Kapitel 6

Es war später Abend im Haus an der Swallowtail Drive.

Cas war im Arbeitszimmer, saß wie ein Sperlingsvogel im Schneidersitz auf seinem Stuhl und kritzelte zusammenhanglose Reime strukturlos und vereinzelt auf das Papier.

Er wollte nicht ins Wohnzimmer gehen. Dean trank – er hatte über die letzten paar Wochen immer mehr getrunken – und Cas hatte das Gefühl, dass er jeden Moment die Grenze von zufrieden zu bitter überschreiten würde.

Wenigstens etwas gab Cas ein winziges bisschen Hoffnung: Er konnte endlich spüren, dass das Gedicht über Dean, welches er inzwischen seit Monaten zu schreiben versuchte, wie eine Wolke in seinem Hinterkopf zusammenkam. In ein oder zwei Tagen würde er es haben, das wusste er. Cas testete gerade Metren und Kadenzen auf seinem Notizblock aus – er wartete mit dem Tippen, bis sich irgendeine Form von dem Papier unter seiner Hand abgehoben hatte – als Dean dreimal in willkürlichen Abständen an die Tür klopfte.

Cas hielt inne. Von draußen hörte er das ungeduldige Scharren von Deans Füßen, was bedeutete, dass er sehr betrunken war. Er war sich nur nicht sicher, wie betrunken.

Widerstrebend klopfte er mit seinem Stift auf den Tisch, um Komm rein zu sagen.

,,Hast ja lange genug gebraucht", sagte Dean, als er die Tür öffnete.

Cas schloss die Augen. Dann wohl sehr, sehr betrunken. Und nicht in freundlicher Stimmung.

Er drehte sich in seinem Stuhl um. Wenn du ins Bett gehst, komme ich erst später nach. Ich schreibe.

Dean hielt mit einer Hand seinen Flachmann fest, während er an der Wand des Arbeitszimmers lehnte und ihn mit trüben Augen irritiert ansah.

,,Schreibst du darüber, wie sehr du mich hasst?", fragte er und grinste, als ob er einen Witz gerissen hätte.

Cas runzelte die Stirn. Natürlich nicht. Gibt es etwas, über das du reden möchtest, Dean?

Dean lachte. Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken.

Seine grünen Augen verengten sich und er lächelte. Es war das gehässigste Lächeln, das Cas je auf seinem Gesicht gesehen hatte. Dean nahm einen Schluck und presste seine Lippen zu einer schmalen, missbilligenden Linie zusammen.

,,Du willst über etwas reden?", lallte er und wedelte ziellos mit seinen Armen herum. ,,Sicher, lass uns reden – oh, warte, das hab' ich vergessen. Du kannst ja nicht."

Die darauffolgende Stille bohrte sich wie ein Messer in seinen Bauch.

Cas stand auf. Er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen und eine heiße Welle von Scham über ihn rauschte, als er gestikulierte: Was hast du gerade gesagt?

,,Ich sagte, dass du nicht reden kannst. Ja? Du willst plaudern? Wir haben seit Jahren nicht geredet, weil du nicht reden kannst. Du kannst mit deinen Händen herumfuchteln, aber das ist nicht reden. Gott."

Dean nahm einen großen Schluck. Cas konnte die Tränen in seinen Augen prickeln fühlen, konnte seine eigenen Gedanken fast wimmern hören: Warum? Warum sagst du solche Sachen zu mir?

,,Hast du- Hast du irgendeine Ahnung, was ich alles ertragen musste? Na? Hast du? Du leistest deinen Beitrag überhaupt nicht, weißt du das?" Dean lachte. Es war ein schreckliches, schrilles, fürchterliches Lachen, das durch das Zimmer, das Haus und generell alles drang. Cas musste hinter sich nach dem Tisch greifen, um nicht rückwärts umzufallen. ,,Ich- Ich gehe da raus und rette Leute, ich arbeite in der Stadt und rette Leuten das Leben, während du dich hier wie ein Liebeskranker nach irgendwelchem Romantikscheiß sehnst, Gedichte schreiben versuchst und Angst vor dem Rasen im Vorgarten hast. Ich meine, komm schon, Mann!"

Cas wollte Hör auf sagen, doch seine Finger bewegten sich nicht. Er klammerte sich zur Unterstützung am Tisch fest, während die Worte ihn wie Steine auf seine Brust bombardierten.

,,Oh Gott. Du bist erbärmlich. Sieh dich an! Erinnerst du dich überhaupt, was du einmal warst? Na? Für mich? Für die Menschen da draußen? Du warst fantastisch, Mann, du warst etwas...fuck...etwas, das ich kennenlernen wollte. Ich wollte ein Leben mit dir haben, aber du bist lächerlich. Du bist- Du bist inzwischen völlig am Arsch, ehrlich gesagt, weißt du das?"

Er schüttete sich den restlichen Inhalt seines Flachmanns hinter und spuckte aus: ,,Manchmal machst du mich krank."

Castiel hielt es nicht mehr aus. In diesem Moment hätte er seine ganze Stärke und all diese Jahre für nur fünf Minuten Taubheit eingetauscht, damit er das nicht hören konnte. Er wandte Dean seinen Rücken zu, um sich an der Wand abzustützen. Seine Fingerspitzen strichen über die Unterseite des Bücherregals, welches Dean ihm gekauft hatte, über die Bücher, die Dean ihm gekauft hatte, und über den Tisch, den Dean ihm gekauft hatte. Das hier war der Raum, den sie in zusammen in dem Haus gefüllt hatten, das sie zusammen gekauft hatten, als sie noch glücklich und strebsam waren und Gedanken an Kinder und Farbfächer und Familienessen hatten und auf dem Boden des Wohnzimmers miteinander geschlafen haben und in sinnflutartigen Regenfällen Liebesbekundungen gegen des Hals des anderen geflüstert beziehungsweise gestikuliert hatten.

,,Oh, komm schon, lass mich hier nicht so hängen. Mach weiter", fuhr Dean fort. ,,Sag etwas."

Nein.

Bevor er wusste, was geschah, waren seine Hände an der Unterseite des Tisches – dem antiken Schreibtisch für achtzig Dollar – , schleuderten ihn beiseite und warfen ihn um. Die Schreibmaschine – das Geschenk, das Dean vor Monaten und Monaten und allem Glück für ihn gefunden hatte – wurde auf dem Boden in tausend Teile zerschmettert. Schwarze Tasten verteilten sich in jeder Ecke des Zimmers, Metallfedern und Plastik schepperten, zerbrachen und dellten ein.

Der Tisch zersplitterte und barst inmitten der Bücher, Papiere, Stifte und unfertigen Gedichten. Die ganzen unvollständigen Reime, in denen er versucht hatte, über Deans Augen, Lächeln und Seele zu schreiben, wurden so entzweigerissen, wie er entzweigerissen wurde. Sein Atem kam stockend und die Tränen brannten wie paradiesisches Feuer in seinen Augen, während er sich zu Dean umdrehte, der ihn anstarrte, als ob er ihn nüchtern gerüttelt hatte.

Cas brauchte nur einen Schritt nach vorne, um ihn mit Fäusten und Tritten zu bearbeiten. Er ließ seine Knöchel auf seinen Kiefer, seine Brust und seinen Hals treffen und stieß ihn rückwärts gegen die Wand, die durch den Aufprall erbebte. Cas platzierte die Schläge wie Küsse, welche Blut hervortreten ließen, und spürte Deans Nasenbein unter seinen Fingern brechen. Trotzdem schlug er weiter auf ihn ein, steckte seine ganze Angst, Wut, Trauer und Verwirrung in den Schwung seiner Hände und schrie Graffiti in einer Gebärdensprache, die keiner von ihnen verstand.

Dann schlugen Deans Fäuste zurück und seine Knöchel öffneten Wunden entlang seiner Wangenknochen. Cas konnte Blut auf seinen Lippen schmecken, so salzig, und er stolperte und atmete ein, um sich wieder mit seinen Fäusten auf ihn zu stürzen. Dean brüllte etwas, das er nicht verstehen konnte, nicht verstehen wollte. Sie wurden auf ihre Knie geworfen und taumelten wieder hoch, entfachten Schmerz und schmierten rote Farbe auf die Wand. Überwältigt packte Cas Dean, drückte ihn nach hinten und ließ ihn mit dem Rücken an die Mauer knallen. Er konnte nicht aufhören, konnte nicht...

Irgendwo in diesem ganzen Chaos verlor er sich und wachte in gekrümmter Stellung neben Deans Schulter auf; Dean, der blutbeschmiert und benommen auf dem Boden lag. Castiel hockte neben ihm, weinte mit offenem Mund, gab geräuschlose Schluchzer von sich und umklammerte Deans Shirt. Er wollte so dringend mit all seinen Fingernägeln in ihn greifen und den wahren Dean herausreißen – den mit den grünen Augen, um die sich Fältchen bildeten, wenn er lächelte, den mit den Zähnen, die sich nach innen bogen, den mit den schwieligen Händen und den geschmeidigen Muskeln und dem warmen Herz und der umfassenden, leuchtenden, wunderschönen Seele. Aber er hatte ihn irgendwo in dem Haus verloren, diesem Haus. Dieses Haus hatte ihn verzehrt und sie beide ruiniert, dieses Haus hatte sie auf Abwege geführt. Nein. Nein. Er klammerte sich an den Dean, der nicht seiner war, denn wenn er sich nicht irgendwo festhielt, würde er durch die Holzdielen fallen und niemals damit aufhören, niemals, niemals, niemals. Nein.

Dieses Haus hatte die Monster hereingelassen.

Als Dean einen Moment später zu sich kam, sagte er kein Wort.

Er kauerte sich mit Cas an die Wand, der in seine Schulter weinte, bewegte keinen Muskel und sagte kein Wort.

_____

In dieser Nacht schliefen sie getrennt.

Das hatten sie zumindest vorgehabt.

Dean lag wach auf der Couch, als Cas in den frühen Morgenstunden die Treppe hinunterkam. Seine Hände lagen auf dem Geländer und zitterten immer noch.

Dean setzte sich auf, als er ihn dort stehen sah. Auf Deans Gesicht waren immer noch Blutspuren, ein Schnitt auf seiner Lippe, die Nase in einer unnatürlichen Stellung. Nichts, das nicht heilen würde.

Er sagte nichts.

Er sagte nicht Hey, doch er sagte auch nicht Geh.

Castiel stand am Treppenende und schaute ihn für eine lange Zeit an.

Im ganzen Zimmer – im ganzen Haus, wie es schien – lag der Brandgeruch in der Luft.

Das Erste, was Cas gestikulierte, war: Es tut mir leid.

Dean schüttelte daraufhin den Kopf und sagte leise: ,,Gott, es muss dir nicht leidtun. Bitte entschuldige dich nicht. Es war meine schuld."

Dean, ich glaube, ich werde verrückt.

Dean sagte nichts.

Er stand auf und kam über den Wohnzimmerboden zu ihm. Obwohl Cas bei seiner Berührung zusammenzuckte, nahm er behutsam seine Hand, führte ihn zur Couch zurück und ließ sich wieder darauf nieder.

,,Was meinst du damit?" In seiner Stimme lag keine Herablassung, keine Arroganz oder Verachtung. Er sagte es in einem Ton, der bei Cas den Gedanken aufkommen ließ, dass er Gott für dieses bisschen Erbarmen gepriesen hätte.

Dieses Haus treibt mich in den Wahnsinn, gestikulierte er. Endlich diese Worte formen zu können, schien ein gewaltiges Gewicht von seinen Schultern zu nehmen. Mit vorgebeugtem Oberkörper fuhr er fort: Ich stecke fest – ich kann nicht gehen, aber ich hasse es zu bleiben. Hier überkommen mich Vorstellungen, die nicht vorhanden sein sollten, Gedanken über dich und mich. Sie lassen mich Sachen denken, die nicht wahr sind. Und wenn ich alleine bin, fühle ich mich beobachtet. Ich schwöre dir, dass sich die Wände bewegen und da Dinge sind, die vorher nicht da waren. Wenn ich alleine bin, ruft etwas in diesem Haus nach mir. Ich hasse es, leer zu sein, Dean, ich kann nicht mehr leer sein – leer zu sein, macht mich so ängstlich...

,,Wir können gehen", sagte Dean. ,,Wir können gehen, Cas, wir können woanders hingehen."

Aber das ist das, wovon wir geträumt haben. Dieses Haus fühlt sich so viel lebendiger an als du und ich. Ich weiß nicht, ob ich verrückt bin, ich- Ich weiß nur, dass du dich verändert hast und dieses Haus so still ist, dass es schreit, und ich es hasse. Ich hasse es hier. Ich hasse es hier.

,,Dann lass uns gehen", antwortete Dean und klang fast erleichtert, als ob ihm irgendeine große Offenbarung oder ein durchdringender Gedanke gekommen war, als ob er darauf gewartet hatte, als ob er irgendeinen lang angehaltenen Atemzug freilassen würde. ,,Lass uns von hier verschwinden. Wir können woanders hinfahren. Du kannst all das hier loslassen."

Ich will dich zurück, gestikulierte Cas.

,,Ich war nie weg", sagte Dean sanft. Cas spürte, wie sich etwas Riesiges bewegte, wie eine Schraube, die an ihren Platz zurückgedreht wurde. Die Veränderung hob sich wie ein Schleier von Deans Gesicht. Sie schwebte über ihm, fiel aber nicht herab. Cas ließ sich seitlich in seine Arme sinken und empfand dort zum ersten Mal seit Monaten wieder Trost.

,,Du musst nur loslassen, Cas", murmelte Dean. Eine seiner Hände hob sich und fuhr ihm über seine Haare, die andere blieb sanft auf seinem Oberschenkel liegen und hielt ihn warm und nahe bei sich. ,,Es ist mir egal, ob es an dir oder dem Haus liegt, ob du verrückt bist oder nicht, okay? Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Du musst nur aufhören, Angst zu haben."

Ich glaube nicht, dass ich das kann.

,,Dann werde ich hierbleiben, bis du es kannst", flüsterte Dean.

Sie rollten sich dort in der Dunkelheit auf der Couch zusammen. Dean murmelte wieder und wieder ,,Ich liebe dich so sehr." an Castiels Schläfe.

Es wurde fast zu einem Mantra oder einem Schlaflied. Cas ließ die Worte in seine Finger treiben, atmete zum ersten Mal seit Äonen ein – so fühlte es sich zumindest an – und presste seine Hände an seine Brust. Sein Körper entspannte sich in den Beugungen von Deans. Dean hielt ihn ganz nahe und unglaublich ruhig bei sich.

Flüsternd.

Es geschieht alles in meinen Kopf, oder?, gestikulierte er, und Dean antwortete: ,,Vielleicht."

Wie das statische Rauschen eines Radios. Hielt die Stille und die Monster in Schach. Drängte die Dunkelheit und die Stille in ihre Ecken zurück, drückte das Haus wieder in seinen ursprünglichen Zustand, zog das Licht vom Himmel durch die Fenster und Risse im Holz. Flüsternd, beruhigend, gleichmäßig, sicher und vertraut.

_____

Castiel wachte zu spärlichem Sonnenlicht und dem Geräusch seines Handys auf, das in der Küche vibrierte.

Er lag auf der Seite auf dem Sofa, eine Hand ruhte flach auf dem Polster. Dean war nicht länger neben ihm. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Durch die Fenster war der Himmel dunkel und hing tief – später würde es regnen, das wusste er.

Langsam stand er auf und ging in die Küche, um sein Handy zu holen. Der summende Bildschirm war verstummt, doch als er ihn aufklappte, sah er, dass er eine neue SMS von Sam hatte.

Cas runzelte die Stirn. Sam hatte ihm schon jahrelang nicht mehr geschrieben. Er rief immer an oder schrieb Dean, wenn er mit einem der beiden reden musste.

Cas öffnete die Nachricht.

Ich komme heute später mal vorbei. Es tut mir so leid, dass es nicht früher ging.

Cas' Stirnrunzeln vertieften sich. Vielleicht hatte Sam es aus Versehen ihm geschickt anstatt Dean. Er legte das Handy hin und klopfte dreimal an die Wand, um Dean zu sich zu rufen, wo auch immer er in dem Haus gerade war – er würde sicher wissen, wovon Sam redete – und öffnete den Schrank, um sich ein Glas Wasser eingießen zu können.

An die Theke gelehnt wartete er darauf, dass Dean herunterkam, doch das Haus war komplett still. Cas klopfte erneut auf den Tisch, diesmal stärker, und hielt inne.

Da war kein Knarren der Holzdielen, kein Ächzen der Treppe.

Cas spürte, wie sein Herzschlag allmählich schneller wurde. Er ließ sein Handy auf dem Tisch zurück und ging die Stufen hinauf.

Das Bett war immer noch von letzter Nacht ungemacht, als er zu Dean ins Wohnzimmer gegangen war. Die Badezimmertür stand offen und die Dusche war aus. Er spähte hinein und hinter die Vorhänge, aber der Raum war leer.

Cas zog kräftig am klemmenden Griff der Dachbodentür und lehnte sich hindurch, doch der Korridor unter dem Dachvorsprung war leer - bis auf die letzte, unberührte Kiste, die ganzen Schatten, Spinnennetze und die schwere Stille, die davon zeugte, dass Dean nicht hier war.

Während er die Treppe wieder hinunterging, klopfte Cas an die Wände und spürte einsetzende Angst um seine Rippen streichen. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Ihr Signal, das niemals versagte. Er erhielt keine Antwort. Cas öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und sah, dass der Tisch und die Schreibmaschine immer noch in Einzelteilen auf dem Boden lagen, dass das Fenster immer noch verschlossen war. Er ging durch das Wohnzimmer, die Küche, die Abstellkammer, das leere, unbenutzte Gästezimmer und klopfte an jede Wand. Eins, zwei, drei, jedes Mal lauter und stärker.

Keine Antwort. Kein Dean. Die Stille des Hauses war jetzt ohrenbetäubend.

Inzwischen war es wahre Panik, die wie Adrenalin durch seine Adern floss. Der Impala stand immer noch geparkt vor dem Haus und es gab auch keine verschwindenden Fußabdrücke draußen im Schlamm. Cas öffnete die Haustür und beugte sich zur Seite, um die Veranda zu sehen – nichts. Er schluckte schwer, zog sich wieder zurück und lief durch den Flur zur Fliegengittertür und zur hinteren Veranda – nichts.

Cas schlug seine Faust gegen die Fassadenverkleidung an der Seite des Hauses, eins, zwei, drei. Es war laut genug, dass es an den Bäumen hinter dem Grundstück widerhallte.

Für einen Moment lehnte er sich schwer atmend gegen die Wand und spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Seine Knöchel schmerzten durch das Klopfen an das Holz.

Wo war er hingegangen?

Ein Mutter-Blauhäher verließ ihren Baum. Cas erinnerte sich an geschleuderte Steine und die alte Wasserpumpe und nahm von den Verandastufen zwei auf einmal. Barfuß rannte er in die Wälder und den Pfad zur Pumpe entlang, wo allerdings niemand war. Kein Dean. Nur für einen Moment hielt er inne, schaute hierhin und dorthin, suchte nach Fußspuren oder abgeknickten Stängeln oder plattgetretenem Gras, wählte aufs Geratewohl eine Richtung und lief los. Auf seinem Weg schlug er immer wieder mit seiner Handfläche an Bäume – eins – zwei – drei – und scheuchte Vögel aus ihren Nestern in den Himmel hinauf. Er rief auf die einzige Weise nach Dean, zu der er fähig war. Seine Augen suchten verzweifelt nach einem kurzen Erscheinen des Karohemdes, in dem Dean schlafen gegangen war, einem Abdruck seiner Stiefel, einem Aufblitzen seiner Augen inmitten all des Grüns.

Cas hämmerte mit seiner Faust an die Bäume, nahm immer kleiner werdende Pfade und fand sich in verwirrenden Schleifen wieder, die zur Wasserpumpe zurückführten. Er lauschte genau auf jegliches Geräusch, brechende Zweige oder Schritte, hörte jedoch nichts, sah nichts. Oh Gott. Oh Gott.

Wo konnte er möglicherweise hingegangen sein?

Für einen Moment hielt Cas inne, da er nicht wusste, wo er war, öffnete seinen Mund und versuchte mit all seiner Kraft Deans Namen zu brüllen. Er wusste zwar, dass nichts herauskommen würde, doch er versuchte es trotzdem, hoffte, betete, dass es irgendwie funktionieren möge – aber natürlich tat es das nicht. Tränen traten in seine Augen. Jedes Mal, wenn er den Kopf hob, sah er nur den wirbelnden Himmel über sich, der dazu bereit war, sich weit mit Regen zu öffnen. Bitte nicht, noch nicht, flehte er still. Vielleicht werde ich seine Fußspuren noch finden, und wenn es regnet, werden sie weggewaschen. Er muss irgendwo da draußen sein...

Allerdings sagte die Panik: Dean ist nicht in diesen Wäldern. Das ließ ihn zum Haus zurück- und fast mit seinen schlammigen Füßen durch den Flur rennen. Er schaffte es knapp bis zum Treppenende vor der Haustür, bevor die Angst mit voller Wucht zuschlug. Cas stoppte abrupt, ergriff das Geländer für einen besseren Stand und starrte mit abgehackten Atemzügen und hämmerndem Herz auf die Einfahrt, die zum Highway wegführte. Falls er gegangen war... Falls er diesen Weg entlanggegangen war... Er könnte hineingehen und auf Dean warten, Dean würde garantiert zurückkommen, garantiert...

Es kostete ihn alles, was ihn ausmachte, von der untersten Stufe zu steigen und die Einfahrt hinabzulaufen. Ihm war übel und er fühlte sich schwach. Steine und Zweige drückten sich in seine Füße. Er schaffte es zur Straße, bis er seine Knie einknicken fühlte und er zurück taumeln musste, zurück zum Haus. Seine Fußsohlen bluteten und brannten wegen des Drecks.

Cas gelang es, einen Blick auf die Seiten der Straße zu werfen, bevor er zurückwankte – keine Menschen, keine Autos. Kein Dean.

Dean war fort.

Nur für einen Moment ließ er sich auf die Verandastufen sinken, um winzige Kieselsteine aus seinen Fußsohlen zu holen. Dann eilte er humpelnd in die Küche, schnappte sich sein Handy, wählte Deans Nummer, stellte den Lautsprecher an und wartete. Sein Atem kam stoßweise und brannte in seinem Hals.

Brannte. Auf der ganzen Welt lag dieser Brandgeruch.

Es kam keine Antwort, nur das konstante Piepen. Er versuchte es noch dreimal, erhielt aber kein anderes Ergebnis. Cas schickte eine SMS, doch konnte sich nicht sicher sein, dass sie angekommen war. Er lehnte sich an die Theke, um sich vom Zittern abzuhalten, und rief wieder und wieder und wieder an.

Nein. Nein. Das war nicht gut. Etwas war anders, etwas hatte sich verändert, etwas lief schrecklich falsch.

Cas schlug wieder und wieder mit der Hand auf die Thekenplatte, als ob er, wenn er nur genug Lärm machte, Dean aus der Versenkung locken konnte, aber nichts geschah. Rein gar nichts.

Er ließ das Handy offen und unaufhörlich piepend liegen und stieg wieder die Treppe hoch. Seine Füße stachen und schmerzten. In ihrem Schlafzimmer riss er die Schubladen ihrer Kommode und ihres Nachttisches auf, während seine Hände verzweifelt nach einer Pistole suchten. Cas wusste, dass sie noch im Haus sein mussten, irgendwo, sie hatten Dutzende gehabt, und Dean hätte sich nicht komplett weggenommen. Er fand nichts. Erst als er sich umdrehte, um ins Erdgeschoss zu gehen, sah er Deans Reisetasche offen auf dem Stuhl an der Wand stehen und hielt abrupt inne.

Neben dem Rosenkranz und den Messern lag darin eine Pistole. Mit bebenden Fingern nahm Castiel sie und sah, dass sie geladen war.

Er stolperte fast die ganze Treppe hinab, stieß die Hintertür auf, rannte die Verandastufen hinunter und landete im nassen Gras, als der Regen vom Himmel zu fallen begann. Cas drückte die Griffsicherung herunter, hob seinen Arm in die Luft und feuerte drei Schüsse ab.

Eins.

Zwei.

Drei.

Schwer atmend stand er im Platzregen und senkte seinen Arm, als nach seinen Schüssen wieder Stille eintrat. Blaue Augen glitten über das Gras, die Bäume und das hohe, leise Haus, während er verzweifelt wartete und betete, dass Dean ihm antworten würde, sein drei-Schuss Signal hören und mit offenen Armen und besorgtem Gesichtsausdruck und Ich war nur spazieren aus den Bäumen hervorkommen würde. Er wartete und betete und hoffte so sehr, dass er sich dort im Gras im Regen fast erbrach.

Doch obwohl sich der Sturm über ihm voll entfaltet hatte und der Regen auf das Dach, die Veranda und die Bäume prasselte, war die Stille des Hauses immer noch da. Sie lag unter allem und füllte seinen Mund wie Wasser.

Cas konnte seinen Atem und Herzschlag hören, der wie Donner in seinen Ohren erklang. Durch das Wasser, das über seine Augen strömte, blickte er zum Haus hinauf.

Für eine halbe Sekunde dachte er: Das Haus hat ihn verzehrt. Dann ließ er die Pistole in den Schlamm fallen und sank in dem nassen Gras auf seine Knie.

Dean war fort.

Castiels Atem kam stockend, keuchend atmete er ein und aus. Er spürte die Panik wie ein Feuerwerk hinter seinen Augen aufkeimen, fühlte sich, als ob er ohnmächtig werden würde. Nein, nein, nein. Dean konnte nicht fort sein. Dean war immer noch hier, irgendwo, genau wie er es versprochen hatte. Er war nicht fortgegangen. Das Haus hatte ihn nicht genommen. Nein, nein, nein.

Ganz und gar nicht. Keineswegs.

Cas musste nur ins Haus zurückgehen und Dean würde jede Minute wieder da sein. Das Haus war sicher. Das Haus war da, wo er sein musste.

Er stand vom Boden auf, strich mit schmutzigen Händen den Dreck von seinem T-Shirt und fuhr sich mit zitternden Fingern über seine Wange, um die Tränen und das Wasser wegzuwischen. Cas verzog seinen Mund zu einem wackeligen Lächeln, ging unsicher die Stufen hoch und ins Haus zurück und schloss leise die Tür hinter sich.

Alles war gut. Alles war vollkommen in Ordnung.

Es musste innehalten, um sich für einen Moment an der Wand abzustützen, aber nur für einen Moment. Nein, nein, alles war gut. Es ging ihm gut.

Cas hob den Arm, um mit einer schlammbeschmierten Hand durch seine Haare zu fahren, und roch Asche auf seiner Haut.

_____

Als Sam Winchester später diesen Nachmittages an die Vordertür des Hauses an der Swallowtail Drive klopfte, war er nervöser, als er es seit langem gewesen war. Er behielt seine Hände in den Taschen und warf immer wieder Blicke zum Impala, der in der Einfahrt stand. Auf dem Weg die Stufen hoch hatte sich eine Unruhe auf ihn gelegt, als ob das Haus irgendwelche dunkle Schwingungen aussandte.

Er klopfte erneut, und dieses Mal öffnete sich die Tür.

Castiel hielt die Tür halb offen an seiner Brust und gestikulierte ein behutsames Hallo, Sam.

Sam starrte ihn für einen Moment an und nahm die eingesunkenen Augen, geröteten und zerschrammten Knöchel und die Schlammspuren unter seinen Fingernägeln in sich auf. Er brauchte lange, bis er sprechen konnte.

,,Cas."

Castiel antwortete nicht.

,,Gott, es tut mir so leid, dass ich nicht früher vorbeigekommen bin."

Castiel runzelte die Stirn. Du bist willkommen, wann auch immer du herkommen möchtest.

Sam blinzelte. Auf seinem Gesicht lag ein Zug von Unsicherheit, der Cas beunruhigte. Wie zur Verteidigung schloss er die Tür ein winziges Stück und blieb dahinter mit seiner Stirn an der Kante stehen.

,,Ich- Ich wollte vorbeikommen und sicherstellen, dass es dir gut geht", sagte Sam schließlich. Er hielt inne und sah nach rechts und links, als ob er gegen irgendetwas ankämpfte – vielleicht den Drang zu weinen. Cas hatte keine Ahnung, warum. Es war nur für einen Moment, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder ihm zuwandte. ,,Du weißt schon. Die- Die Shaws haben angerufen, sie haben angefangen, sich Sorgen zu machen..."

Das müssen sie nicht. Uns geht's gut. Willst du hereinkommen?

Er griff zum Türknauf hinab und als er wieder hochsah, war Sams Gesicht totenblass geworden.

,,Was hast du gesagt?", fragte er, die haselnussbraunen Augen weit aufgerissen. Sämtliches Blut war aus ihm gewichen. Cas empfand eine Spur Unbehagen in seiner Brust.

Ich sagte, dass es uns gut geht, gestikulierte er mit gerunzelter Stirn. Dean und mir geht es gut und die Shaws müssen sich keine Sorgen machen.

Sam starrte ihn an, als ob er gerade einen Mord gestanden hatte. Sein Mund stand offen und sein Gesicht war leichenblass.

Warum siehst du mich so an?, gestikulierte Cas.

Sam atmete ein, nahm einen tiefen und zitternden Atemzug, und sah aus, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde, direkt dort auf der Veranda. Seine Augen wurden wässrig und er presste seine Lippen zusammen. Er machte den Eindruck eines Kindes, das von der ganzen Welt verlassen worden war.

,,Cas", sagte er und würgte, ,,Cas, Dean ist tot." Die Stille, die sich infolge dieser Worte auf ihn senkte, war die längste und dunkelste, die Castiel je erlebt hatte.

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