11. Dezember- Christmas

Bei Johnnys Fahrkünsten landen wir dann mit Querschnittslähmung oder gebrochenem Genick in Edmonton.
Vor kurzem hat es wieder geschneit, weshalb die Fahrbahn sehr rutschig ist und ich mich anstrengen muss, um mich nicht aufs Armaturenbrett zu übergeben.
»Mensch J, ich hab mich für'n Club hergerichtet und nicht für das Krankenhaus«, ertönt Melissas genervte Stimme vom Rücksitz. Von ihr weiß ich nur, dass sie in Thorsby wohnt, was noch ein größeres Kaff als Drayton Valley ist, und sie Johnnys Vielleicht-Freundin ist.

Noch vor einer Woche hätte ich mich nie mit praktisch Fremden ins Auto gesetzt, ohne zu wissen, wo genau sie eigentlich hinfahren wollen.
Aber jetzt bin ich hier, stärker als sonst geschminkt und mit vorsichtshalber ein wenig Rum intus, weil ich mir sicher bin, dass ich sonst diese ganze Aktion abbrechen und notfalls zu Fuß nach Hause zurückgehen würde. Aber noch bin ich trotz der Bedenken positiv gestimmt, vor allem, weil das, was Johnny da versprochen hat, so verlockend klingt.

Du kannst vollkommen loslassen und aufhören zu denken, hat er gemeint. Aufhören zu denken würde ich nur zu gerne, denn seit der Weihnachtsfeier habe ich keine einzige Nacht mehr gut geschlafen, weil meine Gedanken zu wach waren. Das Wieso ist zu laut für die Stille, genau wie das Vielleicht war ich einfach zu langweilig. Manchmal hasse ich meinen Kopf.

Seit einer Stunde Fahrt warte ich auf die glänzenden Lichter Edmontons und nun sehe ich sie endlich. Golden-nebliges Licht zieht sich durch die Straßen und die vielen Bäume sind alle geschmückt. Es sind so viele Menschen zu sehen, dass man gar nicht vermutet, dass es schon halb 12 ist. Es ist nicht spät, nur Freitag. Zeit für Tanzen, bis die Nacht uns betrunken macht.

Und vielleicht auch ein wenig Alkohol.

Johnny setzt Melissa und mich vor einem beleuchteten Gebäude in einer Seitenstraße ab, das mit seinen kalten Ziegelwänden und wie ein typisch verkiffter Club aussieht, von denen man immer von Schlägereien und Drogenmissbrauch hört.

Meine Entschlossenheit, das hier durchzuziehen, sinkt. Melissa wirft mir einen Seitenblick zu und hakt sich bei mir unter. Sie riecht nach Zigaretten. »Die Musik ist nicht so nice, aber was solls, sonst ist die Stimmung drinnen meistens ziemlich aufgeladen.« Ich weiß nicht, ob ich aufgeladene Stimmung als positiv oder negativ bewerten soll.
»Okay, dann mal rein da«, meint Johnny, der in der Zwischenzeit das Auto etwas weiter weg geparkt hat und sich auf meiner anderen Seite einharkt.

Melissa schlägt die Tür auf und wir drängen und am Türsteher vorbei. Die riesige Halle ist bereits voller Menschen, die sich manchmal mehr, manchmal weniger im Takt der Clubmusik bewegen wie eine Riesenwelle. Rauf, runter, rauf, runter. Ich spüre den Bass im ganzen Körper und bin etwas überwältigt von der Größe des Clubs.
Wenn das Gebäude in der Nacht nicht genutzt werden würde, könnte man Orchester darin veranstalten. Und wenn man durch die große Seitentür geht, kommt man zu weiteren Partyräumen, wie mir Melissa erzählt. Die Menschen sind betrunken und gut gelaunt, Fremde werden geküsst, Beziehungen beendet. Kurz fühle ich ich, als würde ich ertrinken. Bis ich mich wieder zusammenreiße. Das ist meine Chance. Die Musik ist lauter als meine Gedanken.

»Jason!«, schreit Johnny und drängt sich mit Ellenbogeneinsantz durch die Menge. Ich folge ihm.

»Viel zu voll hier«, begrüßt ihn ein junger Mann mit Fade-Cut. Er zieht Johnny in einer brüderlichen Umarmung an seine breiten Schultern. Ich gehe stark davon aus, dass die beiden nicht verwandt sind, denn Jason hat – soweit ich das im von der gigantischen Discokugel verströmten blau-violetten Licht beurteilen kann – dunkle Haut und naturschwarze Haare. Und  dunkle Augen, wie ich erkenne, als er seine Aufmerksamkeit mir zuwendet.
»Ich bin Jason«, schreit er mir entgegen.
»Christmas«, brülle ich zurück, ohne es selbst zu hören. Was wahrscheinlich gut ist. Ich bin es nicht gewohnt, zu brüllen.

Er nickt mir zu. »Besonderer Name für ein besonderes Mädchen.« Das Schwarz seiner Augen glänzt im flirrenden Licht Lila. Wir halten Blickkontakt.

»Ich hab was zu trinken«, zerstört Melissa die Spannung und drückt mir ein Glas mit dunkler Flüssigkeit in die Hand. Ich kann es nicht definieren, aber ich weiß, dass es kein Vodka ist. Der riecht anders. Ohne drüber nachzudenken, schütte ich das Getränk runter.
Jason macht das so.
Melissa macht das so.
Johnny macht das so.
Warum ich nicht auch?

Sogleich breitet sich ein Brennen in meiner Kehle aus und beim bitteren Geschmack muss ich fast würgen. Das Zeug ist stärker als ich vermutet habe. Trotzdem trinke ich noch vier Schlucke, bis ich den Becher wegstelle und auch nicht mehr anrühren werde.
Das Brennen fühlt sich schon angenehmer an.

Zu dem Lied, das gerade gespielt wird, habe ich schon oft getanzt, weshalb ich mich von Johnny mit auf die Tanzfläche zerren lasse.

Zusammen mit den anderen bewege ich mich zur Musik.

Es braucht einen halben Becher Gin Tonic, damit ich beim Refrain die Hände in die Luft strecke und mitgröle.

Einen weiteren, damit ich die Arme um Johnnys Hals schlinge und ihn mich an sich ranziehen lasse.

Eine halbe Stunde später macht mir der Benzingeschmack des puren Vodkas, den ich mir mit Melissa und ein paar anderen teile, nichts mehr aus.

Mein Trommelfell ist kurz vorm Platzen, aber jetzt haben sie von nichtssagenden Liedern zu einem Remix von Memories von David Guetta gewechselt, das Lied, zu dem December und ich zusammen immer komplett abgehen. Ich hüpfe neben mit einem Typen, der irgendwie der Freund eines Freundes von Jason ist, immer wieder zum Takt der Musik auf und ab. Für Weiteres bin ich zu betrunken.
Ich spüre zwei Arme an meiner Taille und werfe einen Blick über die Schulter. Es ist Jason, der mit seinen dunklen Augen tief in meine starrt. Ich drehe mich zu ihm um. Er kommt mit dem Gesicht näher ran, so nah, dass bei mir ein leichtes Kribbeln in der Stirn ausgelöst wird, weil ich erwarte, dass er gleich seine an meine legt. Doch er beugt sich nur zu meinem Ohr und brüllt geradewegs »Kommst du mit raus?« hinein.

Ich nicke und wir gehen zusammen mit drei, vier anderen Leuten hinaus. Johnny ist auch dabei, Melissa nicht.
Die kühle Nachtluft macht mir bewusst, wie stickig es in der Halle war. Es muss zwei oder drei Uhr sein, aber ich bin überhaupt nicht müde. Wenn ich mit December, Arvid, und Max in Clubs war, sind wir immer um spätestens drei gegangen. Ich will noch nicht nach Hause. Wenn es nach mir ginge, könnten wir die ganze Nacht weg bleiben. Ich stolpere beim Rausgehen, weil ich mich in meinem engen Kleid und den Stiefletten mit Stöckel nicht gut bewegen kann. »Hoppla«, meint Johnny und hält mir seinen Arm hin. Ich kichere, halte mich an ihm fest und überlege für einen kurzen Moment, ob so ein Lippenpircing beim Küssen stört. Ich habe ihn vorhin mit einem Mädchen, das definitiv nicht Melissa war, ganz am Rand gesehen. Kurz war ich ein wenig enttäuscht, aber dann hat der DJ zum dritten Mal Memories gespielt und der Vorfall war vergessen.

Jason und noch ein Typ mit hübschen Locken ziehen jeweils ein ungefähr 30 Zentimeter großes Gefäß aus der Tasche, was ich nach genauerem Hinsehen als Mini-Shisha identifiziere.
Sowas hab ich tatsächlich noch nie geraucht.
Aber Johnny macht es.
Jason macht es.
Der hübsche Typ mit den Locken macht es.
Warum nicht endlich aufhören zu denken und einfach mitmachen?

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