Kapitel 20
Neurosis - Oliver Riot
Das durfte nicht wahr sein...
Ich konnte -und ich wollte meinen Augen nicht trauen. Mal wieder wollte mein Gehirn nicht verarbeiten, was meine Augen sahen. Ein weiteres Mal stand ich da. Versteinert. Erschüttert. Geschockt.
Ein Ruck durchfuhr mich und ohne zu wissen was ich tat, lief ich in die Richtung meiner Gruppe. Als ob mein Körper nur näher an diese Katastrophe wollte, versagten genau in dem Moment, als ich im Mittelpunkt des Geschehens war, meine Beine und ich fiel auf die Knie.
Ich kniete einfach da. Rührte mich nicht mehr. Mein Blick auf das, was vor mir war gerichtet.
Mitten in einem Blutbad. In einem Gemetzel.
Ich kniete zwischen Leichen. Leichen, Tote, die mal zu meiner Gruppe gehörten, mit denen ich gelacht hatte, die so viel verloren hatten.
Es waren 6 an der Zahl. Erschossen. Durch Jugendliche -nein, eher Kinder die nichts weiter als Angst hatten.
Wir waren 20, ab jetzt reduziert auf 14.
Keine Träne, keine einzige Emotion schaffte es nach draußen, doch mein Inneres schrie. Gab mir die Schuld. Ich hätte sie, die feindliche Gruppe, schneller verjagen können. Hätte die Leute meiner Gruppe schnell in Sicherheit bringen können. Doch ich konnte das was passiert war nicht Rückgängig machen.
"Die 6 Menschenleben gehen auf mein Konto", wollte ich gerade laut sagen, als sich eine schwere, doch bekannte und wohltuende Hand auf meine Schulter legte. Ein wohlige Wärme ging von ihr aus. "Du bist nicht schuld", sollte sie mir sagen. Doch selbst wenn ich mir die Schuld nicht gäbe, würden es andere aus der Gruppe für mich tun.
Daemon, welcher die Hand von meiner Schulter löste, ließ sich nun vor mir auf die Knie fallen. Er schien ähnlich Betroffen von dem Verlust, doch trotzdem blickte er mir tief in die Augen, statt wie ich vorher, oder die anderen aus der Gruppe, starr auf die Leichen zu starren. Seine blauen Augen lösten mich aus meiner Starre und ich erwiderte seinen Blick.
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Einige Zeit war vergangen. Ich hatte mich soweit wieder gefangen und dem Rest der Gruppe geholfen die Toten in alte Tücher, die jemand dabei hatte, zu wickeln und sie nebeneinander an das Feuer zu legen.
Wir waren uns alle einig, dass wir die Leichen nicht einfach so irgendwo liegen lassen wollten. Verbrennen hätte bei 6 Leichen zu lange gedauert und zu viel Aufmerksamkeit erregt. So entschieden wir tatsächlich sie zu vergraben. Jemand hatte in der Nähe unseres Platzes eine alte Hütte mit Gartengeräten gefunden und so konnten wir uns alle abwechseln und nun waren wir dabei die letzten 2 Löcher zu graben. Mittlerweile war es wieder Nacht und das Feuer brannte. Erhellte unseren Platz. Spendete uns Wärme. Doch leider nicht in unseren Herzen. Die Stimmung war bedrückt. Niemand sprach ein wirkliches Wort. Es war ruhig, nur Ab und Zu hörte man jemanden leise schluchzen. Der Verlust haftete schwer an jedem von uns. Manch einer hatte heute seinen besten Freund oder Geliebten verloren. Selbst Andrew und Leon waren still und wirkten betroffen. Wir waren schon längst keine zwei Gruppen mehr, die sich zusammen getan hatten. Nein, wir waren zu einer großen Gruppe, einer kleinen Familie verschmolzen. Und das war unsere Stärke. Doch leider auch unsere größte Schwäche.
Das letzte Loch war gegraben und nun war es an der Zeit den Geliebten die letzte Ehre zu erweisen und den Liebenden unsere Unterstützung zu geben.
Abschied nehmen hieß es.
Wir deckten die Leichen ein letztes Mal auf. Sprachen letzte Worte zu ihnen, sangen zu ihnen, berührten ein letztes Mal ihre kalten Körper.
Jeder Liebende nahm sich einen persönlichen Gegenstand aus dem Rucksack der Gefallenen und legte ihn auf den leblosen Körper. Ich ging ein paar Wildblumen pflücken und platzierte jeweils einen kleinen Strauß von ihnen zwischen die Hände der Geliebten. Ich faltete ihre Hände.
Nacheinander ging ich zu jeden von den 6. Und bei allen tat ich das selbe. Ich legte die Hand auf ihre Stirn, ein Finger auf ihr drittes Auge, der Punkt zwischen den Augen, der siebte Sinn. Ich sprach bei jedem die selben Worte. Ein Gebet für die gefallenen Krieger auf altnordisch. Ein Gebet damit sie heil in Valhalla ankommen werden. Das Reich der gefallenen Krieger. Ich hatte es von meinem Vater gelernt. Übersetzt heißt es soviel wie: "Du bist bereit für deinen Weg nach Valhalla. Dort triffst du deinen Vater, dort triffst du deine Mutter, deine Brüder und Schwestern, dort triffst du alljene Menschen deiner Ahnenreihe, von Beginn an. Sie rufen bereits nach dir, sie bitten dich, deinen Platz einzunehmen hinter den Toren von Valhalla, wo die tapferen Männer und Frauen für alle Ewigkeit leben." Ich verweilte noch ein Moment mit der Hand auf der Stirn und lies das Gebet ausklingen ehe ich weiterging.
Mittlerweile waren alle um die Löcher und die Leichen verteilt, sahen mir zu und lauschten dem Gebet, welches sie nicht verstanden, was aber trotzdem so schön klang.
Das letzte Gebet verstummte und ich richtete mich auf. Kaum jemand beherrschte noch diese alte Sprache und auch ich konnte nichts weiter als dieses Gebet, doch in diesem Moment wirkte es als wäre es meine Muttersprache. Ich konnte die komplizierten Laute noch nie so gut aussprechen wie heute.
Mit einem Nicken gab ich zu verstehen das ich fertig war und Bewegung kam in die Gruppe. Jeweils 2 Leute trugen einen gefallenen Krieger.
Langsam ließen wir sie in ihr Grab herunter. In ihre Ruhestätte, ihren Weg nach Valhalla.
Wir warfen ein paar letzte Blumen ins Grab und schaufelten die feuchte Erde zurück in das Loch, über die gefallenen Krieger.
Als wir fertig waren, fanden noch ein paar kleine Blumen ihren Weg auf die 6 Gräber.
Nun saßen wir alle um das wärmende Feuer. Niemand sprach. Jeder hing seinen Gedanken nach. Jeder war auf seine Weise für sich alleine. Alle, bis auf Daemon und ich.
Der Vorfall zwischen uns war erstmal vergessen. Ich brauchte ihn und er brauchte mich. Dicht an Dicht saßen wir am Feuer, den Rücken an den alten Baumstamm gelehnt. Er hatte einen Arm um meine Schultern gelegt, spendete mir zusätzliche Wärme und Trost.
Ich hatte meinen Kopf auf seiner Schulter gebettet, den Blick ins Feuer gerichtet.
Auch ich hing in meinen Gedanken fest, bei der Mythologie um Ikarus um genau zu sein. Ich fühlte mich, als würde ich selber diese Geschichte erleben. Deadalus und sein Sohn Ikarus gefangen in einem riesigen Labyrinth. Es gab keinen Ausweg für die beiden und so baute Deadalus ihm und seinem Sohn Flügel aus Wachs und Federn. Sie schienen tatsächlich aus dem Labyrinth entkommen zu können, doch Ikarus ignorierte die Warnung seines Vaters und kam der Sonne zu nahe. Seine Flügel schmolzen und er riss seinen Vater mit in den Tod.
Ich befürchtete uns würde es bald ähnlich gehen.
Etwas später in der Nacht waren wir alle erschöpft. Wir machten die Wachen für die Nacht aus, ich und Deamon würden die Letzte übernehmen. Wir schlugen alle unser Nachtlager auf und ziemlich schnell fand ich den Weg in den Schlaf, geplagt von Albträumen.
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Ein sehr trauriges Kapitel. Meint ihr Kylie gibt sich zurecht die Schuld?
Ich habe das Gefühl das sich mein Schreibstil jedes Kapitel verändert, findet ihr auch?
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