18. Dezember- Aria

Ich höre ihre Schritte, aber die Stimmen sind fast lautlos. Ich knete meine Hände und wünsche mir eines dieser bescheuerten Fingertoys, die in allen Kindergeschäften so populär zu sein scheinen.
Ich muss Spannung abbauen.

Leise stöckle ich am Gang auf und ab, auf und ab, auf und ab, bis eine Krankenschwester mich zum Stillsein ermahnt und meint, ich solle doch gefälligst im Wartezimmer warten.

Aber da geht schon die elektrische Tür auf und nun höre ich doch ihre Stimmen, gedämpft hinter hellblauen Einwegmasken, die bei Komapatienten zur Prävention von Krankheiten getragen werden müssen. December blickt mir direkt in die Augen, Christmas an mir vorbei und ihre Mutter - Hariclea - mustert meine Großeltern und mich wie Wölfe, während sie der zerbrechliche Hase ist.
»Hallo«, begrüße ich sie leise.
»Hallo«, ertönt darauf der einstimmige Antwortchor.
»Hariclea.« Ich habe sie darauf vorbereitet, aber trotzdem steht sie neben mir und mustert ihre Tochter mit forschem Blick.
Hariclea sagt nichts und starrt ihre Mutter ebenfalls an, ängstlich, so als befürchte sie jeden Moment flüchten zu müssen.

 »Wir haben viel zu besprechen«, meint ihr Vater und wir alle nicken.
»Warst du schon bei ihr?«, fragt meine Großmutter.
Ihre einst braunen Haare sind streng zurückgebunden wie die einer Lehrerin. Sie ist so fremd für mich, eher wie eine Autoritätsperson als ein Familienmitglied. Das liegt vermutlich daran, dass ich meine beiden Großeltern seit ich vier Jahre alt war nicht mehr gesehen habe und sie nach Mamás Unfall so plötzlich wieder in mein Leben kamen. 
Ich muss an Decembers Theorie denken, die ich nicht mal zur Hälfte verstehe. Aber das mit den Musikproduzenten und Hariclea scheint zu stimmen, ich habe die beiden gefragt. Es ist so extrem verwirrend, wie in einem schlechten Film mit unausgereiftem Plot.

»Nein. Ich wusste nicht, wie ich unbemerkt nach Edmonton hätte kommen können.«
»Und wir wussten nicht, dass sie mit uns verwandt ist« sagt Christmas leise.
»Dann ist es an der Zeit«, meine ich. Zeit für einen Verwandtschaftsbesuch bei meiner Mutter.

»Ich hatte Hilfe«, erzählt Hariclea und knetet jetzt ebenfalls die Hände. Wir stehen vor dem Krankenbett und starren meine Mutter schweigend an, wie sie so daliegt wie Dornröschen und man nur ihre Atemzüge sieht und die Pieptöne des EKGS, das ihre Herzschläge misst, hört. 

»In L.A. gibt es jede Sorte von Mensch, da ist es nicht weiter schwer, Computergenies zu finden, die das Video meines angeblichen Todes anonym der Polizei zuspielen konnten. Es war ein Leichtes, im Gegenteil zu dem, was ich meine ganze Kindheit lang durchstehen musste.« Sie blickt zu ihren Eltern und obwohl sie so eingeschüchtert ist, lässt sich der Vorwurf in ihrer Stimme nicht kaschieren.
Sam streichelt Aleas Arm, die das erste Mal seit ich sie kenne so richtig fertig wirkt. Immer wieder schüttelt sie ungläubig den Kopf. Ich kann es verstehen, denn immerhin ist ja ihre totgeglaubte Tochter nach guten zwanzig Jahren wieder aufgetaucht und es hat sich herausgestellt, dass Hariclea aufgrund der Erziehung ihrer Eltern verschwunden ist und dazu auch noch ihren eigenen Tod gefälscht hat.
„Ist dir eigentlich bewusst, wie unglaublich uns das alles all die Jahre belastet hat?! Wir sind immer noch nicht richtig darüber hinweggekommen!  Nach deinem Tod haben wir unser gesamtes Unternehmen, unsere Lebensgrundlage aufgegeben, weil wir einfach nicht mehr weiter machen konnten." Sams Stimme wird immer lauter und lauter, bis sie sich überschlägt.
„Pschht", macht Christmas und deutet auf Angeolina. Das ist also der Sinn dahinter, wieso wir das ausgerechnet hier drinnen besprechen müssen. Hier können sie alle vor Wut nicht aufeinander losgehen.

»Ich dachte, ich müsse auch sterben.« Spricht Alea mit erstickter Stimme in die Stille hinein.
»Lassen wir es fürs Erste.« Christmas kommt auf uns zu und berührt mich sanft am Arm.
»Es ist so gekommen, wie es gekommen ist. Ich weiß, ich habe gut reden, ich stecke ja nicht mitten drin in der Sache. Aber eigentlich ist es besser, dass das alles erst jetzt ans Licht gekommen ist, weil die Medien sich nicht mehr für unsere Familie interessieren. Hariclea ist tot und auch schon längst vergessen.« Ich lasse die Vertrauensgeste zu, weil ich finde, dass sie recht hat. Außerdem stehen wir hier im Krankenzimmer meiner Mutter, die im Koma liegt, was außer mir noch keiner so richtig realisiert zu haben scheint. 

»Mamá würde das auch nicht wollen. Schon gar nicht hier. Wenn ihr das alles diskutieren wollt, was definitiv bald passieren muss, macht das bitte wo anders. Ansonsten werdet ihr noch aus dem Krankenhaus geworfen.«
Minutenlang starren sich die Erwachsenen an und kommunizieren dabei mit Blicken. December, Christmas und ich stehen daneben und verstehen nur die Hälfte, weil die unausgesprochenen Worte für uns unhörbar sind.
Nur das regelmäßige Piepen des Piepers ist akustisch wahrnehmbar.

»Ein Schock, das mit ihr zu hören, nicht wahr?«, meint Sam dann. »Oh ja«, seufzt Hariclea und sieht zu Angeolina rüber. »Wir hatten nie das beste Verhältnis und ich habe ganze zwanzig Jahre lang nichts von ihr gehört, aber trotzdem wollte ich für kurze Zeit einfach monatelang schlafen und nicht mehr aufwachen, als ich das mit ihr gehört habe.«
»Ihr tut mir leid«, sagt December unvermittelt. Bis jetzt war sie still, was wirklich sehr ungewöhnlich für sie ist. »Erst die erste Tochter verloren, jetzt liegt die zweite im Koma und hat-«

»Es ist ein wahrer Albtraum.« Alea rauft sich die Haare. »Und für dich erst, Aria.« Sie berührt mich an den Schultern. »Nur damit du es weißt: Ich kann verstehen, wieso du hierbleiben willst, aber falls du eine Zeit lang Abstand brauchst, kannst du immer zu uns nach USA kommen. Wir kümmern uns um dich. Versprochen.« Ich nicke mit prickelnden Augen.

»Immerhin wissen wir dich jetzt in Sicherheit und damit haben wir gar nicht mehr gerechnet. Eigentlich ein Geschenk, oder?« Sam blickt  zu Hariclea und breitet die Arme aus. Zaghaft umarmen sie sich. Ich komme mir vor wie in einer Filmszene, wie Alea, Hariclea und Sam weinen, December und Christmas mich an der Hand nehmen und mich zaghaft anlächeln und das EKG im Hintergrund anfängt, wirre, ungleichmäßige Geräusche von sich zu geben.

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