3.Dezember - December

Mein wunderbarer Traum von zarten, rumigen Rumkugeln wird von einem lauten Ruf unterbrochen. »December!« Der Tag beginnt also nicht klischeehaft mit einem Weckerklingeln, sondern mit Christmas' aufgeregter Stimme. Ob man die als menschlichen Wecker trotzdem als Klischee bezeichnen könnte, ist ein äußerst komplexes Thema, über welches ich zu der frühen Uhrzeit nicht nachdenken möchte. (Obwohl es einen großen Unterschied zwischen den beiden gibt: Der Wecker hat Zeiger, Christmas geht mir höchstens auf den Zeiger.)

Ein bisschen enttäuscht bin ich ja schon, dass meine Zwillingsschwester sich nach siebzehn Jahren immer noch kein Beispiel an mir nimmt und kreativeren Methoden nutzt, um andere Menschen zu wecken, aber hey, gut für mich, so hat mein Sonntagmorgen immerhin nicht mit einem guten alten Modern Talking- Song begonnen. (Als ich das mit Christmas probiert habe, ist es ganz schön nach hinten losgegangen. Im wahrsten Sinne des Wortes, mein Handy hat sich statt mit Christmas' mit der Musikbox in meinem Zimmer - das hinter dem von meiner Schwester liegt - verbunden und Thomas Anderson von dort aus singen lassen.)

Seufzend rapple ich mich auf und wanke die Treppe hinab, die sich unter meinen Füßen warm anfühlt. Haben wir etwa eine Treppenheizung? Gibt es so etwas überhaupt? Wie auch immer, jetzt muss ich mir die sonntägliche Bibellesung antun, auf die Christmas immer besteht, wenn der Advent beginnt.
Versteht mich nicht falsch. Natürlich finde ich Zeit mit meiner Familie schön. Aber nicht am Sonntagmorgen um sieben Uhr. 

»Ist es moralisch gesehen in Ordnung, zu unchristlichen Zeiten in der Bibel zu lesen?«, frage ich meine Schwester, deren warmer Blick im Licht der Kerze auf dem Tisch wie der eines Engels wirkt, also, als ich die Küche betrete. 

»Ist es unchristlich, die Christlichkeit der Bibel anzuzweifeln?«, gibt meine Schwester mit einem leisen Lächeln zurück.
Außer mir sitzt bereits meine ganze Familie am Frühstückstisch, also lasse ich mich auf einen freien Stuhl fallen und schenke mir etwas Kakao aus der Kanne in die Tasse. 

»Manchmal kommst du mir wirklich vor wie das Christkind. Aber wenigstens gibt es Kakao, ich bin entschädigt.«

Meine Schwester schaltet eine kleine Lampe an, um mit dem schummrigen Licht das ihrer Augen zu schonen, und beginnt zu lesen. Ich lehne mich zurück und bereite mich auf das Weihnachtsgefühl vor.
Nein, damit meine ich nicht die Bibellesung. Andere kommen vielleicht beim Adventskranzbinden oder Christbaumschmücken in Weihnachtsstimmung, wieder andere bei Weihnachtsliedern oder dem Duft von Weihrauch.

Ich nicht. Ich komme in Weihnachtsstimmung, wenn ich die kleine Diskussion mit meiner Schwester führe, die ich wie jedes Jahr nicht auslassen werde.

»...Ich aber sage euch: Verzichtet auf Gegenwehr, wenn euch jemand Böses antut! Mehr noch: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin.« Da ist sie. Die Stelle, die für mich die Ankunft in der Wartezeit bedeutet. 

»An der Stelle muss ich leider widersprechen. Ich sage doch auch nicht zu einem Mörder, dass er mich bitte ein zweites Mal töten soll! Oder gleich meine Familie«, beschwere ich mich also. Christmas seufzt leise. 
»Darum geht es nicht. Es geht um das Gewaltlose. Das ist auch das Schöne an Religion.« 
»Schon« erwidere ich. »Aber so funktioniert das Leben leider nicht. Fressen und gefressen werden. Wenn du dich nicht wehrst, bist du schneller weg, als du Bitte nochmal  sagen kannst.« 

Meine Schwester seufzt nur ein weiteres Mal und liest weiter. Bei »Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dem lass auch den Umhang« schweige ich noch - unter anderem, weil mein Mund gerade voller Kakao ist - aber bei »Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, mit dem geh zwei« fange ich wieder an mich zu beschweren. 
»Wenn mich jemand entführt und sagtGeh die eine Meile bis zum nächsten Versteck, sonst jag ich dir eine Kugel durch den Kopf, dem werde ich auch nicht Bitte, wir können auch die zweite Meile weg von jeglicher Zivilisation gehen, damit du mich besser verstecken und in aller Seelenruhe umbringen kannst sagen.«

»Versuch, nicht so rational zu denken. Denk größer«, sagt Christmas und lächelt mich sanft, aber bestimmt an. »Und jetzt lass mich weiterlesen.«

Den Rest der Vorlesung schweige ich. Christmas Augen leuchten wie und auf ihrem Gesicht liegt ein weiches Lächeln, während sie spricht. Sie sieht so jung aus.
Meine Schwester vergleicht uns gerne mit Hanni und Nanni. Puckerl und Muckerl. Gelegentlich auch mit Fred und George.

Ich nicht. Ich rede eher von Tag und Nacht. Schwarz und weiß. Modern Talking und Bach. (Wer dabei Modern Talking ist, lasse ich offen im Raum stehen.)

Dann wäre da noch eine Kleinigkeit: Meine Neugier. Während Christmas ihre Nase nur in fremde Angelegenheiten steckt, um eventuell behilflich zu sein, obwohl sie die meisten Neuigkeiten nicht wirklich interessieren, finde ich alles spannend. Ich meine nicht alles wie Hansi hat mit Frieda Schluss gemacht, das interessiert mich nämlich gar nicht - okay, vielleicht ein klitzekleines Bisschen, aber das tut nichts zur Sache - ich vermute eher hinter allem etwas Verbotenes und gehe dem auch sofort nach, was mich schon in einige unangenehme Situationen gebracht hat. Eine meiner Kindergartenfreundinnen hat nie mehr mit mir gesprochen, nachdem ich ihren illegalen Süßigkeitshandel aufgedeckt habe.

Und von den Schneckenoperationen in der Grundschule will ich gar nicht erst anfangen. Alles was ihr wissen müsst: Ich bin immer noch traumatisiert und kann den Notärzten nie wieder in die Augen schauen. Ein Glück, dass wir umgezogen sind.

Außerdem wäre da noch eine Sache. Eine Sache, die ich ganz und gar nicht mag, sie aber schon. Eine Sache, die mir durch sie viel zu oft auf die Nerven geht. Eine Sache, die gerade zu hundertzehn Komma zwei Prozent gerade an der Tür klingelt und unsere Lesung stört. 

Ich murmle nur ein rasches »Ich komm gleich wieder« in Richtung meiner Eltern und verziehe mich schnell in mein Zimmer. Von unten dringt bereits Christmas glockenhelles Lachen herauf, genauso wie eine tiefe Stimme. Arvid.

Nicht dass ich Christmas' Freund aus dem Weg gehe, aber ich bin genauso scharf darauf ihn zu treffen, wie er in meinen Augen aussieht. (Urteil: Das Gegenteil von scharf.) Es gibt genau drei Dinge, die man über das Verhältnis zwischen mir und ihm wissen muss:

Ich finde es gut, ihn auf die Palme zu bringen. 

Ich finde es besser, gar nicht erst mit ihm reden zu müssen.

Ich finde es am besten, ihn nicht sehen, hören oder seine Anwesenheit in irgendeiner Art und Weise ertragen zu müssen.

Kurz, ich habe eine Aversion gegen ihn. Eine Arversion.

Nicht, dass ich Christmas ihr Glück nicht gönne, aber sie hat Besseres verdient. Arvid ist der Typ von Mensch, der seine grauen Zellen erst im Nachhinein benutzt. Würde ihm jemand den Vorschlag machen, meine Schwester für eine gratis Pizza eine Nacht lang in einem Fifthy Shades of Grey-mäßigen Keller zu fesseln und sie alleine zurückzulassen, würde er es tun und erst satt und träge auf die Idee kommen, dass sie von diesem Umstand nicht so begeistert sein könnte. (Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Arvid nicht vielleicht wirklich so einen Keller zuhause hat.) Arvid ist ein Mitläufer ohne eigene Meinung.

Und Christmas gehört definitiv nicht zwischen Modern Talking- CDs und Staubfusseln gefesselt, weil ihr Freund Hunger und wenig Budget hat.  Christmas gehört in ihre heile Welt voll mit geflügelten Buddha-Statuen und anderen Fabrikationen ihres Gehirns, außerdem mindestens einmal in der Woche mit mir und zwei Tassen Kakao (vorzugsweise mit Rum) vor den Fernseher. (Was inzwischen natürlich auch nicht mehr regelmäßig stattfindet. Dreimal dürft ihr raten, welchen Namen der Grund dafür trägt.) 

Vermutlich denkt ihr jetzt, dass mich das gar nichts angeht, schließlich ist meine Schwester so gut wie gleich alt wie ich. Sie ist alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen und ich sollte mich raushalten.
Damit habt ihr absolut recht. Allerdings argumentiert Christmas ja auch, dass ich die Ältere bin, wenn es darum geht, den Abwasch zu machen, ganz nach dem Motto Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Dass das mit mir nichts wird, sollte sie aber spätestens seit dem Gefauche unseres - nicht durch diesen Vorfall, damit das klar ist - verstorbenen Katers Regenbogen wissen, den ich aus Naivität und Faulheit in die Badewanne gesteckt habe.
Außerdem kennt ihr den zweiten Grund für meine Flu- äh, meinen Rückzug nach oben nicht. Dem Grinsen von Snoopy auf meinem ausgewaschenen Nachthemd zufolge, tun er und Yakari auf den sich langsam auflösenden Socken dies schon.

Den Rest des Vormittags verbringe ich lesend in meinem Zimmer. Irgendwann ruft Mom mich zum Mittagessen und ich setze mich - natürlich nicht mehr im Pyjama, sondern in schwarzen Jeans und einem grünem Pullover, in dem ich ein wenig aussehe wie ein Christbaum - zwischen Dad und Christmas. Die Socken trage ich übrigens immer noch, die sieht schließlich niemand.

Während des Essens haben Christmas' Wangen die Farbe von meiner Tomatensuppe und sie wirft Arvid die ganze Zeit verliebte Blicke zu, besonders wenn er spricht. Sie sieht dabei ein wenig aus, als wäre sie von Arvid hypnotisiert worden. Oder als wäre sie ein Schaf. Oder beides.

Nachdem ich mich am letzten Bissen meines Wraps bei der Vorstellung von Christmas als hypnotisiertes Schaf fast verschluckt  und meinen Teller in den Geschirrspüler geräumt habe, suche ich nach der Mappe, in der wir Rezepte sammeln. Ich muss dringend Rumkugeln machen, immerhin ist schon der dritte Dezember. Offiziell darf man in Kanada ja erst mit neunzehn Jahren Alkohol konsumieren, aber ein Hauch von Rum in den Kugeln hat ja noch keinem geschadet und ohne den Rum wäre ich bald nur noch ein Schatten meines bemerkenswerten Selbst. Leider ist diese Sache viel zu dringend, als dass ich mit dem Backen auf meinen besten Freund Max warten hätte können, mit dem ich das Rezept angepasst habe. Naja, wir werden sowieso mehr als das hier brauchen.

Also stöpsle ich mir die Kopfhörer in die Ohren, spiele meinen Lieblingskriminalpodcast auf Spotify ab (ich bin schlechter im Raten, als ich eigentlich angenommen habe...Schande über Sherlock, ich verlasse mich viel zu sehr auf sein Es ist immer der Gärtner) und verbringe den Nachmittag damit, Schokolade zu schmelzen und Eier zu trennen. Ich bemühe mich extra, nicht zu viel Rum zu erwischen, weil man letztes Mal gerademal einen Hauch von Schokolade im Rum geschmeckt hat, aber im Endeffekt wird es zu wenig und man schmeckt nur einen Hauch von Rum in der Schokolade. Davon lasse ich mich jedoch nicht unterkriegen und versinke in Theorien über Morde, während ich Unmengen von Kugeln forme und in Zimt, Zucker oder Schokostreuseln wälze.

Irgendwann bin ich endlich fertig. Meine Nerven sind nur deswegen noch vorhanden, weil ich jetzt wieder genug Rumkugeln habe. (Leider kann ich den minimalen Anstieg meiner Laune nicht dem Verschwinden Arvids verbuchen, der ist nämlich immer noch da.) Meine Geduld hingegen ist restlos aufgebraucht, weil ich so viele Kugeln geformt habe, dass man meinen könnte, ich wolle die Queen und alle Corgis und Dorgis, die sie jemals besessen hat, einen ganzen Winter lang durchfüttern. Aber Irrtum, das ist alles alleine für mich. Und vielleicht kann ich ein oder zwei der grandiosen Kugeln entbehren, wenn Christmas und meine Eltern nett fragen, schließlich ist ja bald Weihnachten und ich will ja mal nicht so sein. 

Rasch verstaue ich alle Kugeln in Keksdosen und wasche mir dann die klebrigen Hände. Die Küche riecht noch immer nach Schokolade. Ich inhaliere den göttlichen Duft und lächle leicht. 
Weihnachten kann kommen.

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