01. Die versteckten Papiere

Isabelle

Der Wind fuhr über das Wasser und erzeugte Wellen, die an den Bug des Bootes klatschten und Spritzer nach oben schleuderten. Über die Reling hing ein Mädchen mit braun gebrannter Haut. In der Sonne, die gnadenlos herab schien, glänzte ihre lockige, rote Mähne wie Kupfer. Eine plötzliche Stimme hinter ihr ließ sie aufblicken und ein wenig verwirrt sah sie über die Schulter. Ihr Bruder konnte heute nicht dabei sein, wer sprach sie denn dann an? Es war ein Mädchen, ungefähr in ihrem Alter und sie weckte Izz aus ihren Träumereien. "Was ist denn?", fragte sie noch etwas verwirrt, weil sie gerade von dem herrlichen Wetter und der Aussicht genossen hatte. "Ich dachte du könntest mir vielleicht helfen. Mein Bruder hat ein kleines Problem." Die hellgrünen Augen des Mädchens sahen bittend zu Izz auf und sie konnte nicht anders, als sich von der Reling abzustoßen und sich ihr zuzuwenden. "Wie heißt du denn?", fragte sie jedoch, anstatt mit ihr zu kommen, was ihr Gegenüber anscheinend erwartet hatte. Sie drehte sich wieder zurück und streckte in einer höflichen Geste die Hand aus. "Ilayda. Ilayda White um genau zu sein." Nur ganz kurz zögerte Izz, fragte sich, ob sie ihre Hand ignorieren sollte, aber nach einen Blick in das elfenhafte Gesicht, tat sie es nicht. "Ich bin Isabelle Connor, aber alle nennen mich Izz", grinste sie.

Am frühen Morgen war die Gesellschaft auf dem Boot zusammen gekommen. Acht herrliche Wochen Ferien lagen hinter ihnen, aber kaum einer war enttäuscht oder traurig, dass es vorbei war. Denn an diesem Tag fing ihr Leben an der Island High an. Dies war der Morgen, an dem sie zum ersten Mal dort begrüßt werden würden, zum ersten Mal ihre Klassenkameraden kennen lernen würden, zum ersten Mal die Insel betreten würden. Wer wusste denn schon was vor ihnen lag? Wer wusste was die Zukunft brachte?

Nur ein paar Tränen waren geflossen, als die neuen Fünftklässler sich von ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihren Haustieren verabschiedeten. Aber nicht bei Izz. Nachdem ihr Vater an einer schrecklichen Krankheit gestorben war, trank ihre Mutter nur noch. Sie hatte schon befürchtet sie würde ihr nicht erlauben das Internat zu besuchen, weil es bestimmt sehr teuer war, aber anscheinend wog die Aussicht ihre Kinder endlich beide für ein ganzes Semester los zu sein schwerer, als die Sorge um Geld. Der Abschied von ihrem Bruder war ihr da sogar schwerer gefallen, obwohl sie ihn noch am heutigen Tag wiedersehen würde. Denn für die Fahrt zur Insel bekam jede Klasse ihr eigenes Boot. Bei den Gedanken an Leyla, ihre Perserkatze, die sie Zuhause hatte lassen müssen, schmerzte ihr Herz dann aber schon.

Ilayda führte Izz an das andere Ende des Decks, wo es viel lauter und voller war als dort, wo sie gerade noch gestanden hatte. Die meisten neuen Fünftklässler hatten sich hier versammelt und redeten und lachten miteinander. Wie konnten sie sich schon so schnell verstehen? "Was hat dein Bruder denn eigentlich für ein Problem?" Bis jetzt hatte das Mädchen mit den dunkelbraunen Korkerzieherlocken sie noch nicht eingeweiht und sie konnte sich auch nichts darunter vorstellen. Außerdem konnte ihr Bruder gar nicht hier sein, denn nur die Fünftklässler konnten auf dieses Boot. Bei dieser Erkenntnis blieb Izz plötzlich stehen. "Was soll das Ganze?" Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen, während Ilayda sich ihr zuwandte. "Was denn?", fragte sie unschuldig. "Aidan ist dahinten und er steckt fest, bitte!" "Dann sag mir erstmal die Wahrheit, er kann gar nicht dein Bruder sein!" Verwirrung machte sich in Ilaydas Gesicht breit. "Doch allerdings, er ist mein Zwilling, also komm jetzt, wir müssen schnell sein." Izz biss sich auf die Zunge wegen ihres Fehlers und folgte ihr deswegen so schnell wie möglich.

Schließlich standen Ilayda und Izz unter Deck, vor ihnen ein Junge mit ebenso dunkelbraunen, aber zerzausten Haaren, wie Ilayda und tiefblauen Augen. Er saß auf den Boden, sein eines Bein komisch angewinkelt. "Na endlich", grinste er seine Schwester an. Izz sah sofort das Problem: Aidans Fuß war durch eine Planke gekracht und das Loch war nicht groß genug, um ihn wieder hinaus zu ziehen. Ungläubig, aber ebenfalls grinsend schüttelte sie den Kopf. "Was macht ihr überhaupt hier unten, wenn ihr hier nicht hin dürft?" "Bitte, sprich nicht davon", antwortete Aidan sofort theatralisch und verdrehte die Augen. "Mein Schwesterherz hat mich gezwungen und mich in diese Falle gelockt." Izz lachte, während er sich übertrieben nach hinten fallen ließ, was ein Knacken in den Planken unter ihm verursachte und er setzte sich sofort wieder auf, diesmal ein bisschen weniger fröhlich. "Könntet ihr euch bitte beeilen? Vielleicht kommt dieser Lehrer noch runter."

Aber so sehr die beiden Mädchen auch versuchten Aidan aus dem Loch zu befreien, es schien als würden sie ihn nur noch mehr hineindrücken. Izz zog ihre Stirn kraus. "Das kann doch nicht wahr sein, wie bist du denn da rein gekommen? Und warum ist dieses Boot überhaupt so instabil, dass das passieren kann?" "Leute, er kommt!" Izz schoss herum, aber es war nur ein weiteres Mädchen, groß, mit langen blonden Haaren, die einen roten Stich hatten. "Wer?", fragte sie verständnislos, aber Ilayda und Aidan schienen die Nachricht sehr wohl verstanden zu haben. "Und wer bist du?" Keiner hörte Izz zu, aber bevor sie sauer die Arme verschränken und sich aufregen konnte, hörten die vier Schritte. "Oh nein", wisperte Ilayda und jetzt wusste auch Izz endlich was hier vorging; der Lehrer kam.

Izz handelte sofort, sie konzentrierte sich, obwohl ihr Herz wild klopfte, weil sie hier verbotenerweise waren, und schloss die Augen. Ob es klappte konnte sie nie sagen, denn um ihre Fähigkeit anzuwenden musste sie sich so sehr konzentrieren, dass sie sich nie traute zu schauen. "Was macht ihr hier?" Die kalte, schneidende Stimme schallte durch den kleinen Raum und vorsichtig öffnete Izz ein Auge. Aidan saß immer noch auf dem Boden, Ilayda und das fremde Mädchen standen daneben, und sahen erschrocken zu dem Mann auf, der in der Tür erschienen war. Er sah noch jung aus, zumindest für einen Lehrer, hatte hellbraune Haare, fast so verwuschelt wie die von Aidan, und dunkelbraune Augen, aber sein Gesichtsausdruck war nicht gerade freundlich. "Ich habe gefragt was ihr hier macht!" Dabei sah er sie nacheinander an, Izz ignorierte er jedoch komplett. Ha!, dachte sie. Es funktionierte also.

"Ich stecke fest." Es war Aidan, der sich als erstes traute wieder etwas zu sagen und auf seinen Fuß zu zeigen. Nur sein Fuß war gar nicht mehr zu sehen, ab dem Knöchel steckte alles in dem Loch und durch das abgesplitterte Holz sah sie sogar ein wenig Blut. Wenn dieser Lehrer jetzt wirklich sauer wurde, dann durfte er kein Lehrer sein, fand Izz. Aber der Lehrer wurde sauer. "Ihr habt hier auch gar nichts verloren! Dieser Bereich ist für neugierige Kinder abgesperrt, könnt ihr etwa nicht lesen?!" Ilayda zuckte zusammen und plötzlich fühlte Izz sich schuldig, weil sich das hier eigentlich auch an sie richten sollte. Nur konnte der Lehrer sie nicht sehen, denn sie hatte sich unsichtbar gemacht. "Und jetzt raus hier!" "Aber...", fing Aidan an zu protestieren, aber der Lehrer unterbrach ihn, indem er gebieterisch die Hand ausstreckte. Plötzlich passierte etwas Seltsames. Aidan fing an zu schweben! Die Planken quietschten, als sein Fuß endlich frei kam und er hing frei in der Luft. Es sah gruselig, aber auch faszinierend aus.

Mit einem Krachen landete Aidan wieder auf dem Boden, rappelte sich sofort auf und sah den Lehrer, der ihn befreit hatte, ehrfürchtig an. "Danke", stammelte er, noch verwirrt von dem gerade erlebten Gefühl. "Macht das ihr verschwindet", knurrte der Lehrer nur, aber diesmal hörte sich seine Stimme sogar ein Ticken liebevoll an. Die drei taten wie geheißen, obwohl Ilayda sich noch einmal verwirrt umsah. Aber Izz konnte ihnen nicht folgen. Sie hatte öfters versucht in ihrer unsichtbaren Phase zu laufen, aber dann waren Teile von ihr wieder sichtbar geworden, weil sie sich nicht gleichzeitig auf beides konzentrieren konnte. Dafür war sie einfach noch nicht vertraut genug mit ihrer Fähigkeit.

Langsam ergriff die Angst doch ihr Herz. Was, wenn der Lehrer nicht weggehen würde? Dann müsste sie die ganze Zeit hier stehen bleiben und das hielt sie auch nicht lange aus, denn es kostete Kraft ihre Fähigkeit anzuwenden. Schweren Herzens sah sie den Dreien nach und versuchte die Luft anzuhalten, weil es jetzt plötzlich so viel leiser geworden war. Nur die Planken ächzen noch nach und ganz leise hörte man das Plätschern der Wellen von draußen. Der Lehrer stand immer noch im Türrahmen, dann kam er hinein. Das hatte sie schon befürchtet. Krampfhaft schloss sie ihre Hände zu Fäusten. Sie durfte jetzt bloß die Anspannung nicht nachgeben. Der Lehrer schritt so dicht an ihr vorbei, dass Izz einen leichten Luftzug fühlte, aber er sah sie nicht. Stattdessen ging er auf ein kleines Schränkchen zu, noch älter als das ganze Schiff, ging davor in die Knie und zog eine Schublade auf. Izz hörte ihn erleichtert aufseufzen, als er einen Packen Papier hinausholte und in seinen Mantel steckte. Jetzt war ihre Chance! Er hatte ihr den Rücken zugedreht, jetzt konnte sie fliehen! Aber der Mann war schon wieder aufgestanden, bevor Izz sich rühren konnte und lief wieder zur Tür. Dort drehte er sich noch ein letztes Mal um, sah nochmal in den Raum und schloss dann die Tür hinter sich. Izz hörte seine Schritte in der Ferne verklingen.

Nur Sekunden danach ließ Izz ihre gesamte Anspannung von sich fallen und pustete erleichtert die Luft aus, die sie angehalten hatte. Als sie hinab blickte erkannte sie, dass sie wieder sichtbar war. Aber was hatte der Lehrer da gemacht? Neugierig geworden schlich sie vorsichtig um das Loch herum und zog die Schubladen des Schränkchens auf, jedoch ohne Erfolg; alle waren leer. Der Mann hatte also das was hier drin gewesen war schon mitgenommen, ein Stapel Papier, soweit sie das hatte erkennen können. Das musste sie sofort den anderen erzählen! Plötzlich hielt sie inne. Hatte sie das gerade wirklich gedacht? Sie hatten sie doch hier mit rein gezogen, vielleicht sogar mit Absicht und sie kannte sie doch gar nicht! Aber sie waren nett, widersprach sie sich selber resolut und machte sich auf den Weg.

Als das Mädchen endlich wieder auf dem Deck stand und die Sonne so freundlich, als wäre nichts gewesen, auf sie herab strahlte, fühlte sie sich so gleich schon viel wohler. "Ich hab sie!" Fast im gleichen Moment fasste sie jemand beim Arm und zog sie mit, bis sie endlich erkannte, dass es das fremde Mädchen von gerade eben war. Bevor sie protestierten konnte, standen auch die Zwillinge schon vor ihr, diesmal nebeneinander und Izz konnte Aidan endlich in aufrechter Position mustern. Hier am hinteren Ende des Decks war es ruhig und auch von dem Lehrer fehlte jegliche Spur. "Erzähl schon!", rief die Fremde wissbegierig. "Ja ja, schon gut. Wer bist du überhaupt?" "Oh, tut mir leid, ich bin Rose. Und jetzt schieß los!" Sie schien voller Tatendrang zu stecken, etwas was Izz wiedererkannte und Grinsen ließ. "Na gut. Ich habe mich unsichtbar gemacht", verkündete sie stolz. "Wusste ichs doch", murmelte Ilayda. "Dann bin ich noch da geblieben und habe gesehen wie dieser Lehrer...", sie senkte verschwörerisch die Stimme und die drei traten näher zu ihr. "...zu dem Schränkchen in der Ecke gelaufen ist und einen Stapel Papiere hinaus geholt hat. Er hat erleichtert geseufzt, das habe ich genau gehört! Wahrscheinlich hatte er Angst wir könnten sie finden. Danach hat er die Papiere in seinen Mantel gesteckt und ist weggelaufen. Ich habe im Schrank nachgeschaut, aber er war weiter komplett leer." Ilayda, Aidan und Rose schauten sie mit großen Augen an. "Einen Stapel Papiere? Wie groß?" "DIN A5 eher, denke ich." Sie wechselten bedeutungsvolle Blicke. "Bestimmt hat es etwas damit auf sich... nur was?"

Auftritte:
Isabelle Connor
Ilayda White
Aidan White
Rose Eaton
Christian Barrow
Diese Aufzählung wird euch jetzt immer am Ende jedes Kapitels begegnen.

Leute, es startet! Ich bin so aufgeregt! Was findet ihr davon? Ich hab immer so meine Mühen mit dem ersten Kapitel und so ganz zufrieden bin ich auch nicht, aber es ist ganz in Ordnung. Wenn euch irgendwelche Logikfehler, Grammatikfehler, Rechtschreibfehler oder was euch immer auffallen, dann schreibt das ruhig hin! Ich bin dankbar für jeden Besserwisser xD.
LG Muschel

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