Ýpnos X oder Ace lenkt ab


"Hatte sie dir nicht eigentlich die Füße zugebunden?"

"'Hatte' ist das richtige Wort. Kitty war wohl mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache." In Aces Händen ruhte eine Eisenstange - das letzte eventuell waffenfähige Stück, dass er im Auto hatte finden können - und die glücklicherweise waffenlosen Finger von Nero ließen sich wohl inzwischen wieder bewegen. Zumindest rieb er sie andauernd.

"Ich bin mir ziemlich sicher, das ist nicht ihr Spitzname."

"Ich bin mir ziemlich sicher, ich muss mir nichts erklären lassen von einem Typen, der auf ein Auto aufpasst, indem er am Steuer einpennt und so beschäftigt mit versauten Träumchen ist, dass jeder beliebige Passant ihn hätte abstechen können." Ace musste einen kurzen Moment der körperlichen Schockstarre überwinden und fühlte sein ganzes Gesicht brennen, bevor er wieder in der Lage war loszuhasten.

"Das - woher willst du denn wissen, was ich geträumt habe?!" Er hoffte, dass er empört klang. Nicht erwischt.

"Weil du mit den Hüften gewackelt hast wie son Kaninchen mit Hitzewallungen? Schien ein sehr lebhafter Traum gewesen zu sein." Oh Gott. Urplötzlich wünschte sich Ace, er hätte nicht gefragt.

"Es kamen Frauen vor!", meinte er hastig, kurz bevor ihm klar werden konnte, wie abgrundtief dumm das eigentlich klang. Über manche Dinge redete man nicht. Nero wandte sich ihm zu und hob die Brauen deutlich.

"Ja, ich hörte, sowas soll mitunter der Fall sein." Ace konnte deutlich spüren, wie die Röte ihm weiter bis zu den Haarwurzeln hinauf kroch. Sein Gesicht musste so erhitzt sein, dass die Schneeflocken vermutlich beim Aufkommen schon verdampften. Sein Gehirn suchte fieberhaft nach einem Ausweg, seine Worte ein klein wenig gesellschaftsfähiger klingen zu lassen, aber vermutlich war es gut, dass er gar keine Gelegenheit mehr zum Sprechen fand. In erster Linie deswegen, weil Nero ihm die Hand auf den Mund presste und sie beide hinter einem Baum zerrte.

"Hm!!", beschwerte sich Ace lautstark und wollte schon fuchteln, als Nero seine Aufmerksamkeit sicherte, indem er die Finger unangenehm in Aces Seite bohrte.

"Klappe. Da hinten." Nero nickte hinüber, zum direkten Pfad, der von dem vermeintlichen Unterschlupf hinauf zu ihrem Wagen führte, und jetzt war auch er in der Lage, die zwei Gestalten zu erkennen. Sie waren in dunkle Waldfarben gekleidet und hoben sich nur deswegen vom Hintergrund ab, weil der Schnee die Umgebung nach und nach weiß färbte. Ace sog tief Luft ein, dann zupfte er behutsam am Ärmel zum Zeichen, dass Nero die Hand wegnehmen solle.

"Folgen wir ihnen?", erkundigte er sich flüsternd.

"Nee, die sollen ruhig machen. Das heißt, dass unten weniger Personen sind."

"Also denkst du, dass wir gegen sie kämpfen müssen?" Ace klang gestresst, aber er bemühte sich zumindest, sehr, sehr leise gestresst zu klingen. Nero ließ ihn inzwischen wieder los und schob ihn sachte nach vorne, weiter ihren ausgesuchten Weg entlang.

"Ich denke gar nichts. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Gedanken gehabt."

"Das würde ich dir gerne glauben", grummelte Ace. Je schneller Nero gewisse Anblicke wieder aus seinem Gedächtnis löschte, desto besser.


Die Hütte war ein einstöckiges Gebäude aus Holz, hinter der noch ein beachtlicher Schuppen stand. In etwas Abstand zum Schuppen lag eine grauweiße Plane auf einem hohen Ding, was mit etwas Glück ein Fahrzeug sein könnte. Vielleicht sogar eines mit Öl. Nur irgendwie hatte Ace inzwischen das Gefühl, dass ihnen das niemand aus purer Herzensgüte teilen würde.

Sie selbst hatten sich von der rechten Waldseite genähert, und Ace wäre gerne näher gekrochen, würde nicht zwischen ihnen und Hütte ein einzelner Mann stehen, der in seinen Händen ein bösartig aussehendes Gewehr trug. Ace, der bei Schusswaffen nur die Kategorien 'Pistole', 'Gewehr, schießt eine Kugel' und 'Gewehr, schießt ganz viele Kugeln auf einmal' kannte, hatte es mit einem fachkundigen Blick in die dritte Kategorie eingeordnet. Das gefiel ihm nicht. Ace hatte eine sehr große Abneigung bezüglich des Gedankens an mehrere Kugeln, die in seinem Körper steckten.

Hinter den frostbeschlagenen Fenstern schien Licht. Elektrisches Licht, kein trübes Lagerfeuerflackern. Ace war gerade noch dabei, die Schemen hinter dem Fenster zu verfolgen und zu rätseln, ob dort wohl weitere Menschen waren, ehe Nero ihn in die Seite stupste.

"Du lenkst ab." Ace verschluckte sich am eigenen Atem.

"Ich tue was?!"

"Ablenken. Ich will da rein, und das wird komplizierter, solange sich der Typ dort nicht auf einen dummen Typen mit rosa Haaren konzentrieren muss, der aus den Büschen gestolpert hatte." Aces Gehirn schaltete langsam, aber zumindest schaffte es, sich auf die Hauptprioritäten zu konzentrieren.

"Das ist nicht rosa, das ist fliederfarben, du geschmackloser Primat."

"Ah ja." Nero hob die Brauen. "Und du bist dir ganz sicher, dass in deinem Traum nur Frauen vorkamen?" Ace schwieg. Die Röte auf seinen Wangen konnte nicht gegen ihn verwendet werden, oder?

"Ich will aber nicht ablenken."

"Und ich will Katherine nicht retten, aber manchmal muss man einfach in den sauren Apfel beißen. Jetzt spring da raus und tu deinen Job - nicht hier, paar Meter weiter unten. Und versuch nicht draufzugehen. Ich hol dich, wenn ich weiß, dass das Haus sauber ist." Die Worte sorgten für kurzes Zögern bei Ace. Wenn Nero wirklich auf Widerstand treffen sollte... dann war er immer noch derjenige, der die besseren Chancen hatte, sie alle hier rauszuholen. Oder?

"Du solltest das da nehmen", murmelte er schließlich und stupste ihn mit dem Handgelenk an, in dem er mit der Eisenstange wackelte.

"...Warum soll ich dein Händchen nehmen?"

"Die Stange, du Idiot!" In der kurzen Zeit, die er brauchte, um erbost zu fauchen, hatte er vergessen, dass sie ja eigentlich besser stumm und still sein sollten. Ace ließ sich tiefer sacken, und sein Herz klopfte, während er betete, dass er zwischen all dem Gebüsch nicht zu auffällig nach Mensch aussah.

"Ich will deine Stange aber nicht anfassen." Nero sprach mit aller gebührenden Ernsthaftigkeit, und es brauchte Ace etwas Zeit, bis ihm klar wurde, dass es sich auch um einen deplatzierten Peniswitz handeln könnte.

"Du nimmst die jetzt, ehe ich sie dir zwischen die Finger schiebe", grollte Ace. Konnte es denn so schwer sein, in einer Situation auf Leben und Tod zumindest ein bisschen Ernsthaftigkeit zu bewahren?... Das Schlimmste schien noch, dass Neros Leichtherzigkeit ansteckte.

"Wow, so forsch kennt man dich gar nicht... aber nein, kein Interesse. Steck deine blöde Stange doch in deine eigenen Finger." Am liebsten hätte Ace mit den Zähnen geknirscht. Aber okay. Wenn Nero der Meinung war, dass er keine Waffe brauchte, dann würde er sie eben behalten.


Er war ein paar Meter weiter nach unten gerobbt, bis zum Eingang des Schuppens hin, und erinnerte sich noch einmal daran, dass er Nero nicht offensichtlich mit den Augen folgen sollte, wenn der sich irgendwo vor ihnen langschlich. Ace würde das schaffen. Er musste ja nur lange genug reden und am Leben bleiben, um allen anderen Gelegenheit zu geben, was-auch-immer zu tun. Das konnte nicht schwer sein, oder?

Trotz all seiner Beteuerungen gegenüber sich selbst konnte er das Gefühl nicht abschütteln, etwas katastrophal Dummes zu tun.


"He-." Er kam gar nicht dazu, seine Begrüßung zu Ende zu führen, ehe schon ein Gewehr zu ihm herübergeschwenkt wurde. Und das, obwohl er die Eisenstange sogar in den Büschen gelassen hatte. Ace hatte sich alle Mühe gegeben, so nett und unbedrohlich wie möglich zu erscheinen.

"Hände hoch und auf die Knie!", bellte es. Ace blinzelte verdrossen, hielt es aber für klüger zu folgen. Dennoch - sah er so furchteinflößend aus, dass ihm alle zuerst auf diese Art und Weise begegnen mussten? Er ließ sich langsam in den Schnee sinken, die Arme zur Seite gehoben, wie sie es in Filmen taten, und beobachtete nervös, wie der Mann seine Waffe angelegt ließ und näherlief.

Er hatte ein Tuch über Mund und Nase gehängt, und auf seiner Weste - die nicht im Ansatz so zerrissen wirkte wie die Klamotten, in denen er bislang allen anderen Menschen in dieser Welt begegnet war - war ein Symbol aufgestickt. Irgendwas mit stilisierten Flügeln, die nach unten flogen, und geometrischen Symbolen, die Ace sich nicht die Mühe machte einzuordnen.

"Wer bist du?", bellte die Stimme, und Ace begann den Text herunterzurattern, den er sich zurechtgelegt hatte.

"Ich- ich bin Ace-" Anfangs hatte er tatsächlich überlegt, sich einen Spitznamen zu verpassen, wie der Rest es zu tun schien. Aber andererseits - wozu sollte er einen Decknamen brauchen? Ihn kannte doch ohnehin keiner.

"-ich kam mit den zwei Mädels her, Cat und Batty-" Verdammt. Er hatte Bat sagen wollen. Nero und seine blöden ansteckenden Namen. "-und sie wollten hier runtergehen und nach Hilfe fragen, aber jetzt waren sie schon eine ganze Weile weg und mir wurde kalt und..." Ace hielt inne und blinzelte treuherzig. Ein Vorteil seines Gesichts war, dass er zumindest nicht groß schauspielern musste, um harmlos zu tun.

Der Mann beugte sich zu ihm herunter. Ace konnte ungepflegte Augenbrauen sehen, schwarze Augen und die rotbraune Haut, die er am ehesten Indern zuordnen würde. Nicht,dass er davon ausging, es würde in dieser Welt ein Indien geben. Oder... überhaupt irgendwas. Sein Gegenüber streckte den Gewehrlauf nach vorne, und Aces Herz wollte schon Alarm schlagen, als er ihm nur mit dem Lauf die Strähnen aus dem Gesicht strich. Als sich der Mund des bewaffneten wieder öffnete, war seine Stimme ruhiger. Vom bellenden, forschen Ton war nichts mehr zu spüren.

"Eyes? Du sagst, dein Name ist Eyes?"

"Äh", sagte Ace, der nicht genau einordnen konnte, ob das nun ein Nicken verlangte oder er doch etwas falsch verstanden hatte. "Ich glaube scho-" Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Stattdessen sackte der Mann vor ihm auf die Knie und schmiss die Waffe von sich. Ace hatte das kaum verarbeiten können, da schlangen sich plötzlich die Arme des Kerls um ihn und er drückte Ace an sich. Sein Körper schien zu beben.

"Ich wusste es. Ich wusste es, ich wusste es, ich wusste, du bist nicht tot, sie haben es uns gesagt, aber wir wollten die Hoffnung nicht aufgeben, und ich wusste es, ich-" Ace ließ seine Arme ganz langsam sinken und blinzelte perplex ins Schneetreiben. Sein namensloser Bekannter ließ inzwischen wieder von ihm ab und schob Ace an den Schultern etwas von sich. "Und ich schwöre, ich wusste nicht, dass die beiden Mädchen zu dir gehören. Hätten sie das gesagt, ich hätte nie- aber sie sind noch am Leben! Wir haben ihnen nichts getan! Wir haben sie nie ins Lager gebracht!" Auf seiner Miene herrschte so ein wildes Spiel von Emotionen, dass Ace nicht eine davon einzuordnen wusste. Er schien beinahe zu weinen, trotz des fast schmerzhaft breiten Grinsens in seinem Mund.

"Aber du bist zurück, Eyes. Du bist zurück. Diesmal wird alles anders werden."

Ace schluckte. Inzwischen meinte er das Wort erkennen zu können, und sein Gehirn begann die Puzzlesteine dieser seltsamen Verwechslung zusammenzufügen. Ob er sich damit in Schwierigkeiten gebracht hatte, wollte er lieber gar nicht genau zerdenken.


AN: Aktuell nur mit Verspätung, war Freitag erkrankt und hatte etwas Probleme nachzuholen. Was fehlt, wird nach und nach noch nachgeliefert werden, do not worry ^^

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