Der Halleysche Komet

Nächtliche Ruhe und Frieden lag über dem Ravenclaw-Gemeinschaftsraum. Obwohl der Turm in der Weihnachtszeit wie ausgestorben war, schlich ich auf Zehenspitzen in meinen Schlafsaal und verschloss die massive Eichentür vorsorglich hinter mir. Ich glaubte nicht, dass Tom Riddle in dieser Nacht noch irgendetwas von mir benötigen würde, das ihn veranlassen könnte, mir nachzustellen, doch ich ließ lieber zu viel als zu wenig Vorsicht walten. Ein frostiger Windzug ließ mich erzittern, als ich durch die Dunkelheit tappte. Eines der großen Fenster stand offen, der weiße, hauchdünne Vorhang spielte gespenstisch im Wind und Schneeflocken trieben in kleinen Wehen hinein. Ich fluchte leise, zog das Fenster zu und entfachte mit meinem Zauberstab ein flackerndes Feuer im Kamin, das augenblicklich eine Welle von Wärme durch den Raum ergoss. Ich wollte mich grade auf einem Sessel vor dem Kamin einrollen, als mein Blick auf meinen Nachttisch fiel.

Ein großes und offensichtlich antikes Buch, das ich mich nicht erinnern konnte aus der Bibliothek ausgeliehen zu haben, ruhte auf einem Stapel alten Pergaments. Misstrauisch hob ich erneut meinen Zauberstab und nährte mich. Es wirkte keineswegs verdächtig, doch keinerlei Notiz oder Hinweis haftete an dem Umschlag und ich konnte nicht wissen, wer es mir hatte zukommen lassen. Alte Runen und gold- und silberfarbene Sterne schmückten den dunklen Einband, allerdings stand kein Titel darauf geschrieben.

Skeptisch tippte ich mit der Spitze der Stabes gegen den ledernen Einband und murmelte „revela mysteria", woraufhin sich das Buch aufschlug und hunderte von Seiten in Sekundenschnelle umblätterte, bis sie an einem der letzten Kapitel zur Ruhe kamen und aufgeschlagen liegen blieben.

Neugierig beugte ich mich über das Geschriebene. Eine glänzende, kupferrote Phönixfeder klemmte zwischen den Seiten — Es war also nicht Tom Riddle, der mir das Buch hatte zukommen lassen, sondern Albus Dumbledore. Erleichtert schloß ich somit jede Bedrohung aus, nahm den schweren Band in meine Hände und ließ mich vor dem prasselnden Kaminfeuer nieder. Um keinerlei Hinweise auf meine Korrespondenz mit Dumbledore zu hinterlassen, warf ich Fawkes' Feder in die züngelnden Flammen, falls Tom meinem Schlafsaal erneut einen unangekündigten Besuch abstatten sollte. Ich widmete mich stirnrunzelnd dem Kapitel namens "Der Halleysche Komet", ohne mir einen Reim darauf machen zu können worauf Dumbledore mich hatte hinweisen wollen.

Desto mehr ich las, desto weniger verstand ich, warum Professor Dumbledore ausgerechnet diese Information für relevant zu halten schien. Der Komet, von Muggeln auch Stern von Betlehem genannt, taucht nur alle vierundsiebzig bis neunundsiebzig Jahre am Himmel auf und soll allerlei magische Kräfte besitzen. Ich las von Fällen, in denen Hexen und Zauberer magische Kräuter und Pflanzen in Nächten des Kometen ernteten und für seltene Zaubertränke verwendeten, von Begebenheiten in denen Werwölfe sich nicht nur zu Vollmond sondern ebenso bei dem Erscheinen des Kometen verwandelten und von einem Fall der besagte, dass einem Muggelmädchen namens Kunigundt Ännlin im Jahre 1412 magische Kräfte verliehen wurden, als sie nachts in einem See badete, in dem sich das Abbild des Kometen spiegelte. Alles in allem schien der Komet magische Flüche und Banne brechen als auch verstärken zu können. Doch obwohl die Geschichten durchaus interessant waren, wusste ich noch immer nicht, wie mir das weiterhelfen sollte.

Der Mond sank draußen vor den Fenstern immer tiefer, meine Lider wurden zunehmend schwerer und mein Kopf knickte mehrmals zur Seite, wenn der Schlaf mich immer wieder für einige Sekunden überwältigte. Schlussendlich stieß ich auf einen kurzen Abschnitt, der mir das Herz bis zum Hals schlagen ließ und mich augenblicklich wach rüttelte.

Eine der weniger gründlich erforschten magischen Eigenschaften des Kometen ist die Umkehrung der Auswirkungen von Liebestränken. Noch lange vor Merlin's Zeit soll die griechische Hexe Medusa von einem Muggel bestohlen worden sein, der ihr eine Phiole des ersterwähnten Liebestrankes entwand, um sich die Verlobte seines Bruders gefügig zu machen. Gemeinsam verließen der Muggel und sein Opfer die Stadt Athen und versteckten sich in einer verlassenen Hütte bei den nahegelegenen Olivenhainen, bis der letzte Tropfen des Trankes aufgebraucht war und die Wirkung sich verlor. Der Muggel suchte Medusa erneut auf, die ihn jedoch bei dem Diebstahl überraschte und zur Strafe für immer in Stein verwandelte. Als das Muggelmädchen endgültig erneut zu Sinnen kam, kehrte sie zu ihrem Verlobten zurück, der sie heiratete. Ihr erstes Kind wurde bald darauf geboren, doch es trug die Gesichtszüge des Entführers und war dazu von außergewöhnlich grausamen Charakter. In ihrer Verzweiflung suchte das Paar Medusa auf, die ihnen eine einfachen magischen Heil-und Reinigungstrank braute, der dem Kind beim Erscheinen des nächsten Halleyschen Kometen von einer Person, die es liebte, verabreicht werden musste. Bis heute ist kein weiterer Fall bekannt, bei dem ein Kind unter Einfluss eines Liebestrankes gezeugt wurde — Die katastrophalen Folgen eines solchen Treibens sind der magischen Allgemeinheit bekannt und wurden in der Vergangenheit erfolgreich vermieden. Glaubt man allerdings an die Überlieferungen antiker Magie wie der Medusas, gäbe es wohl ein alleinstehendes Indiz das auf die Heilbarkeit der Langzeitfolgen durch den Missbrauch von Liebestränken hindeutet.

Ich las den Abschnitt immer und immer wieder, bis ich mir sicher war, jedes Wort verstanden zu haben. Mein Atem ging flach und schnell, so als sei ich meilenweit gerannt. Ich wusste, dass Voldemort — also Tom — unter dem Einfluss eines Liebestrankes gezeugt worden war. Nach dem Krieg hatte Harry Potter den Tagespropheten ein Profil von Voldemort's Werdegang drucken lassen, von der Erschaffung der Horkruxe bis hin zu seiner Unfähigkeit zu Lieben, die auf den Missbrauch eines Liebestrankes durch seine Mutter zurückzuführen war. Doch ich war mir dennoch bewusst, dass Tom Riddle seiner Ideologie mit jeder Faser seines Körpers verschrieben war. Ich konnte mir keinesfalls sicher sein, dass ein solcher Heilungsversuch Wirkung zeigen würde. Meine anfängliche Euphorie wich tiefer Verzweiflung: Nun, da ich wusste, dass es eine Chance gab, Tom zu helfen, egal wie klein sie auch sein möge, wuchs meine Unsicherheit und die Angst zu versagen.

Außerdem wusste ich nicht, wann der nächste Halleysche Komet am Himmel stehen würde. Doch in dem Moment, in dem ich ebendiesen Gedanken in meinem Kopf ausformulierte, erschien eine kleine, mit Tinte geschriebene Bemerkung am Fuße der Passage, kaum mit dem bloßen Auge erkennbar. In feiner, verschnörkelter Schrift, die ich unschwer als Professor Dumbledore's erkennen konnte, stand dort ein Datum geschrieben. 13 März. Kaum, dass ich den Blick von den Seiten des Buches gehoben hatte, glommen dessen Seiten erneut auf. Es klappte sich mit einem dumpfen Schlag zu, wurde wie von unsichtbarer Hand in die Luft gehoben und rotierte sich in atemberaubender Geschwindigkeit um seine eigene Achse. Es verschwand mit einem leisen Plopp und stattdessen fiel mit eine kleine, verkorkte Glasphiole in den Schoß. Mit zitternden Fingern hob ich das winzige Gefäß auf, entkorkte es und roch an der blassblau und silberig schimmernden Flüssigkeit darin. Ich erkannte den reinen Geruch von Meersalz, Bergamotte und Einhornblut —Ohne Zweifel ein Heiltrank.

Ich wog nervös die Gefahren ab, die mit diesem neuen Plan verbunden waren und beschloss schließlich, dass ich den Zeitumkehrer und den Heiltrank von nun an würde bei mir tragen müssen — Ich konnte auf keinen Fall das Risiko eingehen, mir irgendeinen Fehltritt gegenüber Tom zu erlauben. Bis jetzt waren meine Pläne so diffus und aussichtslos gewesen, doch dieser kleine Anhaltspunkt gab mir einen Zweck und brachte mich sowohl unweigerlich in Gefahr. Entschlossen durchwühlte ich meinen Koffer und griff ich nach einem kleinen silbernen Medaillon, das ich in Hogsmeade gekauft hatte. Ich klappte es auf und führte angestrengt einen Vergrößerungs- und Verschleierungszauber aus, so wie Hermine Granger es damals mit ihrer Handtasche getan hatte. Ich ließ sowohl die Phiole als auch den Zeitumkehrer in die Öffnung des Medaillons gleiten und schloss den Verschluss in meinen Nacken. Ich würde jeden meiner Schritte genauestens überdenken müssen. Wenn Tom meine Pläne durchschauen würde, wäre ich so gut wie tot, da war ich mir sicher.

Als ich etwas später schlaflos im Bett lag und den Betthimmel über mir anstarrte, umklammerten meine Hände noch immer das Medaillon, das die zwei wertvollsten Gegenstände enthielt, die ich jemals besessen hatte. Nun, da ich tatsächlich etwas von Relevanz vor Tom zu verstecken hatte, fühlte ich mich überwältigt und ausgeliefert. Wie sollte ich dem zukünftigen Lord Voldemort einen Trank verabreichen können, ohne ihn dazu zu zwingen? Er war so vorsichtig und misstrauisch, ich konnte mir kein Szenario vorstellen, in dem ich es schaffen würde, ihn zu täuschen oder gar zu überwältigen. Mein Herz schlug schneller vor Angst, wenn ich nur an die Konsequenzen dachte. Meine Finger drückten das Medaillon um meinen Hals noch fester zusammen, so als wollte ich es vor Tom's eisigen Fingern schützen. Die ersten Vögel begannen zu singen und warmes Tageslicht durchflutete den Schlafsaal, als ich mich endlich etwas beruhigt hatte. Beschämt stellte ich fest, dass Professor Dumbledore mich nicht nur aufgrund meiner Fähigkeiten im Bereich Okklumentik für die Aufgabe auserkoren hatte. Er hatte gewusst, dass der Komet, der so selten auftrat, die einzig mögliche Chance darstellte, den zukünftigen Lord Voldemort von seiner Gefühllosigkeit zu heilen – Dumbledore hatte mich zu genau diesem Zeitpunkt zurückgeführt, da ich die wahrscheinlich einzige Person war, die ein Monster wie Tom Riddle aufrichtig hätte lieben können. 

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