20. Dezember - Arvid
Englisch. Physik. Mathe. Bis 15: 45 Uhr. Danach ist aus. Ich kann Christmas'Stundenplan immer noch auswendig. Oft habe ich sie nach der Schule abgeholt, aber noch nie bin ich dabei so nervös gewesen wie jetzt. Wird sie mir überhaupt Glauben schenken?
Meine Moral sagt mir, dass das egal ist. Dass ich ihr zeigen muss, worauf sie sich da einlässt. Dass ich sie beschützen muss. Ob Beziehung oder nicht, ich fühle mich für sie verantwortlich.
15: 40 Uhr. Vereinzelnd treten Leute aus dem Schulgebäude. Vielleicht haben sie schon früher aus.
15: 42 Uhr. Es hat ganz leicht zu schneien begonnen. Dicke, schwere Flocken. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und hoffe, dass ich damit nicht wie ein Verbrecher aussehe, weil meine Jacke tiefschwarz ist. Normalerweise trage ich lieber grau.
15: 46 Uhr. Schüler strömen aus dem Gebäude, können es wahrscheinlich kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen. Ich wäre jetzt auch lieber zuhause und würde Aria stillen Beistand aufgrund des Todes ihrer Mutter leisten, auch wenn das keine wirklich fröhlichere Beschäftigung ist. Aber allemal besser als das, was ich jetzt vorhabe.
15:50 Uhr. Viele Schüler. Keine Christmas. Ich hoffe, ich begegne nicht December, die würde Christmas bestimmt dazu raten, den Hinterausgang zu nehmen, damit sie mich nicht sehen muss. Heiliges Haus, bin ich nervös.
15:58 Uhr. Da ist sie. Kastanienbraune Locken und ein dunkelgrüner Rucksack bahnen sich ihren Weg durch das Schnee- und Menschenchaos. Jetzt oder nie.
„Christmas." Erschrockenes Stehenbleiben, hochgezogene Schultern. „Christmas. Ich muss dir was zeigen." Umdrehen. Verschlossener Blick. „Was willst du?"
Ich ziehe das Handy aus der Tasche. „Ich weiß, das kommt jetzt total eifersüchtig rüber, aber das habe ich von Rose. Davor kannte ich Jason gar nicht richtig."
Sie zieht eine Augenbraue hoch. „Darum geht's also. Arvid, wenn du jetzt den besorgten Exfreund mimen willst, kannst du dir das gerne sparen, weil..."
„Nein!", unterbreche ich sie. „Das hat nichts damit zu tun, also, nicht nur, wie gesagt kenne ich Jason nicht, und bevor Rose das mir erzählt hat, wusste ich auch nicht, dass da was zwischen euch läuft. Aber wie gesagt, da gibt es etwas, was du dir ansehen solltest."
Ich klicke auf den Link und reiche ihr mein Handy. Verstört zieht sie ihre Augenbrauen zusammen.
„Arvid, was soll das?"
„Das bist du." Sie ist beim letzten Bild, beim Schlüsselbeinbild, angekommen. Ich scrolle nochmal ganz zurück, durch Nahaufnahmen von Christmas' Händen, Fingern, Augen und ihrer Nase. Mir wird wieder schlecht.
„Das war Jason", erkläre ich ihr. „Er stellt solche Fotos auf dieser Website online, vermutlich springt für ihn dabei irgendwas raus. Rose ist das auch passiert. Sie hat sich öfter mit ihm getroffen, sogar in der Öffentlichkeit. Ein Freund von Jason hat ihr den Link mit ihren Fotos weitergeleitet, vermutlich, um ihm eins auszuwischen. Sie hat bis jetzt nie was davon erzählt."
„Und warum hat sie ihn nicht angezeigt?" Christmas' Stimme zittert.
„Er hat sie erpresst. Mit was, will sie nicht sagen. Er hat ihre Fotos gelöscht, aber dafür sind deine jetzt hochgeladen. Zusammen mit den von vielen anderen Mädchen."
Sie lässt das Handy fallen. Ich lasse es am Boden liegen, weil ich Christmas Reaktion sehen will.
„Oh mein Gott."
„Er... er ist ein perverser Spinner. Es tut mir leid."
„Was soll ich jetzt tun?" Sie kaut an ihren Fingernägeln, die schon vollkommen kurz sind.
„Zeig ihn an. Ich helfe dir." Sie nickt, schultert ihren Rucksack und wendet sich zum Gehen. Ich bleibe neben ihr.
„Das war kein Versuch, dich zurückzubekommen, Christmas." Sie reagiert nicht. „Wirklich nicht. Ich will nur Rache, weil er das Gleiche mit meiner Schwester abgezogen hat. Diesmal kommt er nicht davon."
„Du hast mit mir Schluss gemacht. Wenn du mich wieder haben wollen würdest, hättest du lange Zeit lang bekommen, was du willst. Dazu wären keine Psychospielchen nötig gewesen." Dann beschleunigt sie und ich bleibe zurück.
Den ganzen Weg zurück muss ich an diesen letzten Satz denken. Was bedeutet das? Glaubt sie, ich habe alles inszeniert?
Ich stehe bereits vor unserer Haustür, als mir auffällt, dass ich mein Handy draußen vor der Schule im Schnee vergessen habe.
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