8. Ein schöner Abend?

Am nächsten Abend – Morro war den ganzen Tag unterwegs und hat mich freundlicherweise über einen Screen mitschauen lassen – verdunkelt sich der Himmel früher als gewöhnlich.

Den ganzen Tag hat die Sonne geschienen und die Landschaft war wirklich atemberaubend schön.

Morro hat den ganzen Tag kein Wort gesagt, er ist einfach geflogen. Sein Elementdrache hat uns zuerst über einen See getragen, dann kam Wald. Viel Wald.

Und der Wald ist immer noch unter uns, als plötzlich Wolken aufziehen. Dann fallen die ersten Regentropfen.


Morro sieht sich ungeduldig nach einer Unterkunft um. Der Regen macht ihn nervös, obwohl er ihm nichts anhaben kann, solange er in Leylas Körper ist.

Schließlich bemerkt er eine Rauchfahne, die mitten aus dem Wald aufsteigt. Ein Gasthof wahrscheinlich.

Das ist ja mal wieder typisch. Nur noch eine Stunde Wegzeit bis zu seinem Ziel und jetzt fängt es an zu regnen.

Verärgert zieht er sich die Kapuze ins Gesicht. Naja, zumindest wird er heute mit etwas Glück endlich wieder in einem vernünftigen Bett schlafen.

Er landet den Drachen direkt vor dem Haus, das „Zum tanzenden Eber" heißt und wohl tatsächlich ein Gasthof ist.

Der Wind peitscht ihm den Regen ins Gesicht und er zieht sich den Umhang fester um die Schultern. Morro sieht zum Himmel hinauf und spürt das Wasser auf seiner Haut.

Wie lange ist es her, seit er das letzte Mal im Regen stehen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass das Wasser ihn umbringt?

Er erinnert sich daran, wie er als kleines Kind einmal unbedingt draußen spielen wollte, obwohl es wie aus Eimern geschüttet hat. Wu hatte es ihm verboten, aus Angst, Morro könne sich erkälten.

Aber er hatte nicht auf Wu gehört. Als der im Bett war, hatte Morro sich hinausgeschlichen und war durch die Pfützen gesprungen.

Eine halbe Stunde später wurde er erwischt. Und am nächsten Morgen hatte er sich eine fette Erkältung zugezogen.

Wu hatte mit ihm geschimpft, aber bestraft hatte er ihn nicht. Er hatte gemeint, die Erkältung sei Strafe genug.

Morro lächelt bei der Erinnerung. Aber es ist ein trauriges Lächeln. Wie lange ist das her? Wie lange war er in der Verfluchten Welt gefangen? Er weiß es nicht genau. Aber Wu ist jetzt ein alter Mann, also muss es sehr lange sein.

Ärgerlich schüttelt er den Kopf über sich selbst. Jetzt ist nicht die Zeit für Sentimentalitäten. Wenn er nicht sofort ins Trockene kommt, wird er sich erneut erkälten. Und das ist das letzte was er jetzt braucht.

Er stößt die Tür auf. Warme und überaus gut riechende Luft kommt ihm entgegen. Eine Mischung aus gegrilltem Hähnchen, warmer Suppe und Fleischeintopf. Schon seit einiger Zeit hat er keine warme Mahlzeit mehr gegessen. Das würde mit etwas Glück ein schöner Abend werden.

An den meisten Tischen sitzen Stammgäste mit Bierkrügen und unterhalten sich lautstark. Hinter der Theke steht der Wirt und poliert einige Gläser. Aber alles verstummt, als Morro hereinkommt.

Ach ja, er sieht ja immer noch aus, wie ein Mädchen. Ein hübsches Mädchen ohne Begleitschutz, wohlgemerkt.

Der Wirt lächelt ihn an und zeigt seine zwei Goldzähne. „Kann ich was für dich tun, junges Fräulein?"

Mit einem Ruck zieht er sich die Kapuze vom Kopf und geht auf den Tresen zu. „Ja. Ich hätte gern ein Zimmer für eine Nacht und ein warmes Abendessen."

Er schiebt einen Beutel mit Münzen über den Tisch.

Der Wirt grinst und zählt das Geld. „Gern, Mädchen." Dann schiebt er einen Schlüssel über den Tisch an dem ein Kärtchen mit der Nummer 6 hängt.

„Bitte sehr, Zimmer 6 ist gleich oben links. Und was will unsere junge Besucherin essen?", dabei reicht er ihm die Karte. Morro überfliegt die Gerichte und entscheidet sich für eine Suppe. Nach dem kalten Regen ist das genau das Richtige.

Der Wirt nickt. „Kommt gleich. Setz dich derweil."

Genau das tut Morro, nachdem er einen freien Tisch in der hintersten Ecke gefunden hat. Die Männer starren ihn immer noch an. Ihm wird leicht unwohl zumute.

„Hey du", ruft auf einmal ein großer narbiger Kerl mit zerzaustem, fettigen Haar und zwei Messern am Gürtel.

Als Morro nicht reagiert, schreit er noch einmal, diesmal lauter. „Du da, hinten, dich meine ich!"

Langsam sieht Morro auf. „Ja?", fragt er.

Der Kerl grinst, steht auf und kommt langsam auf ihn zu. „Bist du etwa ganz allein unterwegs, Kleine?"

Seine Kumpane lachen sich kaputt.

„Ja". Mehr hat Morro nicht zu sagen. Der Kerl macht ihn nervös, auch wenn er weiß, dass er sich im Notfall gegen jeden, der ihm zu nahe kommt, verteidigen kann.

Er spürt, dass Leyla ebenfalls nervös ist. Kein Wunder, sie sieht und hört ja immer noch alles, was draußen passiert.

Der Typ steht jetzt direkt neben ihm und Morro kann den unangenehmen Geruch wahrnehmen, der von dem Kerl ausgeht. Er muss sich zusammen reißen um sich nicht mit der Hand Luft zuzufächeln.

Dann spürt er eine Hand auf seiner Schulter. „Bist du denn nicht einsam?"

Das reicht.

Blitzschnell hat er das Messer, das für den Notfall immer in seinem rechten Stiefel steckt, in der Hand und hält es dem Kerl an die Kehle.

„Wenn du noch einen Zentimeter näher kommst könnte es sein, dass mir die Hand ausrutscht..."

Jetzt sieht der Typ ängstlich aus. „I-ist ja gut, kein Grund mich anzugreifen..."

„Ach ja? Dann verzieh dich zurück an deinen Tisch und sag jedem deiner Freunde, dass der, der mir zu nahe kommt, mein Messer zu spüren bekommt."

„Ist ja gut, ist ja gut...", murmelt der Kerl, während er zurück an seinen Tisch läuft.

Ab diesem Zeitpunkt lassen die Männer Morro in Ruhe. Die Suppe ist überirdisch gut und das Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, sieht auch besser aus, als alles, wo er bis jetzt übernachtet hat.

Darin befindet sich ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und eine kleine Kommode. Eine Tür führt ins angrenzende Badezimmer.

Wann war das letzte Mal, dass er sich richtig duschen konnte?


Ich beobachte alles schweigend. Wie Morro das Gasthaus betritt, der Mann an seinen Tisch kommt, wie Morro ihn abwehrt, er seine Suppe isst und das Zimmer betritt.

Dann geht er ins Badezimmer.

„Warte", rufe ich.

Morro dreht sich zu mir um. Gleichzeitig verschwinden auch der Screen und die Lautsprecher.

„Ja?"

„W-was hast du vor?"

Morro lächelt. „Mich duschen, was sonst."

„In MEINEM Körper? VERGISS ES!" Ich merke, wie sich meine Wangen schon wieder rot verfärben.

Jetzt lacht er. „Aber dein Körper braucht ganz dringend eine Dusche. Das ist eine einmalige Gelegenheit, die muss ich nutzen."

Ich merke, wie ich noch röter werde. „A-aber dann siehst du mich ja, naja, ohne Klamotten..."

Er lacht auf. „Ich glaube nicht, dass es da etwas gibt, wofür du dich schämen musst...und außerdem, du tust ja so als hätte ich mich noch nie in deinem Körper gewaschen..."

Mein Gesicht muss inzwischen dunkelrot sein. „W-was, du hast dich schon mal...?"

Er lacht immer noch. „Aber sicher doch. Ich meine, ich bin jetzt etwa eine Woche in deinem Körper unterwegs, glaubst du nicht, dass man sich zumindest jeden zweiten Tag waschen muss? Es gab immer irgendeinen Fluss oder See in der Nähe, wo mich niemand gesehen hat. Aber hier gibt es eine richtige Dusche mit warmem Wasser...und du willst doch nicht, dass sich dein Körper eine Erkältung einfängt, oder?"

Natürlich sehe ich ein, dass er Recht hat. Und ich will ja auch nicht, dass mein Körper stinkt, aber der Gedanke ist mir trotzdem unangenehm. Ich sage nichts mehr und Morro für eine Weile auch.

Dann, es mag vielleicht eine halbe Stunde vergangen sein, dreht er sich wieder zu mir um. Er lächelt.

„Dein Körper schläft – endlich wieder in einem richtigen Bett."

Ich lächle zurück. „Schön für dich – äh, mich, oder uns?"

„Ja, uns trifft es wohl am besten."

Er erschafft einen Stuhl und setzt sich. „Und, was willst du machen?"

Ich sehe verlegen zur Seite. Dann frage ich: „Hättest du den Mann dort im Gastraum wirklich umgebracht?"

„Sicher. Wenn man mir zu nahe kommt kann ich für nichts mehr garantieren."

Ich sehe ihn an und frage mich einmal mehr, ob er wirklich so böse ist, wie er vorgibt zu sein.

„Sag mal, warum tust du eigentlich immer noch so, als wärst du böse?"

Überrascht sieht er mich an. „W-was? Wieso so tun?"

Ich verdrehe die Augen. „Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, du seist böse."

Sein Lächeln verschwindet.

„Doch, das bin ich. Du behauptest das nur, weil du nicht das Geringste über mich weißt."

Sein Ausdruck wird milder.

„Aber ich wünschte du hättest Recht. Ich wünschte, ich würde wirklich nur so tun. Das würde alles um einiges leichter machen. Du hast keine Ahnung wie das ist, wenn man keine Wahl hat..."

„Keine Wahl?"

Er seufzt. „Das ist eine lange Geschichte – die ich jetzt nicht erzählen will."

„Aber du sagst doch selbst, dass ich nichts über dich weiß. Ich teile mir jetzt schon eine Woche meinen Körper mit dir und ich finde, ich habe das Recht, mehr über dich zu erfahren."

Er sieht mich an. Dann seufzt er. „Also schön. Aber nur, wenn du mir im Gegenzug mehr über dich verrätst."

Ich runzle die Stirn. „Aber du weißt doch schon alles über mich, aus meinen Erinnerungen."

„Nein, ich hab mir nur die Zeit angesehen, nachdem du herausgefunden hast, dass du der Grüne Ninja bist. Sonst weiß ich nichts über dich."

Ich seufze. „Na gut. Wir spielen das *Ich frage, du antwortest, dann fragst du und ich antworte* Spiel. Für jede Sache über dich verrate ich dir eine über mich. Einverstanden?"

Er lächelt. „Leg los."

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