14. Dezember - Christmas
Du bist die, die im Halbschatten mutig wird und zu Weihnachten im Chor laut singt.
Die, die in der ersten Reihe sitzt , applaudiert und dabei nichts verpasst, sich aber dennoch insgeheim wünscht, dort draußen auf der Bühne zu stehen.
Sag mir, traust du dich nicht?
Schauspieler tragen Masken, das solltest du eigentlich wissen, aber trotzdem lässt du dich ablenken von all den goldglitzerfarbenen Verzierungen und hellleuchtroten Vorhängen.
Sag mir, siehst du es nicht?
Sie stehen auf der Bühne, singen, tanzen, scheinen, reichen dir die Hand und lassen sie wieder los, aber trotzdem kletterst du zu ihnen rauf.
Sag mir, willst du das wirklich?
Auf sie warst du nicht vorbereitet. Glitzermasken zwischen Leuchtlichtstrahlen und mittendrin du.
Licht betont deinen Körper, doch dein Gesicht bleibt in der ersten Reihe sitzen, und zwischen all den Glanzmädchen und Glühjungen liegst du
wieder
nur
im
Schatten.
Zögernd kaue ich auf meinem Bleistift herum, während ich überlege, ob sich der Text zum Vorlesen eignet. Wahrscheinlich eher nicht, aber ich schreibe ja auch normalerweise eher Gedichte als Poetry Slams. Kurz überlege ich, ihn zur Probe laut vorzulesen, doch ich rechne jede Sekunde damit, dass Jason gleich hinter mir steht und mich antippt.
Ich warte schon seit fünfzehn Minuten auf ihn und werde es auch nicht mehr viel länger tun, weil es gerade zu schneien beginnt und ich auf eine Lungenentzündung echt verzichten kann.
Dabei habe ich mir extra Mums Auto ausgeborgt und bin fast eine halbe Stunde hier hergefahren, weil ich nicht wollte, dass Jason mich zu Hause oder in Drayton Valley besucht. Er hat dann angeboten, zu ihm nach Hause zu fahren, aber Regel Nummer Eins in meinen Prinzipien bezüglich Jungs ist konsequentes Aufpassen und Vermeiden von heiklen Situationen, und dass das einen Hausbesuch bei einer Clubbekanntschaft ausschließt, ist selbstverständlich. Also befinde ich mich 50 Kilometer weiter östlich von Drayton Valley (ich hätte wirklich etwas Näheres vorgeschlagen, wenn es was gegeben hätte) auf einer Holzbank vor einem riesen Einkaufszentrum, das für seine teuren Cafés bekannt ist.
Jason wollte in ein Café, nicht ich.
Und wenn er bald nicht auftaucht, muss er da ohne mich hin, denke ich, doch nur wenige Augenblicke später hupt mich ein silbernes Auto an und eine Hand schiebt aus dem halb geöffneten Fenster.
„Ich fahr noch schnell in die Tiefgarage", ruft er aus dem Fenster und öffnet die Tür, damit ich einsteigen kann.
„Was ist das?", fragt Jason, als ich versuche, den beschriebenen Zettel in der Handtasche zu verstauen.
Ich streiche die eine dunkelbraune Haarsträhne hinter die Ohren, die mich meistens immer stört, weil sie so ins Gesicht hängt.
„Ach das. Das ist nur ein versuchter Poetry Slam." Ich bezweifle, dass Typen wie Jason viel mit Gedichten anfangen können.
„Okay, das sagt mir was. Meine Schwester schreibt auch Gedichte. Außerdem gibt es da diesen Film, 22 Jumpstreet heißt der. Da kommt sowas auch vor. Denke ich, ich schaue nicht viele Filme. Kann ich mal sehen?"
Wortlos reiche ich ihm das Blatt.
„Macht deine Schwester bei Wettbewerben mit?"
Er antwortet nicht und seine Augen huschen vertieft über die Zeilen. Ich beobachte ihn dabei.
„Ja, macht sie. Sie hat sogar schon einige Male gewonnen." Er blickt mich direkt an. „Das ist echt nicht schlecht. Wenn ich mir das mit dem Sprechrhythmus meiner Schwester vorstelle... Gänsehaut."
Ich weiß nicht, ob er das sagt, weil er wirklich so denkt, oder weil er nett sein möchte. Deshalb lächle ich zaghaft.
„Woher nimmst du deine Inspiration?"
„Von meiner Mutter. Sie hat früher auch viel geschrieben und mir ihre Texte gezeigt. Zwar bin ich mir nicht immer ganz sicher, was sie meint, aber darum geht es ja nicht unbedingt."
Jason lächelt. „Das stimmt." Dann wendet er seine Aufmerksamkeit der Speisekarte des Cafés zu, die auf dem Tisch vor uns liegt. „Was möchtest du?" Ich lege den Kopf schräg, um einen Blick auf die Karte werfen zu können. Er schiebt sie mir rüber. Positiv überrascht lese ich, dass Chai Latte unter den zahlreichen Bestellmöglichkeiten ist. Wir bestellen beide und am Tisch herrscht Stille, nachdem der Kellner gegangen ist. Mir ist im beheizten Café ziemlich warm, weshalb ich die Jacke ausziehe. Das Baumwoll-T-Shirt ohne dicke Schicht darüber fühlt sich schon viel angenehmer an.
„Und, was tust du so den ganzen Tag? Gehst du zur Schule?", versuche ich ein Gespräch zu starten. „Ja... nein, ich habe die Schule letztes Jahr abgeschlossen." Jason starrt abwesend auf einen Punkt hinter mir. Er beugt sein Smartphone in einem komischen Winkel, so unauffällig, dass es schon wieder auffällig ist. Ehrlich gesagt hätte ich es gar nicht gemerkt, wenn er danach nicht kurz auf den Bildschirm gestarrt hätte. Ich weiß genau, wie schwer das ist, weil ich es selber oft genug gemacht habe. Jason hat gerade ein Foto gemacht. Unauffällig drehe ich mich zu den Mädchen hinter mir um. Sie beachten uns nicht. Entweder kennen sie Jason wirklich nicht, oder sie ignorieren uns. Zur Sicherheit mustere ich sie genau. Grüne Polyesterjacken, dunkelblaue Jeans. Eine hat graublonde Haare, die zu einem Dutt gebunden sind. Die andere schwarze, welche sie offen trägt.
„Um deine Frage zu beantworten", meint Jason und legt das Smartphone weg, „ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich machen soll. Ich meine, klar habe ich einen Job, zwei sogar, aber mein Leben lang möchte ich auch nicht wirklich als Fundraiser und Starbucksmitarbeiter mein Geld verdienen. Aber jetzt zurzeit passt es mir."
„Und deine Freunde?"
Jason verzieht das Gesicht. „Mit denen kann man nicht darüber reden. Ich würde auch gar nicht von Freunden sprechen. Eher von Bekanntschaften, mit denen man regelmäßig feiern und etwas trinken geht, die aber sonst nichts mit dir zu tun haben wollen. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt einen Schulabschluss haben oder an ihre Zukunft denken geschweige denn Pläne dafür haben."
Ich blicke ihn lange schweigend an. Er schaut ungeniert zurück.
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich denke, ich lerne ihn wirklich kennen.
Jason ist keiner der glitzernden Schauspieler auf der Bühne. Er befindet sich direkt oben, aber trotzdem weiß er genauso gut was es heißt, im Schatten davor zu stehen und zu applaudieren. So wie ich.
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