Kapitel 23: Die Boondock Saints

Die Axt bleibt in seinem Oberarmknochen stecken. Sie muss sie ruckartig heraushebeln und schlägt erneut zu. Ein Knirschen ertönt, welches ihr durch Mark und Bein fährt. Jetzt kann sie nicht mehr zurück oder einfach aufhören. Sie muss weiter machen. Sie schlägt noch einmal zu. Jacobs Arm endet jetzt eine handbreit unterhalb seiner Schulter in einem blutigen, fransigen Stumpf. Daneben liegt der Rest seines Arms.

Erst jetzt nimmt Eden wieder ihre Umwelt wahr. Jacobs erstickte Schreie, die mittlerweile zu einem Wimmern geworden sind. Den schweren, kratzenden Geruch von Rauch. Die kühle Nachtluft, die über ihre verschwitzt Haut streift. Und das Blut. Oh Gott, das viele Blut. Es ist überall. An der Axt, an ihren Händen, auf dem Boden, in ihrem Gesicht. Überall ist der Geruch von Eisen, er umgibt sie und setzt sich in ihrer Nase fest.
Enid hockt kreidebleich auf dem zuckenden Jacob.
Sie müssen die Blutung stoppen. Irgendetwas tun.
Ausbrennen! Sie hat das mal in einem Film gesehen, hat keine Ahnung, ob es überhaupt funktioniert. Aber sie hat hier nicht die Geräte und Mittel, wie Carson sie hat. Geschweige denn die Möglichkeiten, die ein richtiger Arzt in einem richtigen Krankenhaus hätte. Sie zündet ein trockenes Stück Holz an und streicht damit dicht über den Stumpf. Der beißende Gestank von verbrannten Fleisch und versengten Haaren steigt ihr in die Nase.
Jacob ist nun ohnmächtig, er bekommt von ihrem Gestümper nichts mehr mit. Zum Glück. Endlich hört die Wunde auf zu bluten. Der Stumpf ist ist immer noch fransigen und hässlich rot. Aber es blutet nicht mehr. Dennoch- wenn Jacob nicht in den nächsten Tagen zu einem Arzt kommt, ist er tot.
"Hast du was Sauberes?", fragt sie Enid. Ihre Stimme zittert. Enid zieht kurzerhand ihr Top aus, welches sie unter ihrem Pullover trägt. Besser als nichts. Eden verbindet Jacobs Stumpf so gut sie kann und betrachtet dann ihr Werk. Ihr Blick fällt auf den Unterarm samt Hand der achtlos auf dem Boden liegt. Die Übelkeit schwappt über sie wie eine Welle. Sie wendet sich ab und übergibt sich keuchend.

Eine Hand legt sich auf ihre Schulter. Hinter ihr steht Enid, die sie mit großen Augen ansieht. Edens Magen krampft immer noch, sie würgt erneut. Ihre Haare hängen ihr strähnig ins Gesicht. Sie zittert am ganzen Leib, plötzlich ist ihr verdammt kalt. Sie hat Jacob gerade den Arm abgehackt. Oh mein Gott, sie ist voller Blut! Entsetzen erfasst sie. Jetzt nicht hysterisch werden! Durchatmen! Zitternd atmet sie ein und aus. Dann fährt sie sich mit der Hand über den Mund, um den sauren Geschmack des Erbrochenen loszuwerden. Es nützt nicht viel. "I-ich geh mal zum Fluss.", sagt sie zu Enid und steht langsam auf. Ihre Beine sind wackelig. Erneut steigt Übelkeit in ihr auf und sie kämpft sie mit aller Gewalt nieder. "Bin gleich wieder da.", stößt sie hervor und rennt los.

Als sie den Fluss erreicht, bricht die Morgendämmerung an. Sie taucht ihre blutroten Hände in das Wasser. Es ist eiskalt. Dann wäscht sie sich die Blutspritzer, den Ruß umd den Dreck aus dem Gesicht, fährt sich durch die Haare, spült ihren Mund aus. Die Hysterie klingt langsam zusammen mit der Übelkeit ab. Sie setzt sich an den Fluss und zieht die Beine an ihren Körper, legt den Kopf auf ihre Knie. Jetzt, wo das Blut weg ist, geht es ihr ein wenig besser. Sie kann wieder klar denken. Und verdammt, dass muss sie jetzt auch. Sie muss Jacob ins Santuary bringen, zu Carson. Hilltop hat auch einen Arzt, aber es ist zu weit weg. Und wo stecken Maddie und Rahul? Sind sie überhaupt noch am Leben? Und falls nicht, wie bekommt sie Jacob hier weg?
Scheiße. Genau deswegen ist sie lieber allein! Weil es letztendlich immer schief geht und sie in der Scheiße steckt. Und weil sie dann Leuten die Arme abhacken muss. Ein Schauer zieht über ihren Rücken.
Sie steht auf und betrachtet ihr Spiegelbild im Fluß. Viel ist im Halbdunkel der Morgendämmerung nicht zu erkennen, aber sie sieht miserabel aus. Dunkle Schatten liegen auf ihren Gesichtszügen. Erst da bemerkt sie, dass sie eine Wunde unterhalb der Taille hat. Panik steigt in ihr auf. Wurde sie etwa auch gebissen? Dann sieht sie, dass es nur ein Kratzer ist. Wahrscheinlich ein Ast, an dem sie hängen geblieben ist. Darum kann sie sich später kümmern. Sie muss zurück. Sie hat die arme Enid schon viel zu lange allein gelassen.

Enid hat es irgendwie geschafft, Jacob umzudrehen und in eine halbwegs bequeme Liegeposition zu bringen. Eden reißt ungläubig die Augen auf, als sie realisiert, dass Enid sogar Jac's Arm entsorgt hat. Jetzt erinnert nur noch ein großer dunkler Fleck auf dem Boden an ihr Gemetzel. In diesem Mädchen steckt mehr als man denkt. Enid sitzt neben dem noch immer bewusstlosen oder vielleicht auch schlafenden Jacob und malt Kreise auf den Boden.
"Geht es dir gut?", fragt Eden und setzt sich neben sie. Enid nickt.
"Du...du hast hier aufgeräumt.", sagt sie anerkennend, "Das hättest du nicht..." Sie ist unendlich dankbar, dass sie das nicht machen musste. Das hätte ihr den Rest gegeben. Enid zuckt nur mit den Schultern.
"Hast du eine Ahnung, wo Maddie und Rahul stecken könnten? Wir brauchen sie. Jacob muss zu einem Arzt." Kopfschütteln.
Eden flucht leise.
"Falls du einen mütterlichen Rat von mir willst: Lauf immer weg! Scher dich nicht um die anderen. Verkriech dich irgendwo und warte, bis es vorbei ist. So hab ich bisher überlebt. Erst seit ich angefangen habe, anderen den Arsch zu retten, steck ich ständig in der Scheiße!", zischt sie. Dann fasst sie sich wieder. "Im Ernst, Enid. Du solltest so schnell wie möglich hier weg. Geh nach Alexandria, davon hatte ich euch ja schon erzählt. Hier draußen gibt es nichts für dich- nur den Tod."
Enid mustert Eden nachdenklich mit ihren Rehaugen. Dann deutet sie fragend auf Eden.
"Ich? Ich weiß auch noch nicht, was ich jetzt machen soll. Ich werde warten, bis Jac aufwacht. Oder bis die anderen hier auftauchen und dann..." Sie weiß es selbst nicht. Hilflos zuckt sie die Schultern und sieht zu Jacob. Er lebt. Aber er wird bald Fieber bekommen. Wenn er nicht fachgerecht versorgt wird, wird er sterben. Vielleicht hat sich das Virus ohnehin bereits in ihm ausgebreitet. Vielleicht war alles umsonst.
"Geh zum Fluss, mach dich frisch. Und dann solltest du gehen." Enid schüttelt zögerlich den Kopf. Eden seufzt resigniert.
"Aber waschen solltest du dich trotzdem.", sagt sie schließlich. Enid nickt, steht auf und geht zum Fluss.

Nach einer Weile schlägt Jacob tatsächlich die Augen auf. Er sieht verwirrt aus.
Eden beugt sich über ihn und reicht ihm eine Flasche Wasser. Enid hat es tatsächlich geschafft, ihren Rucksack mit herzubringen. Sie haben nicht alles verloren. Instinktiv hebt Jacob den rechten Arm, um nach der Flasche zu greifen. Als er merkt, dass da nur noch ein Stumpf ist, reißt er entsetzt die Augen auf.
"Ich mach das.", murmelt Eden und hält ihm die Flasche an die Lippen. Gierig trinkt er sie leer.
"Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?", fragt sie ihn. Sein Blick wandert wieder zu dem, was von seinem rechten Arm übrig ist.
"Nein.", sagt er kratzig und klingt selbst ein wenig verwundert, "Ich spüre gar nichts."
"Das ist gut. Jacob- wir haben nicht viel Zeit. Du kannst dich nicht ausruhen. Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen und..."
"Wo ist Maddie?" Er hat ihr gar nicht zugehört, sondern sich die ganze Zeit suchend umgesehen.
"Ich weiß es nicht.", seufzt Eden, "Sie ist zurück, um Rahul zu holen."
"Dann müssen wir sie suchen!", sagt er entschlossen.
"Ach? Und wie willst du das machen?", fährt sie ihn an, "Du hast ne Menge Blut verloren. Ich hab dir den Arm abgehackt! Die Scheiße wird sich entzünden und dann bist du tot. Wir haben vielleicht zwei Tage. Die brauchen wir, um dich zu einem Arzt zu bringen. Wenn du nicht mehr laufen kannst, müssen wir dich zurücklassen. Ich kann dich nicht mit Enid tragen."
Jacob sieht sie hilflos an. "A-aber Maddie...vielleicht braucht sie Hilfe..." Schmerz breitet sich in seinen Zügen aus. Er tut ihr so leid. Sie legt vorsichtig eine Hand an seine Wange.
"Jac.", sagt sie sanft, "Ich bin mir sicher, dass sie es geschafft hat. Sie ist eine gute Kämpferin. Und Rahul ist verdammt klug. Wir bringen dich zu einem Arzt. Und wenn es dir besser geht, kannst du sie suchen. Vielleicht finden sie dich ja auch schon vorher..."
Eine Träne läuft über seine Wange, er nickt aber leicht.
"Wir müssen hier weg.", sagt Eden erneut nachdrücklich, "Diese Beißer...Das war kein Zufall. Sie hatten dieses W auf der Stirn. Jemand will uns umbringen, Jacob. Und nochmal werden wir ihnen nicht entkommen." Jacob nickt erneut und starrt niedergeschlagen auf den Boden.
"Wo willst du mich hinbringen?", fragt er dann leise.
"Zu den Saviors.", entgegnet sie und bemüht sich, gelassen und gleichgültig zu klingen.
"Die Gruppe von deinem Arschloch-Ex?"
Eden nickt nur knapp.
"Ich dachte, der will dich umbringen? Wird er uns überhaupt helfen?"
Eden blickt einen Moment mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Sonne, die mittlerweile tief über dem Wald steht. Wenn sie das wüsste...
"Ich weiß nicht, was er tun wird. Es wird auf jeden Fall nicht umsonst sein, wenn sie uns helfen. Aber wir haben keine Wahl- wir müssen den Preis bezahlen."

Sie hilft Jacob dabei, aufzustehen. Er steht wackelig auf den Beinen, aber sie könnten es schaffen. Er ist stark. Verdammt stark.
Wo bleibt Enid? Sie müsste langsam zurück sein. Vielleicht hat sie es sich ja aber auch doch anders überlegt und Edens Rat beherzigt.
"Du musst jetzt mit links kämpfen.", sagt sie an Jacob gewandt. Sie drückt ihm seine Axt in die Hand. Sie ist noch immer voller Blut, welches jetzt eine rostbraune Farbe angenommen hat. Er steckt sie in seinen Gürtel und versucht umständlich seine Waffe zu ziehen. Beim dritten Versuch gelingt es ihm. Er entsichert und zielt auf einen Baumstamm.
"Das sieht doch schon mal ganz gut aus...", kommentiert Eden. Ihr Blick fällt auf eine Person, die auf sie zukommt. Nein, es sind zwei. Maddie und Rahul? Sie kneift die Augen zusammen, die Sonne blendet sie. Nein. Es ist Enid. Und jemand hält ihr eine Waffe an den Kopf.

Sie stehen mit gezogenen Waffen da und warten. Jacob und Eden tauschen einen kurzen Blick. Sie dürfen jetzt keine Fehler machen.
Ein Mann scheucht Enid vor sich her. Er ist klein, seine Kleidung ist schmutzig und ungewaschen, seine Haare und sein Bart lang und verfilzt. Er sieht aus wie ein Straßenräuber und das ist er wohl auch.
"Hallo!", sagt er in einem Tonfall, mit dem alte Freunde begrüßt, als er vor ihnen zum Stehen kommt. Er hat Enid am Arm gepackt und hält ihr die Waffe an den Hinterkopf. Enid wehrt sich gegen seinen Griff, doch es gelingt ihr nicht, sich loszureißen. Jacob und Eden schweigen und beobachten ihn lauernd.
Der Mann legt den Kopf schief und entblößt eine unvollständige Reihe gelb-brauner Zähne.
"Ihr seid nicht so leicht klein zu kriegen, hm?", fragt er. Er lispelt leicht. Dann sieht Eden das "W" auf seiner Stirn. Scheinbar hat er es sich mit Schlamm darauf gemalt. Nun wissen sie, wer hinter der Beißerattacke steckt. Sie hätte es lieber niemals erfahren.
"Hast du ihm den Arm abgehackt?", fragt er Enid, "Oder du?" Er mustert Eden. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. "Ja, du warst das, nicht wahr? Du siehst aus, wie jemand, der ab und an Leuten Körperteile abhackt. Du bist eine Wölfin. Die hier...", er schüttelt Enid, damit sie ruhig hält, "...ist höchstens ein Reh...kitz." Er lacht hämisch.
"Was willst du?", fragt Eden kalt. Er legt erneut den Kopf schief.
"Alles.", sagt er dann.
Eden mustert ihn. Er hat Enid, aber zwei gezogene Waffen zeigen auf ihn. Trotzdem wirkt er entspannt. Er ist nicht allein. Sie lässt ihren Blick über das Gelände schweifen. Keiner zu sehen.
"Alles? Du siehst ja selbst, dass wir nicht mehr viel haben. Dank euch.", entgegnet Eden. Sie spricht bewusst im Plural, damit auch Jacob und Enid von ihrer Vermutung erfahren, dass er nicht allein hier ist. Und es verblüfft sie selbst, wie fest und kalt ihre Stimme klingt. Aber sie hat ja auch vom Meister gelernt.
"Ihr habt noch euer Leben.", grinst der Typ. Sein Gesichtsausdruck ist undefinierbar. Der Blick eines Irren.
"Also wollt ihr uns umbringen?", stellt Eden fest.
"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jetzt. Oder vielleicht später.", ist die Antwort. Langsam wird ihr das hier zu dumm. Er hält sie zum Narren. Und seine Leute sind hier irgendwo, vielleicht warten sie nur auf den richtigen Moment. Wie dem auch sei, wenn sie noch mehr Zeit verstreichen lässt, wird es nur noch schlimmer...
Edens Blick schweift zu Enid. Sie hat Angst. Mit den Lippen formt Eden das Wort "Lauf". Dann schießt sie.

Der Schuss verfehlt den Typen um wenige Millimeter. Nur für einen Moment ist er überrumpelt, lässt er Enid locker. Dieser Moment reicht für sie, um sich aus seinem Arm zu winden.
Eden springt auf den Typen zu und rammt ihm ihr Knie in die Weichteile. Sie hat noch fünf Patronen in ihrem Revolver, die kann sie sicherlich noch früh genug gebrauchen. Und ihr Messer auch. Fast gleichzeitig lässt sie den Lauf ihrer Waffe an seine Schläfe knallen und versucht ihm seine aus der Hand zu schlagen. Er bekommt ihre Schulter zu fassen und reißt sie herum. Sie schlägt ihm ihren Ellbogen in die Magengrube und tritt ihm mit Schwung auf die Zehen. Das scheint wehgetan zu haben, denn er stöhnt laut auf. Aus den Augenwinkeln sieht Eden, dass Enid tatsächlich wegläuft. Lauf, denkt sie, verschwinde von hier. Wir sind nicht mehr lange am Leben. Erneut versucht sie an seine Waffe zu kommen. Sie tritt und schlägt und landet ständig Treffer, aber der Typ ist einfach nicht klein zu kriegen. Langsam beginnt er, auch auszuteilen. Und scheinbar hat er auch ein bisschen Kampfsporterfahrung vorzuweisen. Er trifft Eden hart an der Wange. Sie reagiert mit einem erneuten heftigen Tritt in die Weichteile. Endlich zeigt ihre Prügelattacke Wirkung. Er krümmt sich mit schmerzverzehrtem Gesicht zusammen. Eden nutzt ihre Chance, zerrt ihm die Waffe aus der Hand und tritt ihm in die Kniekehlen, damit er auf die Knie sinkt. Plötzlich ist Jacob an ihrer Seite. Fast zeitgleich platzieren sie und Jacob ihre Waffen an seinem Hinterkopf. Sie tauschen erneut einen Blick und entsichern.

"Seid ihr die Boondock Saints?", fragt eine Stimme hinter ihnen.

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