Kapitel 2 || Tell Me Your Story
Danke fürs Lesen und Voten! ♥♥
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Ms Cavender schien heute auch nicht mehr bei der Sache zu sein als sonst. Sie war eine leicht verwirrte Brünette mit einem bezaubernden Lächeln, aber ich fragte mich immer wieder aufs Neue, wie sie ihre Zulassung bekommen und den Abschluss hingekriegt hatte. Trotzdem mochte ich sie irgendwie, weil sie - im Gegensatz zu den anderen Professoren - reichlich wenig Druck ausübte und ich mich immer wunderbar entspannen konnte.
Außer heute.
Der Gedanke an Nick und sein Lächeln ließen mich irgendwie nicht mehr los.
Obwohl ich ihn erst seit so kurzer Zeit kannte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ihn schon einmal getroffen hatte.
Aber was mich viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass er an mir interessiert zu sein schien. Und ich ja auch an ihm.
Wo sollte das bloß wieder hinführen?
Ich kaute nervös am Ende meines Kugelschreibers herum und schielte immer wieder unauffällig zu Nick hinüber. Bemüht versuchte ich, ein Grinsen zu unterdrücken.
Zwar wirkte er extrem konzentriert mit den ernst zusammengekniffenen Augenbrauen, aber wenn man genauer hinsah, starrte er eigentlich nur auf die Uhr, die direkt über der monströsen grünen Tafel hing. Der Sekundenzeiger kroch elendslangsam voran, sodass ich mich auf meiner Handyuhr immer wieder vergewisserte, dass sie nicht rückwärts lief.
Seufzend lehnte ich mich zurück und ließ die restlichen 75 Minuten über mich ergehen.
*-*-*-*
"Na, hast du mich schon vermisst?"
Ich drängelte mich an den anderen Eiligen vorbei durch die linke Saaltür und stolperte Nick in die Arme, kaum hatte ich einen Fuß in die wohlverdiente Freiheit gesetzt.
"Mehr als mir lieb ist", murmelte ich so leise, dass er mich nicht verstand.
"Wie war das?"
"Nichts! Ich meinte nur, dass es sich heute fürchterlich gezogen hat."
"Heute? Ist das bei dir nicht immer so?", lachte er, während wir den Flur entlang und einige Treppen hinunterliefen, bis wir endlich an der frischen Luft waren.
Ich sog Londons Atmosphäre tief in mich ein, bis ich die stickige Luft des Auditoriums sorgfältig aus meinem Hirn vertrieben hatte.
"Eine Frage, warum studierst du englische Literatur, wenn du kein bisschen daran interessiert bist?" Ich schüttelte merklich skeptisch den Kopf.
"Eigentlich will ich ja was ganz anderes machen. Also hab ich das nächstbeste Fach genommen, das nicht zu überlaufen war."
Da musste man ihm recht geben. Unser Fach war wahrscheinlich ähnlich ausgestorben wie die Dinosaurier.
"Und was willst du später machen?"
Mittlerweile hatten wir die Hauptstraße überquert und spazierten nun gemächlich Richtung Stadtzentrum, wo sich die Starbucks Stores einer nach dem anderen aneinanderreihten. Ich hakte mich bei Nick unter und sah ihn neugierig an.
"Das" - er hob den Zeigefinger seiner Hand - "ist die Frage. Ich find's sinnvoller, mal ein Jahr drüber nachzudenken und was zu probieren, als nach zehn Jahren draufzukommen, dass man eigentlich den völlig falschen Weg eingeschlagen hat."
"Ganz meine Meinung", erwiderte ich und knuffte Nick freundschaftlich in die Seite, woraufhin er begann, mich zu kitzeln. Ich begann, haltlos zu kichern, bis die Leute ringsum uns seltsam anstarrten und meine Wangen ganz nass vor lauter Lachtränen waren.
"Ich glaub, dein Benehmen ziemt sich nicht ganz für die Allgemeinheit", sagte er dann schließlich und ließ mich los, damit ich mich von seiner Attacke erholen konnte.
Mein Bauch schmerzte, als hätte ich mindestens fünfzig Sit-ups gemacht. "Wenn du mich auch so unziemlich behandelst!", rief ich empört aus und streckte ihm die Zunge raus.
Wir standen jetzt vor meinem liebsten Starbucks, der ein bisschen abgelegener in einer Seitenstraße lag. Ich sah durch die riesigen Fensterscheiben, dass die Plätze in den bequemen Armsesseln noch frei waren, und zog an Nicks Arm, damit wir endlich reingehen konnten, aber er hielt mich zurück und wirbelte mich herum.
Plötzlich waren wir uns näher, als mein kleines Herz ertrug. Es flatterte wie ein Kolibri in meiner Brust, während die Berührung seiner Hände auf meinen Schultern selbst durch den warmen Wintermantel hindurch ein wohliges Schaudern auslöste.
"So kannst du da nicht reingehen", raunte er sanft und fuhr vorsichtig mit beiden Daumen unter meinen Augen entlang, um die nasse Beweisspur seiner Gräueltat fortzuwischen.
Sorgfältig mied er meinen Blick, während ich fasziniert seine dichten, schwarzen Wimpern anstarrte. Dann, als ich beinahe schon kollabierte, sah er mich endlich an.
Für den Bruchteil einer Sekunde sagten wir beide gar nichts, aber ich spürte, dass ich nicht die Einzige war, die im Winter schon an Frühlingsgefühlen litt.
Zu unserem Pech - oder Glück - kam in diesem Moment ein Radfahrer klingelnd an uns vorbei und ich zog Nick geistesgegenwärtig aus seiner Spur in der kleinen Gasse, damit niemand von uns dreien Bekanntschaft mit der Backsteinmauer machen musste.
"Du bist unmöglich", lachte Nick und schüttelte den Kopf. Ich meinte, eine Spur der Enttäuschung in seiner Stimme zu hören, aber aus Erfahrung wusste ich, dass "Hard to Get" bei vielen Männern die beliebteste Spielvariante war.
"Nichts ist unmöglich", orakelte ich vollkommen aus dem Kontext, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
Manchmal war ich schon verdammt peinlich. Es war ein Wunder, dass ich noch nicht in diversen Situation an zu hohem Peinlichkeitsgrad gestorben war.
*-*-*
"Erzähl mir was von dir. Familie, Freunde, dein Leben."
Ich sah Nick über den Rand meines Bechers mit heißer Schokolade an und überlegte laut: "Hmm.. Was kann dich da interessieren.."
Außer deiner extravaganten Freizeitaktivität.
"Alles. Ich hör mir meinetwegen auch Geschichten über deine verunglückten Goldfische an", grinste Nick und trank einen Schluck Kaffee.
"Hamster", verbesserte ich und schlug die Augen nieder, um seinem Blick à la 'Was hast du getan?!' zu entgehen.
"Ich mochte früher Modellflugzeuge sehr gern. Und mehr muss ich glaub ich nicht sagen. Meine Schwester war viel betrübter über sein.. äh.. tragisches Ableben, während ich nur gemeint hab, dass er wahrscheinlich den Trip seines Lebens hatte."
"Okay", sagte er gedehnt und im nächsten Atemzug: "Du hast Geschwister?"
"Ja, meine kleine Schwester Charlotte. Sie ist neun und Gott sei Dank extrem brav. Ihretwegen brauch ich nie einen Wecker." Nick lächelte mich an und ich erwiderte es mit einem ebenso warmen Blick aus meinen Augen.
"Sie scheint dir sehr wichtig zu sein", stellte er fest und beobachtete, wie ich mich gerade aufsetzte, weil ich mir keinen runden Rücken angewöhnen wollte.
"Mehr als alles andere." Der Ernst in meinen Worten schien ihn aufhorchen zu lassen, aber er merkte, dass ich nicht näher darauf eingehen wollte. Taktvoll nickte er und erzählte dann von seiner eigenen Familie.
Seine Mum hatte eine Schwäche für antikes Teegeschirr ("Bah, ich hasse Tee, den musste ich als kleiner Junge immer trinken. Kaffee ist sowas wie mein Protestakt."), sein Vater war Mitarbeiter in einer großen Gärtnerei in Irland und sein Zwillingsbruder schien ihm ziemlich nahe zu stehen.
Ich verlor mich vollkommen in seiner Betrachtung, während er mit vor Freude strahlenden Augen alte Geschichten aus seiner Kindheit erzählte, in denen er oft die Verwechslungsnummer mit seinem Bruder angewandt hatte.
"Einmal haben wir uns heimlich Geld damit verdient, indem einer von uns Leute auf der Straße zu einer Wette überredet hat. 'Wetten wir, dass ich in zehn Sekunden auf dem Dach dieses Hauses sein kann?' Und ich war meistens derjenige, der dann schon auf dem Dach wartete und den verdutzten Zuschauern gewunken hat."
"Hat euch niemand erwischt?", fragte ich erstaunt und schlug die Beine übereinander, weil ich ein bisschen fror bei der kalten Luft, die die Kunden von draußen immer beim Reinkommen mitbrachten.
"Letztlich nur unser Dad. Er sagte, dass es unehrlich wäre, mit sowas Geld zu verdienen.. Daraufhin haben wir die Streiche dann gelassen. Also, ich zumindest." Nick seufzte und schien zu wissen, welche Frage mir auf der Zunge lag.
"Wieso, was war mit deinem Bruder?"
"Das weiß ich nicht so genau. Aus seinen Spielchen wurde dann Ernst. Er ist irgendwann auf die schiefe Bahn geraten und ist eine Zeit lang mit einigen ziemlich üblen Typen aus der Stadt bei Kleinhändlern eingebrochen."
"Woah." Schockiert saß ich da und kam mir plötzlich unendlich klein mit meinen eigenen Familienproblemen vor. Bei uns war zumindest nichts Illegales im Spiel, und das war etwas, worauf ich immer stolz gewesen war.
Für eine Minute lang sagte niemand von uns etwas. Lediglich die Kaffeemaschinen und das Geplauder der anderen Gäste rundherum sorgten für ein bisschen Lärm.
"Was macht er jetzt?", traute ich mich schließlich doch zu fragen, neugierig, wie ich war.
Nick zuckte mit den Schultern und seine Mundwinkel bogen sich ganz leicht nach unten. "Das letzte Mal, dass ich von ihm gehört hab, war vor einem Jahr. Er hinterließ uns einen Brief, in dem er meinte, er müsste sich um einige Dinge kümmern und dass er sich melden würde. Da hab ich beschlossen, nach London zu ziehen, weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten hab."
"Aber du bist erst dieses Semester eingestiegen..."
"... weil ich mal auf die Beine kommen und ein bisschen arbeiten wollte."
"Achso." Ich sah zur Seite und fühlte mich unwohl, so tiefe Einblick in seine familiäre Situation erhalten zu haben. Er schien ein sehr vertrauensvoller Mensch zu sein, wenn er mir das alles jetzt schon erzählte.
"Du.. Ich wollte dir nicht zu nahe treten, es geht mich ja eigentlich auch nichts an und -"
"Nein, Lina, das ist okay, wirklich. Ich glaub, es hat mir auch gut getan, das mal erzählen zu können." Ich blickte zu ihm hinüber und las aus seinen dunkelgrünen Augen, dass er es ernst meinte.
"Komm mal her", sagte ich mit einer Mischung aus Mitleid und Kuschelbedürftigkeit und zog Nick zu mir auf den riesigen, bequemen Armsessel, der schon fast als kleine Couch durchging.
"Hey", erwiderte er überrascht und sah mich überrumpelt an. "Es ist alles gut, ja? Mir gehts gut. Aber du scheinst etwas.. ähm.. fertig zu sein", stellte er fest und zog mich in eine feste Umarmung. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mir stumm die Tränen über die Wangen liefen.
"Fuck, wo kommen die auf einmal her", flüsterte ich erstickt und wollte mich losmachen, um nach einer Serviette zum Abwischen zu suchen, aber Nick ließ mich nicht los.
"Keine Chance. Du bleibst jetzt erstmal hier und erzählst mir, was los ist." Seine Stimme war irgendwo ganz dicht über meinem Ohr und ich zwang mit zitternd dazu, mich zu entspannen, um seine Nähe zu erwidern.
Und so kam es, dass ich ihm während der längsten Umarmung meines Lebens flüsternd, lachend und weinend meine Geschichte erzählte.
Dass ich immer allein war, weil meine Mutter - die keine Ausbildung und keinen Abschluss hatte - unseren Lebensunterhalt sichern musste. Dass Charles für uns ein wahrer Schock war und wir keine Ahnung hatten, wie wir uns finanzieren sollten. Dass weder meine Schwester noch ich wussten, wer unser Vater war - aber keinesfalls derselbe, nach Mums Aussage. Dass ich lediglich ein Foto besaß, dass ich meiner Mutter einmal entwendet hatte, weil sie diesen Mann immer als meinen Papa bezeichnet hatte. Und dass ich heute ebendiesen Mann getroffen hatte.
"So langsam glaube ich überhaupt nicht mehr, dass es überhaupt mein Vater ist. Vielleicht hat meine Mutter gelogen. Aber er war der Typ von dem Foto, ganz eindeutig."
"So ein Arsch", war das Einzige, was Nick herausbrachte, und obwohl ich nicht wusste, worauf er sich bezog, spürte ich, dass er auf meiner Seite war und mich verstand. Und das war mir unendlich wichtig.
"Ich bin bis jetzt gut ohne ihn zurecht gekommen, vielleicht war es sogar gut, dass ich ihn einmal gesehen habe. Er ist ein Idiot."
"Eindeutig. Kein Vater würde so ein Mädchen wie dich als Tochter verleugnen."
Ich schniefte ein letztes Mal und murmelte dann heiser: "Danke, Nick. Wirklich."
Nur widerstrebend ließ er mich los. Er sah mir prüfend in die Augen und strich mir ein paar Haare aus dem Gesicht. "Du bist stark. Vergiss das nicht."
Ich sagte nichts und drückte nur seine Hand. "Wir finden deinen Bruder. Mach dir keinen Kopf." Sein tieftrauriger Blick sagte mir, dass ich voll ins Schwarze getroffen hatte.
"Ach du Scheiße, wir müssen los!", platzte ich plötzlich heraus, als ich kurz auf die Uhr gesehen hatte. Nick bewegte sich keinen Millimeter, während ich hastig meine Sachen zusammensuchte und in meinen Mantel schlüpfte.
Als ich aufsprang und zur Tür hastete, die Jacke nur halb angezogen, den Schal flüchtig um den Hals gewickelt und die Beanie-Mütze schief auf dem Kopf, sah ich Nick entgeistert an.
"Worauf wartest du denn?", fragte ich verständnislos und kämpfte mit meiner Umhängetasche, die mir immer wieder von der Schulter rutschte.
Nick schenkte mir ein überlegenes Lächeln, trank in einigen Zügen seinen Becher aus und erhob sich dann gemächlich.
"It's better to arrive late than to arrive ugly", zitierte er meinen derzeitigen WhatsApp-Status (so ein mieser Stalker!!) und trat dann aus dem Café, während ich kopfschüttelnd die Augen verdrehte.
So ein Spinner.
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Ein nicht so wahnsinnig spannendes Kapitel, mehr so zum Erklären, aber es wird noch ;)
-metacarpal
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