Kapitel 5
"Ria!", rief Lena von Weitem.
Sie sprintete vor und ich versuchte hinterher zu kommen. Das missglückte mir allerdings und ich bekam Schnee in meinen Schuh.
"Lena!", rief ich ihr hinterher, aber sie hörte nicht.
Als ich aufsah entdeckte ich sie schon vor Ria aufgeregt rumhüpfend.
"Lena! Ich hab Schnee im Schuh!", jammerte ich und verzog das Gesicht.
Meine Socke war jetzt schon durchgeweicht. Erst mein Nacken und jetzt mein Fuß.
Ich erreichte die beiden keuchend und knetete meine Hand, die eiskalt war, da ich zum Filmen meinen Handschuh ausgezogen und bis jetzt noch nicht wieder angezogen hatte.
"Ida, nicht so mies gelaunt, wir haben was gefunden!", versuchte Lena mich zu motivieren.
Ich musste mich zusammenreißen, ihr keinen Schnee in den Nacken zu stecken - wie sie es bei mir getan hatte - oder sie mit dem Gesicht zuerst in den Graben zu schubsen.
"Eine Hütte, also noch eine, aber diesmal eine richtig coole!", erklärte Lena Ria ihren Fund.
"Genau, eine, die zu 100 Prozent einsturzgefährdet ist und seit 200 Jahren nur noch von Asseln und Spinnen bewohnt wird."
"Lass uns bitte bitte nur näher gucken gehen!", flehte Lena Ria an.
"Lena, vergiss es, du kriegst mich da nicht hin."
"Ida, du?"
"Wir wollten zum Rodelberg und es wird in weniger als einer Stunde dunkel."
"Leute ihr seid so langweilig. Verdammt, einmal finden wir hier was richtig cooles, was vielleicht noch niemand vor uns entdeckt hat, und ihr kneift und scheißt euch in die Hose wie Erstklässler."
Beleidigt von der Abfuhr durchbohrte Lena uns mit ihrem wütenden Blick.
"Ihr könnt ja hier bleiben, aber ich werde da jetzt hingehen und Spaß haben."
Sie richtete ihren Schal und machte auf dem Absatz kehrt, ehe Ria oder ich sie noch aufhalten konnten.
"Das ist jetzt nicht ihr ernst, oder?", fragte Ria mich fassungslos.
"Lena! Komm wieder her!", brüllte ich ihr hinterher, aber sie ignorierte mich.
Ich ließ die Schultern hängen und drehte mich zu Ria.
"Ich laufe ihr nach?", stöhnte ich.
"Wäre lieb von dir", bedankte sich Ria und blickte mich mit ihrem zuckersüßesten Lächeln an.
"Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, rufst du die Polizei", scherzte ich und joggte Lena hinterher.
Diese war unterdessen im Wald verschwunden und mir blieb nichts anderes übrig, die Hütte aufzusuchen und zu hoffen, dass sie noch nicht rein gegangen ist.
Nach weniger als einer Minute hatte ich den Holzhaufen gefunden, doch von Lena war weit und breit keine Spur.
"Lena!", versuchte ich ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
"Es tut uns leid! Wir kommen morgen nochmal her, versprochen, und Ria kommt auch mit! Komm raus! Du hast uns schon einmal erschreckt, du hast gewonnen!"
Ich lief einmal um die Hütte herum, entdeckte aber weder Lena, noch irgendwelche Fußspuren oder sonstige Gegenstände, die sie verloren haben könnte.
Als ich zurück zum Eingang stiefelte, sah ich einen Schatten im Augenwinkel und drehte mich erschrocken um. Doch da war nichts. Kein Vogel, kein Reh, das sich verirrt hatte. Nichts.
Es war so still, dass es schon wieder fast verdächtig war.
Schluckend lief ich rückwärts zu der alten kleinen Tür, die mehr eine Luke war. Plötzlich stieß ich mit dem Rücken gegen etwas Hartes und schrie auf.
Voller Panik drehte ich mich um und stellte erleichtert fest, dass es nur ein Baum war.
"Meine Güte, Frieda, reiß dich verdammt nochmal zusammen", mahnte ich mich selbst.
Entschlossen stellte ich mich vor die kleine Tür und zog daran.
Abgeschlossen.
Das war von vorne rein klar, aber wo war Lena?
Auf einmal piepte mein Handy und ich zog es mit meiner halb abgestorbenen Hand aus der Tasche.
Eine SMS von mir selbst. Jetzt geht's also doch im Kopf los.
Nochmal.
Mehr stand da nicht. Was meinte ich, also der oder die oder wer auch immer das geschickt hat, damit?
Nochmal rufen? Nochmal erschrecken? Nochmal...an der Tür ziehen.
Seufzend schüttelte ich den Kopf. Jetzt ließ ich mich auf ein kindisches Spiel mit einem Hacker ein. Wieso sollte die Tür jetzt plötzlich aufgehen, wenn ich dran zog?
Zur Bestätigung, dass ich komplett bescheuert sein musste, zog ich an der Lukentür und - sie öffnete sich.
Erschrocken ließ ich sie wieder los und sie krachte zurück in ihre verrosteten Angeln.
Wie war das möglich? Sie war eben ganz sicher abgeschlossen, daran gab es kein Zweifel.
Schwer atmend zog ich noch einmal daran und quietschend lehnte sie sich das letzte Stück von selbst an den Anschlag.
"Lena?", wisperte ich in das Dunkle.
Ich wusste nicht, ob es runter oder geradeaus ging, so stockduster war es.
"Lena!", wiederholte ich ein wenig lauter.
Mit schnellen und kurzen Atemzügen machte ich auf meinem Handy die Taschenlampe an und leuchtete in das Dunkle.
Nichts. Nur ein kleines Erdloch. Natürlich nichts. Was sollte dort auch schon großes sein?
Irgendjemand erlaubt sich einen gewaltigen Scherz mit mir, den ich ab jetzt nicht mehr mitspielen würde.
Ich klappte die Tür wieder zu und sie schloss sich langsam und quietschend.
"Okay!", rief ich in meiner Drehung.
"Ihr könnt alle rauskommen, Lena, die Kameras, ich wurde geprankt und hatte zugegeben echt Angst, aber jetzt habt ihr gewonnen."
Niemand reagierte. Wollten sie mich weiter quälen? Waren sie noch nicht fertig? Wo war Lena?
Zitternd vor Kälte und zugegeben auch vor Angst schaltete ich die Taschenlampe aus und es wurde sofort dunkel um mich. Die Sonne verabschiedete sich langsam und durch die dichten Bäume war es schon fast ganz dunkel.
Ich beschloss Ria anzurufen, da die abgesprochenen zehn Minuten jetzt fast um waren.
Ich drückte auf ihre Nummer, doch ich bekam noch nicht einmal das Profil zu sehen.
Kein Netz stand auf dem Display und am liebsten hätte ich mein Handy in den Schnee gepfeffert.
Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken, und es war sicherlich nicht der Schnee von vorhin. Auch weniger die Tatsache, dass ich jetzt wieder ohne Lena zurück müsste. Eher, dass ich kein Netz, aber vorhin trotzdem die SMS empfangen haben.
Ich redete mir ein, dass ich da noch Netz gehabt haben musste, Lena bestimmt schon längst wieder bei Ria auf mich wartete und sich den Arsch ablachte.
Weiterhin hielt ich alles für einen Spaß, bis ich hinter mir ein Quietschen hörte. Aber nicht irgendein Quietschen, sondern das Quietschen der Tür.
Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich um und starrte, unfähig mich zu bewegen, auf die offene Luke.
Sie stand offen. Offen, bis zum Anschlag und niemand war weit und breit zu sehen. Der Wind hätte diese schwere Holztür niemals hochwehen können.
Ich stieß die Luft aus, versuchte mich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt wurde mir das wirklich alles zu gruselig.
Keuchend entschloss ich mich nun wirklich zurück zu Ria und Lena zu rennen. Ich taumelte ein paar Schritte zurück, bis ich abrupt erneut in etwas hinein stieß.
Und mir wurde eins klar, als ich bemerkte, dass es kein Baum war, sondern etwas Weiches, dies aber zugleich ungalublich kalt war und dazu auch noch atmete:
Das hier war kein Spaß mehr.
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