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Vor 21 Jahren
Liebes Tagebuch,
zwei Jahre noch. Zwei Geburtstage, zwei Osterfeste, zwei Mal Weihnachten. Vier Jahre sind nicht viel auf der ständig tickenden Uhr, die sich Leben nennt, aber trotzdem scheine ich in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Jeden Tag das Gleiche - aufstehen, frühstücken, stundenlang musizieren, zu Mittag essen, den immer schwerer werdenden Unterricht mit meiner Mutter nachholen, Hausaufgaben machen und lernen, Abendessen, Sport machen, weil meine Mutter möchte, dass ich abnehme, an Liedern, die ich optimieren soll, arbeiten, bis spät in die Nacht im Bett liegen und nicht einschlafen können, nur um am nächsten Tag wieder komplett erschöpft zu sein. Ohne Ferien. Seit Jahren. Ich bin so müde.
Ich schäme mich immer, wenn mir wieder alles zu viel wird. 'Sei dankbarer', haben sie zu mir gesagt. Und 'DU bist die Letzte, die sich zu beklagen hat. Wohlhabende Eltern, ein wunderschönes Haus am Stadtrand einer der größten Städte der Welt, viele kennen dich, denn du bist das Kind deiner Eltern. Reicht dir das denn nicht?' Mir reicht es nicht. Mein Leben ist so eintönig, so schwarzweiß, so unwirklich. Ich bin schon lange nicht mehr ich selbst.
'So ist das eben', muss ich mir von meiner Mutter immer anhören, 'du lebst und lebst, und irgendwann ist dein Leben plötzlich vorbei' Aber was, wenn mein Leben noch gar nicht begonnen hat, wenn ich sterbe?
Mein Großvater, der hat richtig gelebt. Mit leuchtenden Augen hat er von früher erzählt, von den vielen Abenteuern in seiner alten Heimat, als er so alt war wie ich jetzt bin. Tausende Male hat er immer die selben Geschichten erzählt und wurde nicht müde davon. Und ich habe sie jedes Mal geduldig angehört. Ich könnte mir jede einzelne von ihnen noch weitere tausend Male anhören. Aber jetzt ist er fort.
Ich frage mich, wie es in vier Jahren so sein wird. Wenn ich volljährig bin und mich nichts und niemand, vor allem nicht meine Eltern, von dem mir ausgesuchten Leben abhalten kann. Werde ich wirklich Ärztin sein, so wie ich mir es wünsche? Wo werde ich wohnen? Wird man mich dort erkennen?
Und in zwanzig Jahren? Wo werde ich dann sein? Wo werde ich leben, welche Länder werde ich besucht haben? Werde ich Kinder haben? Und einen Hund?
Wie wird das Leben in weiteren siebzig vergangenen Jahren aussehen? Wie werde ich aus all dem entkommen sein, was mich jetzt so brutal runterzieht und nicht mehr loslässt? Werde ich an meinem Sterbebett liegen und mit faltigen Händen die tränennassen Wangen meiner Enkelkinder streicheln? Werde ich noch immer das Gefühl haben, im Hier und Jetzt gefangen zu sein? Oder werde ich traurig sein, weil das Leben so schnell an mir vorbeigezogen ist?
Ich hoffe vor allem auf Eines : Bis zum Tod mein persönliches Glück gefunden zu haben. Wer wünscht sich das nicht? Ich habe keine Ahnung, wie mein Glück überhaupt aussehen soll. Es wird aber niemals von dem jetzigen schrecklich grauen Alltag geprägt sein. Nein, mein Glück wird bunt sein, bunt und lebhaft. Lebhafter als die Gegenwart. Mein Glück wird nach zarten Orangen duften und nach Erdbeeren schmecken. Ich hoffe, dass ich mein Glück bei den Menschen finde, die mir besonders wichtig sind. Dass ich mir bis dahin besonders wichtig bin.
Ich bin noch jung, zu jung, um zu sagen, dass ich die Highlights des Lebens verpasst habe. Aber genauso fühlt es sich an. Wie ein grauer, enger Gang voller ermüdenden Eindrücken, der nur einen Ausweg haben zu scheint. Aber ich muss mich noch gedulden. Ich muss es wenigstens versuchen, und sei es nur wegen meiner Schwester. Ich muss noch ein bisschen bleiben, um das alles später wirklich loslassen zu können. Bald kann ich der Gegenwart Lebewohl sagen.
Zwei Jahre noch.
Hariclea
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