose, seiner Schwester, von der er mir immer erzählt hat.
Arvid ist ganz anders. Seine Haare sind nur noch vorne lockig, seine Schultern breit. Er ist größer als ich und nennt mich nur Aria. Es fühlt sich so an, als würde er mich plötzlich mit Nachnamen ansprechen.
»Also bist du Davids Tochter.«
Ich nicke stumm. Wie kann es sein, dass wir ganze eineinhalb Jahre zusammen waren und er weder meine Mutter noch meinen Vater kennengelernt hat? Arvid scheint das Gleiche zu denken.
»Das... das kommt unerwartet.« Ich zucke mit den Schultern. »Hm, jetzt bin ich eben hier.«
Stille breitet sich aus. Stille, in der wir beide unseren verwirrenden Gedanken nachgehen.
Schließlich holt Arvid tief Luft. »Du hast also hier gewohnt?« Ich nicke.
»Ich bin hier aufgewachsen.«
»Und welches war dein Zimmer?«
»Die Treppe rauf, die erste Tür links.« Es hat ein kleines Geheimfach in der Wand unter dem Fensterbrett. Dort habe ich früher immer Bilder von Arvid aufbewahrt, weil meine Eltern nicht wissen sollten, dass ich einen Freund habe. Mit vierzehn findet man sowas wohl romantisch.
Arvid schluckt kaum hörbar. »Das ist auch meines.«
Ich löse meinen Blick von der Wand neben mir und werfe ihm einen Blick zu. »Es ist eigentlich das Beste, oder?«
»Oh ja«, antwortet er. »Vor allem das Geheimfach.«
❄️❄️❄️
»Den Schal kannst du ausziehen, Aria, es ist beheizt.«
Ich verschränke die Arme und lehne mich an den Kühlschrank. Ich denke gar nicht daran. Dank Brandon habe ich einen ziemlich sichtbaren Knutschfleck am Hals und den möchte ich dem Mann mir gegenüber nur ungern auf die Nase binden. Wahrscheinlich würde er denken, ich wäre das gleiche Flittchen wie meine Mutter geworden. Womit er vollkommen falsch liegt. Auf Partys bringe ich das meiste Geld nach Hause, nicht sie.
Der Mann, den ich früher Dad genannt habe, seufzt und reibt sich die Augen. »Du bist keinen Tag älter geworden.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Danke?«
»Das war kein Kompliment. Du verhältst dich wie eine sture Dreizehnjährige. Dabei bist du... siebzehn?«
»Achtzehn.« Dass er nicht weiß, dass ich im November Geburtstag habe, enttäuscht mich irgendwie. Aber was habe ich erwartet? Er hat mir noch nie eine Karte geschickt. Warum sollte er auch? Das letzte Geschenk, das ich von ihm bekommen habe, war ein billiger Stoffoktupus, der irgendwann einmal im Trend gewesen ist und der immer noch in meinem Kleiderschrank zuhause sitzt und mich mit wütender Miene anschaut, wenn ich meine Kleidung raussuche.
»Arvid hast du ja schon kennengelernt, oder?« Ich nicke. Schon lange.
»Okay. Susan und Rose sollten bald nach Hause kommen. Ich hab ihnen gesagt, sie werden uns in der Küche finden.«
»Was soll das denn werden? Ein Kreuzverhör? Eine dieser peinlichen Kennenlernrunden?«
Ich verschränke die Arme. »Ich werde mich nicht mit Vornamen und meiner Lieblings-U-Bahn vorstellen, damit das klar ist.«
Er geht nicht darauf ein. »Du wirst im Gästezimmer schlafen müssen.« Ich sage nichts und Stille breitet sich zwischen uns aus. Sie ist kalt und steif, wie es innerhalb der Familie nicht sein sollte. Aber auch mein Blick ist eisig, mein Mund verschlossen. Ich halte Smalltalk für unnötig, er ist doch nichts mehr als ein antrainierter Mechanismus, um Interesse an der anderen Person vorzutäuschen, wo keines besteht.
»Und, was hast du so gemacht in all den Jahren? Also, nachdem du uns rausgeschmissen hast.«
»Den Ersatz deiner Mutter geheiratet, sie einziehen lassen und nie mehr an dich gedacht. Bei dir?«
»Ähnlich. Also, ich habe niemanden rausgeschmissen, aber nicht mehr an dich gedacht.«
Dabei stimmt das gar nicht.
Als Mamá von einer Depression in die nächste gerutscht ist, hat sie ihn als eine Art Kompensierung mit einem anderen Mann betrogen. Er war logischerweise sehr wütend, aber statt ihre Krankheit zu erkennen, hat er sich ebenfalls Ersatz gesucht. Eine andere Frau als jetzt, wohlgemerkt. Das alles hat dazu geführt, dass meine Mutter und ich nach Edmonton gezogen sind. Wir sind aus dem Chaos geflohen.
Er hat nie verstehen wollen, dass psychische Krankheiten auch gefährliche Krankheiten sind. Mamá zuerst allerdings auch nicht.
Ich brauche nicht nicht umzudrehen, um zu wissen, dass jemand ein paar Meter vor der Tür steht. Die Diele knarzt leise. Sie geht leise, die Neue meines Vaters.
Aber auch er hat sie bemerkt. Das erkenne ich an der Art, wie sein rechter Mundwinkel sich leicht nach unten verzieht, was bei ihm wie ein leichtes Lächeln aussieht, und an der Art, wie sein Blick auftaut, als hätte seine neue Familie ein Kaminfeuer in den Raum gebracht.
Früher hat er mich manchmal auch so angesehen.
»Aria, ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagt mein Erzeuger und nickt der brünette Frau mit den braun-grünen Augen und dem schwarzhaarige Mädchen, die langsam eintreten, aufmunternd zu. Während das Mädchen mich mit undurchdringlicher Miene mustert, als wäre ich ein Gedicht, das sie für die Schule analysieren muss, wirkt die Frau beinahe ein wenig nervös, aber sie lächelt mich herzlich an. Der dicke Golden Retriever, der sich an uns vorbei aus der Küche quetscht, wird von uns allen ignoriert.
»Ich bin Susan«, stellt meine neue Stiefmutter sich vor. Sie hat beim Lächeln die gleichen Grübchen wie Arvid. Vielleicht ist dies ausschlaggebend dafür, dass ich mich nun ein wenig zusammenreiße. Ein wenig. »Aria«, sage ich höflich, aber distanziert, während ich ihre Hand schüttle und sie absichtlich viel zu fest drücke.
»Ich heiße Rose«, stellt sich das Mädchen vor. Wüsste ich nicht von Arvid, dass sie nur eineinhalb Jahre jünger ist als ich, hätte ich sie wahrscheinlich für jünger gehalten, vielleicht für vierzehn mit dem leicht rundlichen, kindlichen Gesicht und den großen Augen. Die immer noch auf mich gerichtet sind. Beinahe fühle ich mich unwohl, dabei werde ich oft angestarrt. Aber nicht auf diese Art. So analytisch.
»Rose ist deine Stiefschwester«, sagt Dad und sieht mich vielsagend an. Was will er denn? Denkt er etwa, ich könnte Rose für meine Halbschwester halten?
»Jürgen der Brutale gehört auch zu unserer Familie. Der wird oft vergessen«, erzählt besagte Nicht-Halbschwester. »Kommst du aus einem Heim für schwererziehbare Jugendliche?«
Ich antworte nicht und mustere sie stattdessen ebenso gründlich wie sie mich. Sie streicht sich eine zerzauste, kinnlange Haarsträhne hinters Ohr und hält meinem Blick stand.
»War nett, dich kennenzulernen«, meint Susan und nickt mir zu, bevor sie den Raum verlässt und sich unauffällig die Hand ausschüttelt. »Wir lassen euch dann mal alleine.«
Ich verschränke die Arme und sehe Dad forschend an. »Sie haben sich schon auf dich gefreut«, erklärt dieser ein wenig nervös.
»Sie ist hübsch«, erwidere ich. Er weiß natürlich sofort, von wem die Rede ist. Mit ihren hüftlangen Locken und den lang bewimperten großen Augen sieht Susan toll aus. »Ein anderer Typ als Mom, aber hübsch.«
Mein Vater seufzt. »Rose hat noch einen Bruder.«
»Ich weiß. Und ihr habt anscheinend auch einen hauseigenen Folterknecht, oder wer ist Jörg der Brutale?«
»Er heißt Jürgen.
»Arvid sieht Rose sehr ähnlich. Sie ist ein reizendes Mädchen. Etwas vorlaut, aber man muss seine Familie so akzeptieren, wie sie ist, nicht? Man kann sie nicht einfach wegjagen.«
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