Kapitel 10: Oceanside

"War das meine Strafe?", fragt Eden, "Das Schweigen, meine ich?" Sie trocknet sich die Haare. Eines der nervigsten Dinge an diesem Ort, ist, dass es kein fließendes Wasser gibt. Um sich zu waschen, muss man kaltes Wasser aus einem Eimer benutzen. Was würde sie für eine warme Dusche geben! Negan fläzt auf ihrem Bett und spielt mit dem Messer, was sie unter ihrem Kissen versteckt hatte. Er hat es wohl gefunden, als sie im Badezimmer war. "Strafe? Wofür?", fragt er und lässt seinen Daumen über die Klinge fahren, "Und warum hast du ein Messer unter deinem Kissen? Dein Messer!...hast du das aus meinem Zimmer geklaut?!" Eden zuckt die Schultern. Sie hat beschlossen, ihm nichts von Davie zu erzählen. Vorerst zumindest. Solange wird sie sich vor diesem Ekel in Acht nehmen und ihn ein bisschen im Auge behalten- das kriegt sie auch ohne Negan hin. "Fühlt sich sicherer an. Und ich hab's nicht geklaut. Es gehört mir.", sie lässt sich neben ihm auf das Bett fallen, "Und du weißt, was ich meine."
"Für deine Aktion in Hilltop?", entgegnet er. Sie nickt. "Tja...was soll ich sagen? Ich bin froh, dass du dazwischengegangen bist." Edens Mund klappt auf. Sie starrt ihn ungläubig an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Dass er froh, froh!, darüber ist, dass sie ihm nicht gehorcht hat? Er lächelt und drückt mit dem Zeigefinger ihre Kinnlade wieder nach oben.
"Das war dämlich. Ich war...nicht in allzu guter Verfassung. Hätte ich der ollen Schachtel das Hirn zermatscht, hätte das nur Probleme gegeben. Ich war nur sauer, weil du- mal wieder- weggelaufen bist. Und das, und ich sage es wirklich zum aller, aller letzten Mal, ist wirklich ein riesengroßes Nein. Nein, nein, nein." Er wackelt mit dem Zeigefinger vor ihrem Gesicht herum.
"Ich bin kein Hund.", entgegnet Eden spitz.
"Leider. Du bist eher ein sturer, alter Esel." Eden funkelt ihn böse an. Er lacht über seinen Kindergartenwitz.
"Aber noch einmal dazu, dass du froh über mein Einschreiten warst...", beginnt Eden voller Genugtuung, "Meinst du nicht, dass ich dich da ein bisschen...naja...blamiert habe? Jedenfalls haben mich hier alle angesehen, als wäre ich totgeweiht."
Negan wirft das Messer gelangweilt von einer Hand in die andere.
"Gut so. Die sollen ruhig alle denken, dass ich unfehlbar bin. Und das Ungehorsam gnadenlos bestraft wird. Ich kann ihnen ja sagen, dass du zur Strafe ganz schmutzige Sachen machen musstest.", er zwinkert ihr zu, "Das würde sich übrigens glaubwürdiger anhören, wenn du das wirklich tun würdest..."
Eden rollt mit den Augen. Notgeiler, alter Bock!
"Diese scheiß Abstellkammer war ja wohl schmutzig.", faucht sie. Negan schüttelt sich vor Lachen.
Eden mustert ihn kritisch, bis er sich wieder beruhigt hat. "Seit wann bist du dahingehend so entspannt?", fragt sie misstrauisch, "Ich meine, du hast ganz schöne Stimmungsschwankungen. Vielleicht solltest du mal zu Carson."
Negan seufzt. "Ich hatte ne schlechte Phase, okay? Jetzt reite nicht darauf rum. Keiner hier zweifelt meine Autorität an. Die Hilltops und wir sind cool miteinander. Und wir beide haben uns versöhnt. Ist doch alles supidupi."
"Und wodurch kam es zu dieser 'schlechten Phase'?", bohrt sie weiter.
"Eden.", sagt er warnend.
"Ich will das wissen. Dann kann ich dir das nächste Mal gleich aus dem Weg gehen und muss mir deine Arschloch-Attitüde nicht antun." Er fährt sich über den Bart, ein Zeichen dafür, dass er hochgradig genervt ist.
"Du bist unmöglich.", knurrt er. Eden sieht ihn nur auffordernd an. Sie ist jetzt so weit gegangen, jetzt wird sie nicht nachgeben.
"Also schön.", seufzt er, "In einem meiner Außenposten gab es eine Art...Aufstand. Ein paar Leute dort dachten, sie könnten auf mich verzichten. Sie haben die anderen aufgewiegelt und gegen mich aufgehetzt. Sie haben alle, die mir gegenüber noch loyal waren umgebracht. Darunter einer, den ich schon sehr lange kannte. Er war hier von Anfang an dabei...und naja, das hat mich alles natürlich mörderisch angepisst."
Eden weiß nicht, was sie sagen soll. Negan sieht nicht so aus, als würde er sonderlich um seinen Freund trauern. Sie kann sich nicht einmal vorstellen, dass jemand wie er überhaupt Freunde hat. Andererseits....wenn sie daran zurückdenkt, wie er in jener Nacht aussah... "Scheiße.", sagt sie schließlich, "Tut mir leid."
Er nickt. "Ja. Dein Messer ist übrigens stumpf wie Sau." Demonstrativ fährt er über die Klinge. Eden ignoriert sein Ablenkungsmanöver.
"Und was hast du mir den Verrätern gemacht?", fragt sie leise, "Lucilled?"
"Sagt man das so? Lucilled? Gefällt mir!" Eden zieht die Brauen nach oben. Negan seufzt erneut.
"Ja, hab ich. Und glaub mir, dass war ne gottverdammte Schweinerei."
Eden kann ihn nicht mehr ansehen. Sie sieht wieder, wie er diesem Jungen den Schädel einschlägt. Wie er gelacht hat. Und das Blitzen in seinen Augen.
"Siehst du. Deswegen will ich dir sowas nicht erzählen. Es stößt dich ab.", hört sie Negan sagen. Erstaunt dreht sie sich zu ihm um.
"Dich interessiert, was ich denke?"
Er mustert sie für einen Moment schweigend.
"Ich fürchte, ja.", sagt er dann. Er klingt, als wäre er selbst darüber erstaunt.

"Was hast du eigentlich gemacht, bevor die ganze Scheiße den Bach runtergegangen ist? Warst du am College?", fragt er plötzlich, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Eden wirft ihm einen kurzen Seitenblick zu. Was ist denn heute mit ihm los? Wo ist der jähzornige, blutrünstige Mistkerl auf einmal hin? Eden seufzt. Über ihre Antwort wird er sich den Arsch ablachen. "Äh...ja. Vorher war ich ein Jahr in Europa. Bei meiner Tante."
"Briten?"
"Iren."
"Cool. Und was hast du studiert?" Eden nimmt sich Zeit für die Antwort. "Eh...Englische Literatur und moderne Musik." Sie hatte Recht. Negan lacht sich halb tot. Hoffentlich erstickst du, denkt sie säuerlich. "Echt?", prustet er, "Es wundert mich immer mehr, dass du noch lebst!" Eden verschränkt die Arme vor der Brust und sieht ihn finster an. "Und was hast du studiert?"
Er lacht immer noch. "Ich war nicht lange am College. War nichts für mich. Aber ich hab ein paar Monate Psychologie und Politik studiert."
"Das erklärt einiges. Haben sie dich rausgeschmissen, weil du so ein Diktatur-Fan warst?", fragt sie zynisch, "Und danach?" Er kichert immer noch wie ein albernes, kleines Mädchen. "Ich war Sportcoach an der Highschool. Und hab Gebrauchtwagen verkauft. Ich war nen ziemlich langweiliger Typ." Er zuckt mit den Schultern. "Man hat dich auf Kinder losgelassen?", fragt Eden fassungslos.
"Ich kann gut mit Kindern.", verteidigt er sich.
"Natürlich. Du kannst allgemein gut mit Menschen...", kommentiert Eden sarkastisch.
Er grinst. "Jep. Aber mal im Ernst: Wie hast du so lange überlebt? Hast du die Beißer mit schnulzigen Walt Whitman Zitaten in die Flucht geschlagen?" Eden wirft ihm erneut einen bösen Blick zu. "Nein. Mein Dad war Karatetrainer. Ich hab den 5. Dan. Später habe ich dann noch Muay Thai gemacht. Und meine Bruder war bei der Army. Durch ihn hab ich ein wenig schießen gelernt." Negan hört auf zu lachen.
"Das ist cool!", gesteht er, "Und dann ist das hier die Waffe deiner Wahl?" Er hält ihr verbeultes Messer hoch. "Kein cooles Hattori Hanzo Schwert? Oder...noch besser, ein Morgenstern! Wie diese kleine Yakuza-Schlampe in Kill Bill!" Eden presst die Lippen aufeinander , damit sie nicht loslacht. "Hatte ich leider keinen in meiner New Yorker WG.", meint sie achselzuckend.
"Hm, schade. Aber ich werde dir auf jeden Fall mal eine ordentliche Waffe besorgen." Er packt das Messer wieder unter ihr Kissen.
"Hau mir das nicht ins Hirn.", sagt er mahnend. Hat sie nicht vor. Zumindest vorerst nicht mehr.

Der Außenposten muss wieder besetzt werden. Dies hat einige positive Effekte. Zum einen schickt Negan zehn seiner Saviors dort hin. Darunter ist Davie. Diesen Wichser ist Eden also schon mal los, zumindest vorübergehend. Zum anderen bekommen einige der Nummern die Chance, Saviors zu werden. Es freut Eden ungemein, dass sowohl Reena als auch Dylan ausgewählt werden. Sie müssen sich jetzt bei ihrem ersten Einsatz beweisen, dann sind sie Saviors. Es tut Eden nur um Tina und Sherry leid. Die beiden sind ihr mittlerweile ans Herz gewachsen und wenn Reena und Dylan auch keine Nummern mehr sind, wird es wieder schwierig für Tina, an ihre Medikamente zu kommen. Eden grübelt die ganze Zeit darüber, wie sie ihnen helfen kann. Und bisher ist ihr noch nicht viel eingefallen. Nur eines- und das wird Tina ganz und gar nicht gefallen. Sie müsste Negans Frau werden. Dann hätte sie uneingeschränkten Zugriff auf Insulin. Aber Tina hasst Negan nicht nur, sie hat furchtbare Angst vor ihm. Der Gedanke, dass Negan die zierliche, schreckhafte und gerade mal 20-jährige Tina mit seiner ruppigen Art auch nur anfasst, jagt Eden einen Schauer über den Rücken. Das wäre Vergewaltigung. Das kann sie ihr nicht antun. Aber bisher hat sie auch noch keine andere, brauchbare Idee.

Der erste Einsatz für Dylan und Reena, und auch für Eden, ist in Oceanside. Die Gruppe, die dort lebt, besteht aus fast 40 Personen. Sie leben von allem, was das Meer ihnen bietet. Als die Kolonne der Saviors an der Küste entlang rollt, kommt es Eden vor, als würden sie einen Strandausflug machen. Das Meer schwabbt träge vor sich hin, die Sonne steht tief darüber. Die Luft ist kalt und salzig. Es ist unglaublich schön. Sie sitzt bei Negan im Truck und presst ihr Gesicht an die Scheibe. Schaut den Möwen bei der Futtersuche zu. Scheinbar haben die noch nichts davon gehört, dass die Welt am Arsch ist.
"Also, Eden. Dein Auftrag.", sagt Negan geschäfftsmäßig nachdem er einige Befehle ins Funkgerät gebellt hat, "Die Leute hier machen immer wieder Ärger. Und ich vermute, dass sie irgendwo Waffen verstecken. Wir konnten bisher noch nichts finden. Also bist du jetzt dran." Eden nickt. Er reicht ihr wieder den kleinen Revolver. "Du bist heute auf dich allein gestellt. Ich hab im Moment nicht genug Leute und die Newbies werden dir mehr schaden als nützen. Also: Pass auf dich auf, ja?" Den letzten Satz sagt er so leise, dass nur Eden ihn hört. Eden nickt wieder. Endlich! Endlich ist sie mal wieder auf sich selbst gestellt. Sie kann ihr Glück gar nicht fassen.

Dann sind sie da. Eden verlässt die Kolonne schon etwas früher, damit sie nicht gesehen wird. Ein kleiner Wald zieht sich an der Küste entlang, direkt zur Gemeinschaft der Oceanside. Es sind sehr wenige Beißer unterwegs, dadurch kommt sie zügig voran. Nach wenigen Minuten entdeckt sie den hohen Holzzaun, der um die Häuser gebaut wurde. Davon führen einige Pfade weg. Die meisten davon zum Strand, an dem Eden kleine Boote und Netze erkennt. Zwei führen aber auch in den Wald. Sie beschließt einen dieser Pfade zu nehmen.

Sie sitzt auf einem Baum und verschafft sich einen Überblick. Und sie genießt das, wenn auch nur vorübergehende, Gefühl von Freiheit. Obwohl...es muss nicht vorübergehend sein. Sie kann jetzt einfach abhauen. Die Saviors würden sie niemals finden. Dann könnte sie all dies hinter sich lassen. Der Winter wird bald vorbei sein. Sie könnte ein Stück gen Süden gehen. Sich dort eine Bleibe suchen. All die schrecklichen Ereignisse der letzten Monate vergessen. Sie schließt die Augen und atmet die Meeresluft ein. Sie hört das Rauschen der Wellen, die Schreie der Möwen. Spürt den Wind auf ihrer Haut. Dies könnte sie alles haben. Jetzt, sofort, bis ans Ende ihres Lebens, wann auch immer das sein mag. Negan würde sie niemals gehen lassen. Wenn sie gehen will, muss sie es jetzt tun...Sie hört Schritte. Sie sind gedämpft und schnell. Eden presst sich näher an den Baumstamm und späht nach unten. Es ist ein junger Mann, er hat es scheinbar eilig. Er ist keiner der Saviors. Eden lässt sich leise von dem Ast fallen, auf dem sie saß. Dann folgt sie dem Mann.

Nach einer Weile verlässt er den Pfad und zwängt sich durch das dichte Gestrüpp. Eden hätte beinahe seine Spur verloren, denn sie muss um das Gestrüpp rumgehen. Er würde sie sonst hören. Dann hört sie einen dumpfen Schlag. Sie folgt dem Geräusch und dann sieht sie den Mann wieder. Er öffnet gerade einen kleinen Holzverschlag, der so verwittert, so vermoost ist, dass man ihn erst sieht, wenn man kurz davor steht. Er scheint irgendetwas dort hinein zu tun. Das könnte das geheime Waffenlager sein. Zumindest wäre es ein optimales Versteck vor den Saviors. Eden klettert auf einen Baum und wartet bis der Mann fertig ist. Es dauert eine ganze Zeit lang, dann sieht er sich noch einmal kontrollierend um, verschließt den Verschlag sorgfältig und tritt den Rückweg an. Eden verlässt den Baum erst, als seine Schritte endgültig verhallt sind. Ein dickes Schloss hängt an der Tür des Verschlags. Eden zieht ein Stück Draht aus ihrer Tasche. Sie braucht eine ganze Weile, bis das Schloss aufspringt. Die Tür fliegt lautlos auf und stößt mit einem dumpfen Schlag an einen Baumstamm. Vor Eden tut sich das größte Waffenlager auf, was sie je gesehen hat. Es gibt unzählige Kurz- und Langfeuerwaffen, Messer, Munition, sogar Harpunen. Eden hat nicht sonderlich viel Ahnung von Waffen, aber sie erkennt, dass da verdammt gute Sachen dabei sind. Und sie sehen alle sehr gut gepflegt aus. Negan hatte also recht.

Für eine Weile steht sie unschlüssig vor ihrem Fund. Was soll sie jetzt machen? Ihr Befehl ist: In einer Stunde zum Truck zurückkehren und dort auf die Saviors warten. Sie könnte aber natürlich auch... sie könnte sich einfach mit Waffen eindecken und verschwinden. Es ist niemand hier. Keiner weiß, wo sie ist. Die Saviors haben gerade nicht genug Leute, um nach ihr zu suchen. Und selbst wenn, ... Das ist ihre Chance. Wer weiß, ob es eine zweite gibt.

Sie denkt an Reena und Dylan. Wird Negan seine Wut über ihr Verschwinden an ihnen auslassen? Er weiß, dass sie befreundet sind. Er weiß, dass die beiden ihr etwas bedeuten. Und er weiß, verdammt nochmal, dass man Menschen am besten bestraft, wenn man nicht sie selbst, sondern die, die ihnen etwas bedeuten, bestraft. Er würde ihr vielleicht nie ein Haar krümmen. Aber den anderen schon. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Dennoch- sie würde es nie erfahren. Reena und Dylan gehören dann ihrer Vergangenheit an. Nur der Gedanke daran, würde sie quälen. Die Ungewissheit. Sie hatte schon so viele schreckliche Dinge gesehen, warum sollte sie jetzt nicht damit leben können? Sie hatte stets ihr eigenes Leben über das anderer gestellt. Warum sollte sie jetzt etwas anderes tun? Außerdem- Reena und Dylan sind freiwillig bei den Saviors. Sie können jederzeit gehen. Eden nicht. Verdammt, verdammt, verdammt! Was soll sie jetzt nur tun?

Eden wird jäh aus ihren Gedanken gerissen, als sie einen Ast brechen hört. Da kommt jemand. Schnell verschließt sie den Verschlag und drückt das Schloss wieder zu. Dann klettert sie auf den nächsten Baum. Keine Minute zu früh, denn eine Gruppe nähert sich. Mindestens zehn Leute, wahrscheinlich Bewohner der Oceanside. Sie stehen jetzt direkt unter dem Baum auf dem Eden sitzt. "Wie viele sind es?", fragt eine große, stämmige Frau mit dunkler Stimme. Sie scheint das Sagen zu haben.
"Fünfzehn vielleicht. Aber draußen sind auch noch welche.", antwortet ein bärtiger, langhaariger Typ.
"Und Negan ist dabei?", fragt die Anführerin.
"Ja."
"Gut. Wenn heute alles gut geht, sind wir dieses Drecksschwein bald los." Sie öffnet den Verschlag und beginnt Waffen an ihre Leute zu verteilen. Der Hippietyp nimmt eine Halbautomatische entgegen und tritt dann unbehaglich auf der Stelle. "Fran...müssen wir sie wirklich alle töten? Negan...ja, klar. Aber die anderen?" Fran unterbricht für einen Moment ihr Tun.
"Ich will das auch nicht, Paul. Aber wir müssen das tun. Es darf keiner entkommen, wer weiß, wen und wie viele die noch da draußen haben. Und ich will nicht überrascht werden. Jeder Savior, jeder Fremde, der sich uns nähert, muss sterben."
Der Hippie scheint nicht allzu überzeugt zu sein, er trottet aber davon.
Edens Hände krallen sich in die Rinde des Baumes. Es ist nicht so, dass sie diese Leute nicht versteht. Die Saviors tyrannisieren sie schon seit längerer Zeit. Wahrscheinlich würde Eden jetzt auch zur Waffe greifen, wäre sie ein Mitglied dieser Gruppe. Und im Prinzip würde sie gerne und nicht ohne Genugtuung sehen, wie es Negan an den Arsch geht. Aber Reena und Dylan sind da drinnen. Und die Anführerin will keinen am Leben lassen. Eden ist die Einzige, von der sie nichts wissen. Sie muss etwas tun.
Fran tritt aus dem Verschlag und lässt die Tür zufallen.
"Seid ihr bereit? Dann los. Töten wir diese Arschlöcher! "

Eden wartet, bis sie weit genug weg sind. Dann rutscht sie von dem Baum und öffnet erneut das Schloss. Sie nimmt ein Messer mit einer immens langen, gezackten Klinge, eine vollautomatische Waffe, Munition. Sie will gerade gehen, als sie eine Kiste entdeckt. In der Kiste sind Gläser und Fläschchen, die mit einer Flüssigkeit gefüllt und mit einer Zündschnur versehen sind. Molotow Cocktails. Die könnten nützlich sein. Sie packt zwei davon ein und rennt los.

Die ersten Schüsse fallen, als Eden den Zaun erreicht. Sie sind ganz nah, nicht im Inneren des eingezäunten Geländes. Die Backup-Gruppe! Erneut fallen Schüsse. Dann ist es einen Moment still.
Sie hört jemanden schreien, dann meint sie sogar Negans Stimme rauszuhören. Okay, sie muss jetzt schnell etwas machen, sonst sind bald alle tot. Sie nimmt einen der Mollis. Sie zündet die Lunte an und wirft ihn über den Zaun. So schnell sie kann, rennt sie Richtung Eingang.

Sie sieht jetzt die Saviors, zumindest einige von ihnen. Sie wurden bereits von den Leuten der Oceanside-Gemeinschaft überwältigt. Sie wurden entwaffnet und knien auf dem Boden, jeder hat eine Waffe am Kopf. Unter ihnen ist Claudia, also haben sie auf jeden Fall die Backup-Gruppe erwischt. Da liegen auch Tote. Eden betet, dass es sich dabei nicht um Reena oder Dylan handelt. Und wo ist Negan? Ist er unter den Toten?
Plötzlich gibt es einen mörderischen Knall, man hört Holz splittern. Aus dem Oceansidegelände dringen gellende Schreie. Das war dann wohl Edens Molotow Cocktail.
Sowohl die Saviors als auch die Oceansides sehen erschrocken auf. "Verdammt, was war das?", brüllt Fran. Sie sieht panisch in die Richtung aus der die Explosion kam. "Hoyt! Paul! Seht nach, was das war." Die beiden Männer nicken und laufen in das Gelände. Fran zerrt einen der Saviors zu sich und hält ihm ihre Waffe an die Schläfe. "Wie viele Leute habt ihr draußen gelassen?", brüllt sie ihn an. Der Savior schweigt. Fran schüttelt ihn und verstärkt den Druck ihrer Waffe. "Wie viele?"
"Acht.", ertönt eine Stimme hinter einem der Trucks. Fran reißt ihren Kopf hoch. "Was...", beginnt sie.
Negan tritt hinter dem Truck hervor. Hinter ihm sind einige seiner Leute, die ihrerseits Oceansides hinter sich her zerren. Negan hat Lucille locker über die Schulter gelegt und schlendert auf Fran zu, als hätten sie sich zum Kaffeekränzchen verabredet. Der Mann hat Nerven! Fran starrt ihn mit offenem Mund und unverhohlenem Hass an.
"Dann haben wir alle erwischt.", stellt sie fest.
Negan zuckt unbeeindruckt die Schultern. "Ist mir egal."
"Gib auf, Negan. Leg deine Waffen ab und ergib dich. Dann lassen wir deine Leute leben.", sagt Fran. In ihrer Stimme schwingt Unsicherheit mit. Scheinbar irritiert sie sein Verhalten ungemein. Negan lacht heißer. Dieses Lachen ist so kalt, es lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.
"Wieso sollte ich? Wenn du meine Leute umbringst, leg ich deine um. Mindestens doppelt so viele...vielleicht auch alle.", entgegnet er leise.
"Wir haben den Großteil deiner Leute entweder getötet oder entwaffnet...", meint Fran. Es klingt wie eine Frage.
"Fran.", sagt Negan sanft, "Wir sind überall. Wenn du ein paar von uns tötest, dann kommen umso mehr nach." Fran scheint darauf keine Antwort zu haben. Sie starrt Negan nur verständnislos an.

Dann war das wohl Edens Stichwort. Sie hat noch nie mit einer vollautomatischen Waffe geschossen. Sie muss aufpassen, dass sie nicht aus Versehen alle umlegt. Sie legt die Waffe an und zielt auf den Zaun, ein paar Meter neben der Gruppe. Dann ballert sie los. Sie verschießt das gesamte Magazin und hofft, den Saviors damit genug Zeit zu verschaffen. Sie hofft, dass sie die Verwirrung nutzen können, um das Blatt zu wenden. Sie sieht nicht, was passiert, denn vor ihr ist alles in Rauch gehüllt. Sie hört nur Schreie und Schüsse und Durcheinander.

Als der Rauch abzieht, hat sich die Szenerie auf jeden Fall deutlich verändert. Edens Plan ist aufgegangen. Die Saviors haben ihre Angreifer überwältigt. Fran liegt am Boden, sie ist zumindest verletzt. Die anderen Oceansides werden gerade niedergerungen oder sind bereits am Boden. Negan steht in der Mitte und lacht wie ein begeistertes Kind.
"Fran! Hast du das gesehen! Für einen Moment dachtest du wirklich, du hättest gewonnen.", er tritt mit dem Stiefel an die am Boden Liegende, "Nicht wahr?"
Fran richtet sich mühsam auf. Sie blutet, scheint aber nicht allzu schwer verletzt zu sein. "Du Arschloch!", stößt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und spuckt ihm vor die Füße. Negan lacht nur noch lauter. Dann wird er plötzlich ernst. "Fran.", sagt er und geht vor ihr in die Hocke, "Wir hatten so ein tolles Ding am laufen. Wir haben auf euch aufgepasst, ihr habt uns unser Zeug gegeben. Das war verfickt noch mal gut! Das war verfickt noch mal so, wie es laufen soll. Und jetzt das..." Er steht wieder auf und schwingt Lucille in Frans Richtung. Sie weicht erschrocken zurück, was ihn enorm erheitert. Er steht über ihr und schüttelt den Kopf. Wie ein Lehrer, der von seinem Schüler enttäuscht wurde.
"Das...hach...", er seufzt theatralisch, "Das zeigt mir, dass ihr es immer noch nicht begriffen habt. Wann kriegt ihr es endlich in eure dämlichen Köpfe? Oh...", er reißt übertrieben verwundert die Augen auf und hält sich Lucille ans Ohr, als würde sie ihm etwas zuflüstern, dann lacht er, "Weißt du was meine süße Lucille mir gerade vorgeschlagen hat? Dass sie es euch in die Köpfe reinprügeln will! Dieses kleine, schmutzige, gierige Ding."

Eden ist erleichtert und frustriert zugleich. Sie meint, Reena und Dylan irgendwo hinter Negan entdeckt zu haben. Lebend. Ihr fällt ein Stein vom Herzen. Auf der anderen Seite tun ihr die Oceansides furchtbar leid. Negans Rache wird grausam sein. Und letztendlich haben diese Leute dafür gekämpft, frei zu sein. Und wenn jemand das versteht, dann ja wohl sie selbst. Sie überlegt, was als nächstes zu tun ist. Rein theoretisch könnte sie immer noch weglaufen, sie könnte... Sie hört einen Ast knacken. Sie dreht sich um, das Messer in der Hand. Da knallt ihr auch schon ein Gewehrlauf ins Gesicht und sie stürzt in den Sand.

Es ist der Typ, den sie verfolgen hat und durch den sie das Waffenlager gefunden hat. Jetzt hat er ihre Waffen und zerrt sie hinter sich her. Eden spürt, wie Blut über ihre Stirn läuft. Wurde ja auch mal wieder Zeit, denkt sie sarkastisch. Was hat der Typ jetzt mit ihr vor? Will er sie als Druckmittel gegen Negan benutzen? Toller Plan! Er kennt Negan scheinbar ausgesprochen schlecht.

Es ist tatsächlich sein Plan.
"Negan!", brüllt er, "Ich hab hier deinen kleinen Sniper!" Er zerrt Eden vor sich und drückt sie auf den Boden. Eden spürt die noch warme Mündung des Maschinengewehrs an ihrem Hinterkopf. Negan sieht den Typen unbeeindruckt an. Dann erkennt er Eden und für einen Moment blitzt etwas in seinen Augen auf. Angst? Nein, unmöglich. Wut? Ja, eine Menge Wut. Negan legt den Kopf schief.
"Wer bist du denn?", fragt er, als wäre es unter seiner Würde überhaupt mit diesem Menschen zu reden.
"Andy.", entgegnet der.
"Okay. Andy. Also...was willst du jetzt von mir?"
"Lasst alle von uns am Leben, geht oder ich werde sie töten.", sagt Andy kühl. Negan lacht.
"Andy. Das ist ein Scheißdeal. Was springt denn für mich dabei raus?"
Andy scheint nicht zu wissen, was er darauf antworten soll.
Negan wippt belustigt auf die Fersen.
"Wir haben genug Schlampen zum Vögeln bei uns. Da kommt's auf eine mehr oder weniger auch nicht an. Du darfst sie gerne behalten. Darf ich jetzt weitermachen?" Negan zuckt die Schultern und schwingt Lucille in Frans Richtung. Eden spürt, wie Andy zusammenzuckt. "Nein!", schreit er und zieht Edens Kopf an den Haaren zur Seite. Die Waffe drückt er an ihre Schläfe, "Ich bring sie um! Ich bring sie um!"
Negan fährt sich über den Bart. Dann kommt er langsam auf ihn und Eden zu. "Andy, du gehst mir auf die Eier! Laber nicht die ganze Zeit, dass du es tun wirst, sondern tu es oder lass es!" Er steht jetzt direkt vor ihnen, zieht seine Waffe, entsichert sie und hält sie Eden an die andere Schläfe. "Oder soll ich das für dich machen?"

Andys Waffe an ihrer Schläfe bebt. Er ringt mit sich. Dann lässt er die Waffe sinken. Er beginnt zu schluchzen. "Tzzzz", macht Negan verächtlich, "Pussy. Du hast nicht die Eier dafür. Nicht mal so eine kleine Fotze kannst du umlegen.", seine Stimme schwillt an, sodass jetzt alle hören, was er sagt, "Und dann denkst du, denkt ihr, dass ihr euch mit mir, MIR, anlegen könnt!" Er reißt Andy die Waffe aus der Hand und wirft sie Eden vor die Füße, dann packt er Andy und stößt ihn unsanft vor sich in den Dreck.
"Meine Lieben: Ihr seid ganz schön am Arsch."


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