Mit einem leisen, fast schon lautlosen Summen gleitet die elektrische Tür auf, als der Mann in den langen Gang tritt. Er bleibt kurz stehen, um sich den schmerzenden Kopf zu halten. Es ist ein langer Tag gewesen. Zuerst hat er nach dem Aufstehen wieder die üblichen Probleme mit seiner Beinprothese gehabt, dann war da noch dieser verdammte Motorschaden, wegen dem er Stunden verschwendet hat und zu spät hier im Krankenhaus angekommen ist. Und nun soll er ein Mädchen zu seiner neuen Pflegefamilie begleiten. Wenigstens kann er die Nacht noch hier in Edmonton verbringen, bevor er sie morgen in ihr neues Zuhause bringen muss.

Eigentlich hasst er seinen Job. Er war noch nie gut darin, sich um Kranke und Schwache zu kümmern und jetzt muss er verstörte und verletzte Kinder zu ihren Pflegeeltern bringen und für sie da sein. Aber dieser Sozialberuf war der bestbezahlteste, den er nach dem Unfall hat bekommen können.

So schnell es ihm mit seiner Beinprothese möglich ist, geht der Mann zielstrebig auf Zimmer 109 zu, den Raum, wo das Mädchen für die Nacht untergebracht ist. Er klopft erst gar nicht an; außer ihr sind laut einer äußerst unsympathischen Krankenschwester keine anderen Patienten im Raum.

»Bringen wir's hinter uns.« Das Mädchen, das stillschweigend am Rand des weißen sterilen Bettes sitzt, fährt erschrocken zusammen. Sofort tut es dem Mann leid. Sie muss viel hinter sich haben, wenn sie jetzt im Krankenhaus ist und zu einer Pflegefamilie gebracht werden muss. Dabei sieht sie sogar relativ gesund aus. Von der blassen Farbe ihres Gesichts und den dunklen Augenringen mal abgesehen.

»Entschuldige die Störung.« Mit zusammengekniffenen Augen versucht er den Zettel, der ihm von seinem Boss vorhin rasch in die Hand gedrückt wurde, zu entziffern. Hätte er am morgen nur nicht seine Kontaktlinsen vergessen. »Aria, richtig?« Das kraftlose Mädchen nickt zögernd. Er räuspert sich und spricht mit belegter Stimme weiter. »Ja, also du musst vorerst zu deinem Vater, wie du es wahrscheinlich schon erwartet hast.« Er hebt fassungslos die Augenbrauen, als er liest was mit Aria Diaz'Mutter geschehen ist. Intensivstation und Koma. Ein schweres Schicksal für beide, Mutter und Tochter.

»Ich muss wohin?« Schnell wie eine Raubkatze springt sie vom Bett auf. Ganz so kraftlos ist sie anscheinend doch nicht. »Also, mir wurde gesagt, dass du noch minderjährig bist und deshalb zu deinem Vater und seiner neuen Familie ziehen musst, vorausgesetzt, das ist für ihn okay.«
»Neue Familie? Ich dachte, er lebt alleine! Er hat schon bereits nach zwei Jahren Ersatz für uns?« Fassungslos starrt Aria ihn an. Er zuckt nur mit den Schultern. Familiendramen eben. Als ob er nicht selbst schon genug davon hätte.
»Dieser Wichser!« Aria rauft sich die Haare und läuft zähneknirschend im Zimmer auf und ab. Sie murmelt noch ein paar andere Flüche, von denen der Mann gar nicht gewusst hat, dass sie existieren. Wahnsinn, was man von so einem siebzehnjährigen Mädchen alles lernen kann. 

»Und wie heißt er jetzt? Und wie viele sind es?« Sie zischt die Wörter nur noch, besonders das S. Wie eine hungrige Schlange. Wäre er nicht fast dreißig Jahre älter als sie, hätte der Mann beinahe Angst vor ihr.

»Er wohnt jetzt zusammen mir seiner neuen Frau und deren Kinder in Drayton Valley. Sie sind beide ungefähr so alt wie du. Warte, ich bin mir sicher, ich habe die Namen irgendwo gelesen....« Hektisch blätterte er in den Dokumenten. »Ist mir egal, wie diese Pajeros heißen«, murmelt Aria leise, während sie unruhig durch das Zimmer schreitet.

»Bitte was? Oh, da ist es ja. Rose und Arvid heißen deine neuen Stiefgeschwister.« Wie versteinert bleibt Aria stehen. »Wie heißen sie?« Ihre Stimme klingt bedrohlich leise. Verwirrt runzelt der Mann die Stirn. »Rose und Arvid Miller. Kennst du die beiden etwa?«
»Oh mein Gott«, haucht Aria. »Das kann nicht sein, das darf nicht wahr sein. Womit habe ich das verdient?«
»Was meinst du?«

Aria antwortet nicht. Stattdessen dreht sie sich ohne weitere Worte um und verlässt mitsamt lautem Türknallen das Krankenhauszimmer.

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