~•Kapitel 1•~

Annika, 15 Jahre alt, 2022

Hier sitze ich also. In einem dieser Sessel in denen man zu verschwinden drohte. Meine Therapeutin gegenüber von mir und schaut mich mit ihren grauen Augen durchdringend an. Sie war schon etwas älter, denn ihr Gesicht war mit Falten durchzogen. Ihr Haar war braun, doch auch das war mit durchzogen von einem zarten Grau. Ich habe nie nach ihrem Alter gefragt, da ich das unhöflich finde, doch ich schätze sie auf 48-55.

Meine Augen wanderten durch den Raum und blieben an einem Bild hängen. Es zeigte grosse, blaue, schäumende Wellen in denen sich, aus Ahornholz, Boote befanden. In den Schiffen sassen jeweils 6 Leute. Von weitem sah es so aus, als ob sie kurz vor dem kentern stehen und die Leute hektisch versuchten das Boot unter Kontrolle zu bringen . Doch bei genauem Betrachten, sah man, dass sie sanft von den Wellen getragen wurden. Wie gerne ich in diesem Bild wäre und von diesen Wellen ins Unbekannte getragen werden würde, dachte ich sehnsüchtig. Ich merkte, wie mich das Bild immer wieder von neuem beruhigte.

"Annika". Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Verwundert sah ich die Frau, die meinen Gedankenfluss unterbrochen hat, an. "Versuchst du der Frage auszuweichen?". Was für eine Frage? Ich kann mich an keine erinnern, dachte ich nachdenklich. Meine Therapeutin schien zu merken, dass ich mich nicht an die Frage erinnern konnte/wollte und wiederholte die Frage. "Hast du sie gehen lassen?"

Ob ich sie gehen gelassen habe? Nein. Nein, habe ich nicht. Wie könnte ich auch. Sie war mein ganzes, erbärmliches Leben an meiner Seite, hat mich immer unterstützt und war für mich da. Sie kannte meine tiefsten Geheimnisse und meine ganze Lebensgeschichte. Sie wusste, dass ich unter Borderline, Depressionen und ADHS leide. Sie wusste es und machte das Beste daraus. Wir haben zusammen unsere Nachbarschaft unsicher gemacht und über unsere Lehrer abgelästert. Wir haben so viele Scheisse abgezogen. Immer zusammen. Sie war ein guter Mensch. Doch anscheinend nicht für mich, dass wollte ich ihr sagen. Doch ich konnte nicht. Es würde Schwäche zeigen und das kann ich nicht, dachte ich verbittert.

Doch stattdessen sagte ich nur: "Ja habe ich". Die grösste Lüge meines Lebens und genau die durchschaute sie. "Annika, du weisst, dass ich dich jetzt schon lange als Patientin habe und ich deine Lügen durchschauen kann. Also. Es ist okay, wenn du mir die Wahrheit sagst. Du weisst, ich verurteile dich deswegen nicht", sagte Frau Bolzenbrecher freundlich. Ich seufzte. Sie kannte mich einfach schon zu gut...

"Naja noch nicht ganz. Es gibt immer wieder Situationen, bei denen ich mich an sie erinnere", beichtete ich. "Ich meine ich kannte sie mein ganzes Leben lang, dann ist das doch selbstverständlich wenn ich mich wegen denn dümmsten Sachen an sie erinnere oder nicht?", fragte ich sie. "Natürlich und niemand behauptet was anderes, Annika". Wieder diese durchdringenden Augen. Als ob sie tief in meine Seele schauen wollten. "Nein. Niemand behauptete was anderes. Ich spreche ja mit niemand anderes als mit ihnen darüber", murmelte ich.

"Annika, wie lange ist es jetzt her, seit dem Vorfall mit deiner besten Freundin?"-"Sie war meine beste Freundin", korrigierte ich sie. "Ich denke das war vor einem Monat". "Wie geht es dir heute damit, wenn du zurück denkst?", fragte sie. Kurz überlegte ich, was ich darauf antworten sollte. "Gut. Ich habe kein Problem mehr damit. Ich denke ich habe das ganz gut verarbeitet", sagte ich und setze mein gekonntes, falsches Lächeln auf. Wieder lüge ich, doch dieses mal durschaute sie mich nicht. Frau Bolzenbrecher nickt und schrieb was auf ihr Block. "Gut, Annika. Da bin ich froh", jetzt schien sie es zu sein, die überlegte. Sie legte ihr Kopf schräg, betrachtete mich und blieb an mit ihrem Blick an meine Armen hängen. Nach ein paar Sekunden schaut sie wieder in mein Gesicht. Ich konnte ihren Blick nicht deuten. Schlussendlich haut sie eine Frage raus, die ich am wenigsten erwartet hätte. "Und wie geht es mit den Selbstverletzungen?"

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