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Wo bin ich?

Das ist mein erster Gedanke, als sich meine Augen einen Spalt weit öffnen. Schnell kneife ich sie wieder zu und versuche, erneut einzuschlafen. Es ist albern, ich weiß. Aber in diesem Moment bin ich noch nicht bereit, mich dem zu stellen, was mich erwartet, wenn ich endgültig wach bin.

Allmählich kommen meine Erinnerungen vom gestrigen Tag wieder. Präsident Snow. Die Nachricht, dass ich Spielemacherin werden muss. Wie ich ausgerastet bin. Dann, der Kuss mit Coil. Der Streit mit meiner Familie. Quinn.

Zum Schluss erinnere ich mich auch an letzte Nacht, als Venia Hawktide mich nachts in den Zug vom Kapitol verfrachtet hat.

Der Zug. Jetzt weiß ich wohl auch, wo ich mich gerade befinde. Ich zwinge mich dazu, meine Augen zu öffnen und mich umzusehen. Ich versinke beinahe in einem weichen Sitz aus zartem Stoff, der direkt neben einem Fenster steht, aus dem ich den spektakulärsten Sonnenaufgang aller Zeiten erblicke. Die Sonne strahlt mir direkt ins Gesicht und wärmt meine eiskalte Haut auf.

Es ist ein so besonderer Moment, dass ich mich nicht einmal rühre um mich aus meinem viel zu großen Pullover zu befreien, der genauso schwarz ist wie meine Haare.

Wenn ich für wenige Sekunden vergessen könnte, wieso ich hier bin, würde ich sogar richtig glücklich sein.

Noch einen Moment sitze ich so da, genieße den Anblick und die unglaubliche Geschwindigkeit des Zuges, die mir das Gefühl gibt, alle meine Probleme hinter mir lassen zu können. Was natürlich ein einziger Irrtum ist, schließlich fahre ich gerade auf all die Probleme zu, vor denen es mir jetzt schon graut.

"Hey."

Eine Mädchenstimme lässt mich zusammenzucken.

"Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Aber ich habe einfach nach jemandem gesucht, der auch schon wach ist."

Das Mädchen scheint in meinem Alter zu sein und wirft mir ein vorsichtiges Lächeln zu.

"Darf ich mich hierher setzen? Ich habe uns auch zwei Tassen heiße Schokolade mitgebracht, falls du magst."

"Klar", antworte ich, woraufhin sie sich auf den Sitz neben mir gleiten lässt und mir eine Tasse mit der braunen Flüssigkeit reicht. Ich nippe daran und kann nicht anders, als einen Seufzer auszustoßen.

"Ohhhh."

Das Mädchen lacht leise. "Genauso habe ich auch reagiert, als ich es zum ersten Mal probiert habe."

Sie streckt mir eine Hand entgegen. "Amara Fairwing. Gerade 20 geworden und angehende Stylistin aus Distrikt 8. Mehr oder weniger freiwillig." Sie zieht eine Grimasse.

"Ich bin Raven. Raven Everdeen aus Distrikt 4." Ich schlage ein.

"Und wieso bist du hier?"

"Lange Geschichte, die damit endete, dass Präsident Snow mich dazu gezwungen hat, Spielemacherin zu werden."

"Übel." Amara sieht mich mitleidig an.

"Du sagst es. Aber ich will gerade nicht darüber reden."

"Kann ich verstehen."

Ich wende meinem Blick von dem Sonnenaufgang ab und sehe Amara zum ersten Mal richtig an. Sie ist ziemlich mager, aber nichtsdestotrotz außergewöhnlich hübsch.

Ihre kinnlangen dunkelblonden Haare fallen ihr ins Gesicht, auf dem ich plötzlich einen verträumten Ausdruck erkennen kann.

"Ehrlich gesagt denke ich die ganze Zeit darüber nach, wie ich nur eine kleine Sache in dieser Welt verändern könnte." Wie ich nur mit einem winzigen Detail dem Kapitol zeigen kann, dass ich mit all dem nicht einverstanden bin. Ein bisschen... wie eine kleine Rebellion."

Unwillkürlich zucke ich zusammen. Bisher ist es mir gelungen, die Erinnerungen an meine eigene Rebellion zu verdrängen, doch jetzt kommen sie mit aller Kraft wieder.

Es war alles meine Schuld.

"Ist alles in Ordnung?"

Ich nicke, doch Amara kann man wohl nicht besonders leicht täuschen.

"Das glaube ich dir nicht. Kann es sein, dass du irgendwelche schlechten Erfahrungen mit Rebellionen oder so etwas hast?"

"Dir entgeht aber auch nichts." Ich muss lächeln.

"Kann schon sein." Amara zuckt mit den Schultern.

"Wäre es in Ordnung, wenn wir jetzt nicht darüber sprechen? Ich... Ich werde es dir irgendwann erzählen. Bloß... nicht hier."

"Kein Problem", gibt Amara zurück.

Und plötzlich... fühle ich einen leichten Anflug von Kraft und sogar einen Hauch von guter Laune in mir.

Ich richte mich auf und sehe sie entschlossen an.

"Amara Fairwing - ich habe normalerweise einen ganz guten Instinkt. Und gerade sagt er mir, dass du die richtige Person bist, mit der man dem Kapitol eine Menge Ärger bereiten kann."

Ein Lächeln umspielt ihre Lippen und als ich die nächsten Worte ausspreche, breitet es sich auf ihrem Gesicht aus.

"Also, lasst uns überlegen, wie wir uns beide unvergesslich machen können."

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