2.Dezember - Aria

Es ist der abschätzige Blick, der mir klar macht, dass Brandon, siebenundzwanzig, aus Minnesota, bald um mindestens 200 Dollar ärmer sein wird. So ist es ausgemacht.

Die Musik ist laut, die Menschenmenge betrunken und die Luft fast zu stickig zum Atmen.

Brandon - oder Brad, ich habe seinen Namen vergessen und eigentlich interessiert er mich auch gar nicht - hat bestimmt schon einiges an Alkohol intus, andernfalls würde er sich wahrscheinlich nicht zu mir runterbeugen und meinen Hals mit weichen Lippen küssen, denn alles an ihm, seine schwarzen Schuhe, das beige Hemd und die dunkle Jacke schreien nach Geschäftsmann, der sich allzu gern dem Trubel seines stressigen Alltags entziehen und ihn wenigstens für eine Nacht vergessen möchte.

Dass ich viel jünger bin als er, interessiert ihn anscheinend gar nicht, denn seine warme Hand streichelt meine Wange und der Ehering an seinem Finger schiebt sich goldglänzend in mein Blickfeld.

Er hat es nicht besser verdient.

Er sagt nichts. Ich sage nichts. Es sind unsere Blicke, die miteinander kommunizieren und mehr ist nicht nötig, denn seine Augen glänzen und meine sprühen, während ich den Duft seiner Handcreme einatme.

Ich bin gut im Lügen.

Meine Augen drücken das aus, was mein Mund in anderen Situationen sagen würde.

Er setzt sich auf den Barhocker vor der Theke und zieht mich auf seinen Schoß. Während er mit meinem Hals und der Kette beschäftigt ist, die ich mir nur wegen des Sohnes eines Autofirmachefs leisten konnte, ziehe ich unauffällig ein kleines Fläschchen aus der Tasche.

»Willst du was trinken?« Auf diese Frage habe ich gewartet.

»Eigentlich schon«, wispert mein Mund.

Oh ja!, vermitteln meine Augen.

Er versteht und bestellt zweimal Cadillac Magarita. Ich habe den Namen noch nie gehört. Vermutlich ist in in dem Zeug auch massenhaft Alkohol enthalten, aber das ist sowieso egal. Ich habe nicht vor, etwas zu trinken.

Gerade eben war ich noch müde, jetzt bin ich aber hellwach, denn ich weiß, was als Nächstes kommt.

Der Barkeeper bringt die Cocktails und Brandon nimmt sich einen.

Ich greife den anderen, zupfe an meinem Kleid herum und küsse ihn. Es kommt unerwartet, aber er scheint nichts dagegen zu haben.

Ich bin routiniert und geübt und innerhalb weniger Sekunden befindet sich eine ordentliche Menge an K.O. Tropfen in seinem Getränk.

Lächelnd sehe ich ihn an und nippe an meinem Cadillag.

Er tut es mir nach.

Jetzt dauert es nicht mehr lange, sage ich mir in Gedanken und lehne mich gegen ihn, während ich ihm beim Reden und immer-müder-Werden zuhöre. Er unternimmt einen weiteren Versuch, mich zu küssen, den ich geschickt mit einem Schluck Cocktail abwende.

Nach einigen Minuten ziehe ich ihn in eine leere Ecke, wo niemandem auffällt, was ich mit ihm vorhabe, aber die Leute werden den Anblick von ihm und mir, wie ich an ihm herumfummle vermutlich sowieso falsch verstehen und nur das sehen, was sie sehen wollen.
Hektisch suche ich in den schwarzen Hosentasche nach seiner Geldtasche. Sie ist dort, das habe ich gesehen, als er vorher für uns beide gezahlt hat.
Brandon lehnt an der Wand und hält sich den Kopf. »Was...?«, fragt er im Minutentakt. Mit jedem Mal klingt es verwirrter.

»Ist schon okay«, flüstere ich und zerre die prall gefüllte Ledertasche hervor. Es befinden sich so viele Scheine darin, da fallen ihm vier weniger bestimmt nicht auf. Dumm von ihm, mit so einer großen Menge in einen Club zu gehen. Tja, selber schuld. Hoffentlich ist es kein Falschgeld.
Ich lasse ihn einfach in der Ecke stehen und halte in der Menschenmenge nach meiner Mamá Ausschau. Ihre Haare glänzen im bunten Licht und die bronzefarbende Haut betont das rote Kleid. Sie ist wunderschön. Sie sieht aus wie ich.

Viele würden vielleicht meinen, was ich und meine Mutter da machen, sei unterstes Niveau. Aber eigentlich sind wir nichts anderes als moderne, weibliche Versionen von Robin Hood. Nur dass wir nicht ausschließlich Reiche bestehlen und das Geld eigentlich selbst behalten. Okay, ganz moralisch vertretbar ist das Alles wohl nicht, wir nutzen schließlich vor allem männliche Partybesucher schamlos aus. 

Fühle ich mich deshalb schlecht? Ich lasse den Blick durch die betrunkene Menge schweifen, ignoriere all die lüsternen Blicke der anderen Brandons, die scheinbar bemerkt haben, dass ich die einzige Minderjährige in diesem Club bin.

Nein. 

Von irgendetwas müssen wir ja leben. Jedenfalls bis ich die Schule abgeschlossen habe und eine Arbeit mit halbwegs gutem Gehalt annehmen kann. Aber seien wir mal ehrlich: Das hier macht viel mehr Spaß als jeder Job für unerfahrene Schulabsolventen.

Da es auffällig wird, wenn ich bei zu vielen Typen Zeit verbringe, werden Mamá und ich wohl den restlichen Abend in unserer stickigen Mietwohnung verbringen, die wir uns zurzeit durch schlechtbezahlten Nebenjobs gerade noch leisten können. Nicht selten kommt es vor, dass wir die Miete nicht bezahlen können, weil meine Mutter spontan keinen Job mehr hat oder das ganze Geld für Tabletten ausgibt. Dann müssen wir oft mal bei einer der zahlreichen Affären von Mamá untertauchen. Nicht immer ganz das was ich will, denn vor allem der letzte Typ, bei dem wir einen Monat lang gelebt haben, war eine Katastrophe, aber wir kommen über die Runden. Zumindest ist mein Leben um einiges spannender als das vieler anderer Leute in meinem Alter.
Ich kann es kaum erwarten, endlich aus diese stickigen Maloch zu entkommen. Es sind zu viele Leute, die mich die ganze Zeit bewusst oder unbewusst berühren und dabei Brother Louis grölen. Wenigstens habe ich jetzt eine ordentliche Summe Geld.

Ich drücke mich an den Menschenmassen vorbei, doch ich habe meine Mutter aus dem Blickwinkel verloren. Ich drehe mich am Absatz um und lasse den Blick durch den Raum gleiten. Da ist sie. Nahe am Ausgang. Aber was tut sie da? Meine Mutter zittert unkontrolliert mit Armen und Beinen. Ist das normal?! Es sieht gruselig aus, so als könne sie ihre Glieder nicht mehr kontrollieren.

Meine Knie geben nach. Warum hilft ihr keiner? Das hier ist immerhin ein öffentlicher Ort! Ich will mich rühren, aber alles fühlt sich so schwer, so irreal an. In sichtlichen Notsituationen fällt es mir immer schwer, die Kontrolle über mich und meinen Körper zu bewahren. Die fröhliche Discomusik scheint in meinen Ohren zu verschwimmen, bis ich nichts mehr als ein dumpfes Dröhnen wahrnehme. Dumpf nehme ich eine Veränderung der Luft wahr. Menschen drängen sich an mir vorbei. Aber ich kann nichts tun als mit klopfendem Herzen auf Mamá zu starren, die sich den Kopf hält und den Mund zu einem Schrei verzogen hat. Schreit sie wirklich? Ich weiß es nicht. Aber auch ich fange an zu zittern, so als wäre ich in eiskaltem Wasser und nicht in einem riesigen, beheizten Raum.

Und dann geht der Feueralarm los.

Panik, Schreie überall. Die Menschen um mich herum werden zu einer Masse, einer undurchdringlichen Wand, die sich wütend und schnell auf mich zubewegt. 

Ich schreie. 

Die Angst schließt mich in ihre Arme, nimmt mir die klare Sicht, umnebelt meine Gedanken. Plötzlich kommt doch Bewegung in meine Beine. Aber es ist, als würde mich etwas festhalten und mich somit am Fortrennen hindern. Ich schreie wieder. 

Die Menschenmasse hat mich fast erreicht. Sind es überhaupt Menschen? Sie wirken materielos. Gefährlich. Wie eine Masse, die gleich über mich hinwegtrampeln wird. 

Irgendwie schaffe ich es, meine Steifheit zu überwinden. Meine Beine zittern, Mamá wird von der Masse verschluckt, Musik dröhnt. Ein grünes Leuchten. Der Notausgang.

Ich renne.

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