Kapitel 37: Zombie

Es dauert eine ganze Weile, bis sie Liam findet.
Carson braucht sie und lässt sie nicht einfach so verschwinden. Mehr als dreißig Saviors haben sie zur Oceanside geschickt, knapp zwei Drittel haben schwere bis tödliche Verletzungen davon getragen. Sie weiß nicht, wie lange sie jetzt schon amputieren und flicken, aber es kommt ihr wie einige Ewigkeit vor.
"Das war's.", spricht Carson endlich die erlösenden Worte, als die letzte große Brandwunde verarztet und bandagiert ist.
Eden springt sofort auf und macht sich auf die Suche nach Liam. Der Platz um den Truck leert sich langsam, alle Verletzten werden nach und nach ins Gebäude geschleppt.
Als sie Liam findet, der neben zwei anderen hinter dem Truck liegt, wird ihr klar, warum sie ihn bisher nicht gefunden hat: Carson hat ihn in die Kategorie "Hoffnungslos" eingeordnet.

Ein Großteil seines ehemals schönen Gesichts ist verbrannt, man sieht verkohltes Fleisch, Knochen. Verdammt, man sieht teilweise seinen Schädel! Sein ganzer Körper sieht aus, als hätte er eine zeitlang lichterloh gebrannt. In seiner rechten Seite klafft ein Loch, welches durch das Feuer notdürftig verschlossen wurde.
Sein Anblick lässt sie erstarren, sie schlägt die Hände vor den Mund. Oh nein. Bitte, lass das alles ein Albtraum sein.
Sie sinkt neben ihm auf den Boden, sein Atem geht rasselnd und flach. Sie greift nach seiner linken Hand, obwohl auch sie mit Brandblasen überzogen ist.
"Liam!", ruft sie ihn und drückt leicht seine Hand, "Ich bin hier. Ich werde dir helfen. Du wirst nicht..."
Sie verschluckt das letzte Wort. Es wäre eine Lüge. Dass er überhaupt noch lebt, ist angesichts seiner Verletzungen kaum zu glauben. Sie kann nichts für ihn tun. Selbst ein Toparzt in einem Topkrankenhaus könnte jetzt nichts mehr tun. Sie kann ihm jetzt nur noch beim Sterben zusehen. Sie hat dies schon sooft gesehen, sooft haben Menschen vor ihren Augen den letzten Atemzug getan. Sie hat sich mittlerweile damit abgefunden, dass früher oder später jeden dieses Schicksal ereilt.
Aber dies ist etwas anderes. Es ist so sinnlos, so ungerecht. Wieso er? Wieso musste es ihn treffen? Wieso hat sie ihn mit dort hingeschickt...? Tränen steigen in ihre Augen, verschleiern ihre Sicht. Sie fällt neben ihm zusammen.
"Es tut mir so leid.", flüstert sie. Er versucht zu antworten, aber es ist nur ein Krächzen. Vielleicht ist es auch ein Schmerzensschrei, er muss unerträgliche Schmerzen haben. Oh, fuck. Liam. Hätte sie ihn nur früher kennengelernt. Hätten sie nur mehr Zeit miteinander verbringen können. Hätte sie nur wenigstens noch ein einziges Mal gemeinsam Musik machen können.

Sie streicht über seine Hand, murmelt beruhigend vor sich hin. Wohl eher, um sich selbst zu beruhigen, als ihn.
"Meine erste Gitarre hab ich mit vier Jahren bekommen.", hört sie sich sagen, "Sie war ganz klein, damit ich meine Arme drumherum bekommen habe. Sie war hellbraun und mein Grandpa hatte einen Pferdekopf in den Korpus eingraviert. Sie war wunderschön... und es war wie Magie als ich mein erstes Lied darauf spielen konnte."
Liam gibt ein Seufzen von sich.
"Ich weiß gar nicht mehr, was mein erster Song war.", fährt sie fort, "Vielleicht war es 'You are my sunshine'.

You are my sunshine, my only sunshine.
You make me happy, when skies are grey.
You'll never know dear, how much I love you.
Please don't take my sunshine away..."

Scheiße, ja, Liam war wie Sonnenschein. Eine gute Seele, die Licht in das dunkle, trostlose Sanctuary gebracht hat.
Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals heunter. Scheiße. Sie schluckt erneut. Es ist nur ein verdammtes Kinderlied. Und vor ihr stirbt gerade einer, den sie, um ehrlich zu sein, kaum kennt. Er stirbt, wie all die anderen zuvor auch. Also reiß dich zusammen, Eden!
"Ich war ganz besessen von Musik, mein Leben lang.", erzählt sie leise weiter, "Meine Mom hat immer gesagt, dass mich schon immer, von Geburt an, eine Melodie umgeben hat. Weiß auch nicht genau, was sie damit meinte... Sie hat einen Menge seltsamer Dinge gesagt, war ein bisschen schrullig, meine Mom. Aber es gab nichts Schöneres, als wenn sie auf ihrer Harfe gespielt hat. Ja, wir hatten ein Klavier und eine Harfe im Wohnzimmer! Mein Dad ist deswegen regelmäßig ausgerastet, er war eher der Typ für's Grobe, konnte mit Musik nicht viel anfangen... Aber wenn sie Harfe gespielt hat...es war, als würde der Himmel aufreißen. Als wäre ein Engel in unserem Wohnzimmer gelandet. So hat es meine Grandma jedenfalls immer beschrieben..."

Seine Hand in ihrer wird schlaff, sein Atem ist zittrig. Es ist gleich vorbei.
"Mach's gut, Liam.", flüstert sie ihm ins Ohr und schließt seine Augen, "Es war schön, dich kennenzulernen. Ich werde dich vermissen."
Er atmet ein letztes Mal aus, liegt dann vollkommen still. Wäre er nicht so furchtbar entstellt, sähe er friedlich aus. Fast glücklich. In dem Moment, in dem er stirbt, zieht eine Wolke vor die Sonne, verdeckt sie. Plötzlich umgibt sie Dunkelheit und Kälte.
Please don't take my sunshine away.

Sie rammt Liam das Messer in den Kopf. Er sollte tot bleiben und nicht in Negans bizarrem Abwehrmechanismus landen. Sie würde es nicht ertragen, ihn dort zu sehen. Er soll seinen Frieden haben.

Sie weiß nicht, wie lange sie da sitzt, neben Liams leblosen Körper, seine Hand in ihrer. Als die Stiefel neben ihr autauchen, scheint es bereits zu dämmern. Scheiße, sie war den ganzen Tag hier draußen.
Sie sieht auf und sieht in Simons Gesicht, er sieht genauso erschöpft und frustriert aus, wie sie sich fühlt.
"Ich hab dich die ganze Zeit gesucht.", sagt er, "Wie müssen reden."
Sie nickt und kommt mühselig auf die Beine, ihr Blick ist immer noch auf Liams entstellten Körper gerichtet.
"Ich muss ihn noch begraben...", murmelt sie. Eigentlich verbrennen die Saviors ihre Toten, zumindest die, die richtig tot sind.
"Ich beauftrage ein Team, sich um die Toten zu kümmern. Wir haben wichtigeres zu tun.", unterbricht Simon sie gereizt.
"Ein Grab.", fordert sie, "Die Toten werden nicht entsorgt wie Müll, sondern begraben!"
Simon stöhnt entnervt auf, nickt dann aber.
"Wie du befiehlst, Neganella."
Er schiebt sie in Richtung Sanctuary, während Edens Blick nach wie vor auf Liam geheftet ist.
Dies ist das letzte Mal, dass sie ihn sieht.

Sie gehen in Negans Büro, Simon lässt sich stöhnend auf den Stuhl fallen und reibt sich die Schläfen. Edens Blick zuckt zu Negans Schlafzimmer.
"Weiß er es ..."
Simon schüttelt verbissen den Kopf.
"Als ich heute Mittag etwas von ihm wollte, hat er Lucille nach mir geschmissen, da dachte ich, ich lass ihn mal lieber in Ruhe. Und danach ist die Hölle ausgebrochen. Er schläft gerade und ich bin im Moment nicht scharf darauf-"
"Ich werd's ihm sagen."
Simon lächelt dankbar und freudlos. Er fährt sich über die Augen und sieht sie dann ratlos an.
"Also: Was machen wir jetzt?", fragt er.
"Wir müssen antworten. Das können wir ihnen nicht durchgehen lassen."
"Das bedeutet: Krieg."
Das Wort scheint von den Wänden abzuprallen und durch den Raum zu hallen, wie ein düsteres Omen. Krieg. Krieg, das heißt töten und sterben. Als ob es davon in dieser Welt nicht schon genug gäbe.
"Wir haben heute acht Leute verloren.", sagt Eden leise, "Weitere werden die Nacht nicht überleben. Wir müssen zurückschlagen. Und das bald."
Simon nickt wieder.
"Und wie gehen wir die Sache an?"
Das ist eine gute Frage, eine verdammt gute Frage. Sie hat keine Ahnung. Verdammt, sie ist Pazifistin, woher soll sie Ahnung vom Krieg haben? Negan wüsste, was jetzt zu tun ist. Im Gegensatz zu ihr, ist er ein eiskalter Stratege. Sie sollten ihn dazu holen... Andererseits ist er noch nicht in der Lage, wirklich etwas auszurichten. Er kann jetzt nicht einfach in den Krieg ziehen und das wird er tun, wenn er davon erfährt, das würde seinen Tod bedeuten. Und allein der Gedanke daran lässt sie erschauern.
Sie atmet tief durch.
"Ich verstehe nicht, warum sie das gewagt haben. Das war kein richtiger Angriff, sondern eine Provokation.", überlegt sie laut, "Sie wollen, dass wir kommen. Obwohl sie wissen, dass wir in der Überzahl sind und das Negan nach ihrem letzten Rebellionsversuch nicht mehr gnädig sein wird. Wir werden sie überrollen. Es sei denn..." Die Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag. Sie sieht Simon, der ihren Gedankengängen aufmerksam gefolgt ist, wie vom Donner gerührt an.
"Es sei denn sie haben Verbündete, von denen wir nichts wissen.", schließt sie ihren Gedanken ab.
Simon runzelt die Stirn.
"Wer sollte das sein? Wir kontrollieren und überwachen alle nennenswerten Communities der Gegend.", wendet er ein.
"Überlass' diese Arroganz mal lieber Negan!", gibt sie aufgebracht zurück, "Wenn sie allein schon zehn gute Leute mehr haben, die uns einen Hinterhalt stellen, sind wir am Arsch."
Simon reibt sich erneut die Stirn und seufzt.
"Und was heißt das? Dass wir doch abwarten sollten?"
"Wir sollten auf jeden Fall nicht blind in eine Falle laufen. Wir sollten Späher aussenden, die sich die ganze Sache aus der Nähe ansehen. Wir müssen wissen, was sie planen und wie viele sie sind-"

Die Tür des Schlafzimmers fliegt geräuschvoll auf und Simon und Eden zucken zusammen, wie Teenager, die beim Kiffen auf dem Schulklo ertappt wurden.
Am Türrahmen steht Negan. Er krallt sich dort fest, der Schmerz steht ihm ins Gesicht geschrieben, seine Haare stehen wirr zu allen Seiten ab und mit seiner Blässe könnte er mit einem Beißer konkurrieren. Aber er steht. Er steht, hat Lucille in der Hand und sieht mächtig angepisst aus.
"Was habt ihr jetzt wieder verbockt?", presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er stößt sich vom Türrahmen ab und stakst auf sie zu, jeder Schritt scheint ihm höllische Schmerzen zu bereiten. Er wedelt mit der Hand, damit Eden den Stuhl für ihn freimacht und lässt sich dann ächzend darauf fallen.
"Ich höre?", blafft er.
Simon und Eden tauschen einen Blick.
"Die Oceansides haben unsere Trucks mit einer Bombe hochgejagt. Bisher acht Tote. Es können noch mehr werden und wir überlegen gerade...", beginnt Eden, so sachlich wie möglich.
"- WANN ihr mir das sagen wollt?!", brüllt er.
"- Wie wir reagieren sollen.", fährt Eden ungerührt fort. Negan starrt sie beide zornig an. Der Schmerz und die Wut verzerren seine Gesichtszüge zu einer schaurigen Fratze.
"Morgen stellen wir die Truppen zusammen und übermorgen versohlen wir Fran und ihrer Fischfickerbande ordentlich den Arsch.", beschließt er.
Okay. Doch kein Stratege. Eden überlegt sich genau, was sie als nächstes sagt, doch Simon kommt ihr diesmal zuvor.
"Sir. Wir sollten vorsichtiger sein. Es könnte eine Falle sein und Eden vermutet-"
Negan lässt Lucille auf den Tisch knallen.
"Sag mal, hat Eden dir ihre geilen Titten gezeigt, oder warum bist du jetzt ihre kleine Schlampe?", fährt er Simon an, "Steht jetzt ihr Wort über meinem?"
Sofort schüttelt Simon den Kopf.
"Natürlich nicht, Sir!"
"Gut. Dann komm mir bloß nicht noch mal mit deiner scheiß 'Eden hat aber gesagt'- Scheiße!", knurrt Negan und wirft ihr dabei einen vernichtenden Seitenblick zu.
"Negan.", sagt sie vorsichtig, "Du kannst jetzt nicht in den Krieg ziehen- denn darauf wird es hinauslaufen. Sie wollen uns zu einem Angriff provozieren. Und du bist verletzt..."
Er schneidet ihr mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab.
"Ich werde mich nicht mehr in meinem Zimmer verstecken wie ein elender Feigling! Was glaubt ihr eigentlich, wer ich bin?!"
Sie atmet tief durch. Wie kann man nur so uneinsichtig sein?
"Dein Darm wurde durch das Geschoss mehrfach perforiert! Wenn die Narben aufreißen, bist du tot. Es wird ein qualvoller Tod. Willst du das riskieren?", appelliert sie an seinen Verstand.
Negan sieht jetzt aus, als würde er gleich platzen.
"Ich perforiere gleich deinen Darm- und zwar mit meinem Schwanz, wenn du nicht sofort die Schnauze hältst!"
Eden schließt ihren Mund und presst die Kiefer aufeinander. So ein jähzorniger, sturer Idiot! Verdammt! Wie kann sie ihn zur Vernunft bringen?
"Simon!", bellt Negan, "Kümmer dich darum, dass morgen Abend mindestens achtzig Mann bereit sind. Wir könnten zur Not auch ein paar Außenposten mobilisieren, je mehr desto besser. Und du...", er bedenkt Eden mit einem strengen Blick, "Kannst dich auch nützlich machen und siehst zu, dass alle bis an die Zähne bewaffnet sind. Kriegst du das hin, Mäuschen?"
Eden nickt verbissen. Ihr liegt gerade so einiges auf der Zunge, aber das könnte sie auch genauso gut einer Wand erzählen- wahrscheinlich mit größerem Erfolg.
"Und...äh...welche Strategie haben wir?", fragt Simon vorsichtig. Es ist wie ein Tanz auf dünnem Eis. So wie es jeden Moment brechen kann, steht Negan jeden Moment davor zu explodieren.
Negan lacht die bösartige Version seines Neganlachens.
"Unsere Strategie? Wir rücken an, legen alle um und machen dann ein verdammtes Festessen."
Simon und sie wechseln erneut einen Blick. Es ist offensichtlich: Negan ist gerade nicht in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen. Er verlässt sich auf ihre beachtliche Anzahl.
Das kann gut gehen. Es kann aber auch damit enden, dass sie übermorgen alle tot sind. Und hätten die Oceansides einen solchen Angriff gewagt, wenn sie keinen Trumpf in der Rückhand hätten? Dann wären sie lebensmüde. Und das hält Eden für sehr unwahrscheinlich. Ihr letzter Aufstand wäre schon beinahe gut gegangen, wenn Eden ihnen nicht durch die Maschen geschlüpft wäre.

"Wir machen es so.", sagt sie diplomatisch, "Aber lass mich morgen mit einem kleinen Späherteam die Lage checken. Wir sollten wissen, was uns erwartet..."
Negans Kopf ruckt zu ihr. Seine Augen scheinen dunkler zu werden, sein Blick durchdringt sie, wühlt in den dunkelsten Ecken ihrer Seele. Sofort windet sie sich unter seinem Blick, senkt den Kopf. Kann er diese Scheiße mit dem Röntgenblick mal lassen?
"Nein.", sagt er leise und sein Tonfall verbietet jede weitere Diskussion, "Einen Scheiß machst du. Und weißt du was? Du bist gefeuert. Ich bin wieder da. Geh und lackier dir die Nägel. Mach deinen Mädchenkram. Und lass die Männer das regeln."
Empört schnappt Eden nach Luft. Sexistisches Oberarschloch!
"Wie bitte? Ich hab mir in der letzten Woche den Arsch aufgerissen, damit-", protestiert sie, aber er fällt ihr unwirsch ins Wort.
"Und das hast du toll gemacht!", in seinen Worten liegt eine Spur Ironie, "Aber scheinbar steigt dir diese ganze Sache mächtig zu Kopf. Und ich will dich nur daran erinnern, dass mir, als ich das letzte Mal auf dich gehört habe, der 'Darm perforiert' wurde."
Mühsam unterdrückt sie den Impuls auf ihn einzuprügeln. Sie wirft Simon einen auffordernden Blick zu, aber dieser zuckt nur leicht mit den Schultern, als wolle er sagen: 'Sorry, Eden, aber er ist der Boss.'
Miese, feige Ratte!
Sie gibt sich geschlagen. Soll er sich selbst und alle anderen eben ins Verderben führen. Es sterben doch sowieso immer alle. Wieso kämpft sie überhaupt dagegen an?
Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, stolziert sie mit erhobenem Kopf aus dem Zimmer.

Ihre Schritte lenken sie zu Liams Zimmer.
Seine Habseligkeiten wurden bereits geplündert. In einem Moment sind die Saviors familiär und hilfsbereit, im nächsten sind sie verdammte Leichenfledderer.
Sie tritt voller Wut gegen eine von Liams offenstehenden Schubladen. Verdammtes Drecksloch! Verdammte, totgeweihte Bastarde!
Sie sinkt auf sein Bett, sein Geruch steigt in ihre Nase- frisches Gras und kalte Luft.
Mit leerem Blick starrt sie an die Wand. Genau das ist der Grund, warum sie sich kurz nach der Apokalypse dafür entschieden hat, allein zu bleiben. Weil die anderen schwach sind. Sie sind idiotisch und irrational und kompliziert und...sie sterben. Sie sterben und sterben und sterben. Sie sind wandelnde, zukünftige Leichen, selbst im Leben schon Zombies. Man beginnt jemanden zu mögen und im nächsten Augenblick ist er tot. So war es mit ihrer ersten Gruppe, so war es mit Jacob, Maddie, Rahul und bestimmt auch Enid. So war es mit Liam.
Und so wird es mit ihrem Kind und mit Negan sein. Sie wird sie verlieren, denn alles was diese Welt zu bieten hat, ist Tod, Grausamkeit, Schmerz. Verlust. Es ist wie ein Fluch. Und sie ist in diesem Fluch gefangen, denn er sorgt dafür, dass sie am Ende doch immer wieder allein ist.

Ihr Blick fällt auf den Grund, warum sie in Liams Zimmer gelaufen ist: die Instrumente. Damit konnten die anderen Saviors nichts anfangen und sie haben sie zurückgelassen. Sie nimmt alle mit und bringt sie in das Zimmer, welches sie vor ihrem Rauswurf bewohnt hat.

Die Tür ist verschlossen, aber das war für sie noch nie ein Hindernis. Sie hat selbst jetzt immer ein Stück Draht dabei. Das Zimmer sieht unbewohnt aus- und irgendwie auch doch wieder nicht. Staub liegt auf den Möbeln, alle Regale sind leer, aber das Bett ist bezogen. Als wäre der Bewohner nur eine Weile verreist. Negan hat also mit ihrer Rückkehr gerechnet- oder er wollte dort eine neue Ehefrau einquartieren. Wie auch immer.
Eden stellt die Instrumente vorsichtig an die Wand, als ihr Blick auf einen unförmigen Gegenstand fällt, der am Fußende des Bettes steht. Er kommt ihr vage bekannt vor...
Es ist ihr Rucksack. Jener Rucksack, den sie in diesem Haus in der Siedlung zurückgelassen hat, als sie von den Saviors geschnappt wurde. Wie kommt er hier her? Pete und Co haben ihn damals nicht mit ins Sanctuary gebracht. Das heißt...Negan hat ihn holen lassen. Oder er hat sie suchen lassen und sie haben ihn dabei gefunden. Aber warum hat er das in den letzten Wochen nie erwähnt?
Sie legt den Rucksack auf das Bett und öffnet ihn. Konservendosen, Medikamente, Bücher. Es ist, als würde sie in die Vergangenheit reisen. In ihr Leben vor dem Santuary. In ihr Leben als einsame Diebin. In einer Seitentasche findet sie einen zerdrückten Schokoriegel. Und dann hat sie endlich, was sie sucht: Die Holzschatulle ihres Messers.

"There is a contest old as Eden, which still goes on - the conflict between right and wrong, between error and truth. In this conflict every human being has a part."

Als hätte ihr Grandpa gewusst, was auf sie zukommt. Nur hat sie noch nicht herausgefunden, was ihre Rolle in diesem Kampf ist. Der Spruch ist, wenn man jetzt darüber nachdenkt, totaler Schwachsinn. Es gibt nicht nur richtig und falsch, Wahrheit und Irrtum, gut und schlecht. Es gibt etwas dazwischen und dahinter und dann gibt es noch das Nichts. Und neben alldem gibt es noch eine weitere Rolle, die man in diesem Spiel einnehmen kann: Die des stillen, machtlosen Zuschauers.
Sie schiebt den Deckel der Schatulle auf und macht eine erneute Zeitreise, diesmal in ihr Leben vor der Apokalypse.
Obwohl sie es vermieden hat, es allzu oft anzusehen, ist das Foto zerknittert und fleckig. Es zeigt ihre Familie an Todds Hochzeitstag. Sie lächeln alle in die Kamera, ihr Dad macht hinter ihr Hasenohren, ihre Mom hat den Arm um sie gelegt. Todd und seine Braut strahlen, ihre Granny schaut ein wenig mürrisch. Sie weiß nicht, ob sie noch leben. Aber sie hat das Gefühl, dass es nicht so ist, dass sie in die Gesichter von Toten blickt.

Sie nimmt die Gitarre auf den Schoß und klimpert lustlos darauf herum. Ihr will kein Lied einfallen. Obwohl...ein Lied gibt es.

Another head hangs lowly
Child is slowly taken
And the violence cause of silence
Who are we mistaken?

But you see, it's not me, it's not my family
In your head, in your head they are fighting
With their tanks and their bombs
And their bombs and their guns
In your head, in your head, they are crying

In your head, in your head
Zombie, zombie, zombie
Hey, hey, hey
What's in your head, in your head
Zombie, zombie, zombie?

Another mother's breakin'
Heart is taking over
When the violence 'causes silence
We must be mistaken

It's the same old theme since 1916
In your head, in your head they're still fighting
With their tanks and their bombs
And their bombs and their guns
In your head, in your head they are dying

In your head, in your head
Zombie, zombie, zombie
Hey, hey, hey
What's in your head, in your head
Zombie, zombie, zombie?

Jemand betritt den Raum, aber sie sieht nicht auf, auch nicht, als derjenige sich neben sie auf das Bett setzt. Der Geruch von Alkohol und Aftershave steigt ihr in die Nase. Erst als sie das Lied zuende gespielt hat, lässt sie ihre Hand von den Saiten gleiten, wodurch ein leicht schiefer Ton erzeugt wird.
"Hier bist du. Ich hab dich überall gesucht.", sagt er, "Das könnte unsere neue Nationalhymne sein, nicht?"
"Hm.", macht sie.
"Der Doc hat mir nen ordentlichen Gute-Laune-Cocktail verpasst, jetzt bin ich wieder ein Mensch. Vorhin...verdammt ich musste den ganzen Tag ohne Medis auskommen."
"Hm.", macht sie erneut.
Er seufzt.
"Ich hab gehört, dass dein...Freund es nicht geschafft hat.", sagt er leise.
"Ja.", entgegnet sie einsilbig.
"Das ist scheiße."
"Ja."
Sie starren beide gedankenverloren an die Wand.
"Das schlimme ist", flüstert sie schließlich, "Dass es nicht mal mehr weh tut. Man ist einfach...leer."
"Ja."
"Wenn wir Krieg führen, werden viele sterben. Du wirst sterben."
Sie sieht ihn das erste Mal an. Er sieht deutlich besser aus als vorhin. Er hat sich in der Zwischenzeit den Bart gestutzt und die Haare gekämmt, durch die Medikamente glänzen seine Augen und man sieht, dass er nach wie vor ein wenig wackelig auf den Beinen ist, aber...ja, er ist wieder da. Dieser Mann ist resistent wie ein verdammtes Bakterium.
"Ich bin nicht so leicht tot zu kriegen, Eden.", sagt er, als hätte er gerade dasselbe gedacht.
Eden lächelt bitter.
"Nein, bist du nicht. Aber das spielt keine Rolle. Am Ende sterben sie alle. Alle, die mir etwas bedeuten."
Negan sieht sie an und in seinen Augen blitzt etwas auf, was sie bisher nur einmal gesehen hat, und zwar, als er das erste Mal von Lucille gesprochen hat.
Statt einer Antwort legt er eine Hand in ihren Nacken, zieht sie an sich und lehnt seine Stirn an die ihre.
So sitzen sie eine Weile da und mit dieser Geste spenden sie sich Trost, bitten um Verzeihung, trauern um die, die sie verloren haben. Das muss reichen. Sie haben keine Zeit, ausgiebig zu diskutieren, einander böse zu sein, lange zu trauern, zurückzublicken. Ein Krieg steht bevor, morgen kann alles vorbei sein.
"Ich bin es auch so unendlich leid.", murmelt er, "All das Sterben, all das Töten. Das Existieren, ohne zu leben. Ich frage mich manchmal, ob nicht wir die lebenden Toten, die Zombies, sind. Und ich bin es leid, einfach nur leid."

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