~• Kapitel 7 •~
SAYANA
Es schmerzte. Wie verrückt. In meinem Innern. Meinem Herzen.
Es fühlte sich an, wie ein Loch in meiner Brust. Ein blutendes Nichts.
Ich hatte ihm meinen Dank erwiesen. Hatte ihm die Kette geschenkt und mit ihm einen schönen Tag verbracht. Aber ich tat etwas unverzeihliches.
Ich hatte ihn verlassen. Ohne mich zu verabschieden. War vor der Morgenröte aufgestanden, hatte meine Sachen gepackt und alles hinter mir gelassen. Hatte ihn hinter mir gelassen. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber vielleicht hatte ich es aus Angst vor dem Abschied getan. Angst davor, ich könnte es mir dann doch noch anders überlegen.
Das Beste. Es war das Beste. Es musste das Beste sein, so zu handeln. Für mich wie für ihn. Jedenfalls versuchte ich mir das einzureden. So schmerzhaft es auch war, ich musste ihn vergessen.
Wieso vermisste ich ihn jetzt? Warum fühlte sich meine Brust zusammengezogen und schmerzend an? Als würde mir etwas fehlen. Etwas, dass er mir gegeben hatte.
Glück?
Freude?
Liebe?
Hoffnung?
Das Leben?
Ich wusste nicht was es war, denn es fühlte sich an wie alles. Er hatte mir Glück, Freude, Liebe, Hoffnung und ja, mein Leben zurüchgegeben. Alles Gefühle, von welchen ich glaubte, sie für immer verloren zu haben. Verschüttet in meiner Vergangenheit. Einen Moment lang, nur einen Moment waren sie wieder da. Und dann...
Ich stützte mich stöhnend gegen einen gross gewachsenen Baum. Ich hatte mich nicht getraut, seine Kleider mitzunehmen. Aus Angst, sie würden mich zu sehr an ihn erinnern. An die schönen Stunden mit ihm.
Ich schüttelte den Kopf. Ich war schweissnass. Der rote Rock klebte nass an meinem Körper. Wie eine zweite Haut. Wenigstens gab mir die Kälte, des darin aufgesogenen Flusswassers, etwas von seiner erfrischenden Kälte ab.
Bevor ich weiterzog hatte ich den blauen Rock, den ich eigentlich verabscheute in dem nächsten Bach gewaschen.
Ich atmete einige Male durch und stiess mich schliesslich von dem Baum ab. Mein Bauch knurrte verräterisch.
Ich hätte bleiben sollen, mit ihm frühstücken und dann weiterziehen sollen. Er würde es bestimmt verstehen. Vielleicht wäre er sogar froh gewesen, mich loszuwerden. Ich hoffte es nur. Dass er mir jetzt nicht unendlich böse war.
Jedenfalls musste ich mir jetzt selbst etwas zu Essen besorgen. Ich hatte ihn nur unnötig in Gefahr gebracht, mit jeder Minute, die ich bei ihm verbrachte.
Ich nahm den Bogen von meiner Schulter und spannte einen Pfeil in die Sehne. Vorsichtig. Ich war ein Raubtier. Mit schleichenden Schritten glitt ich über den feuchten Waldboden. Ich war ein gefährliches Raubtier. Vielleicht ein Wolf oder ein Adler, der seine Beute überraschen würde.
Plötzlich nahm ich ein anderes Geräusch wahr. Ein Geräusch, dass nicht vom Wald stammen konnte. Keine zwitschernden Vögel. Kein zwischen den Blättern säuselnder Wind. Kein blöckendes Reh. Auch sonst kein Tier...
Menschliche Rufe.
Laut und deutlich durch den Wald dringend.
Meine Muskeln verspannten sich ruckartig. Erinnerungen blitzten in mir auf. Schlamm. Bösartige, befehlerische Rufe. Schmerz. Ich erinnerte mich, als würde ich das Grauen genau in diesem Moment durchleben. Mein Atem ging stockweise. Es mussten Shawn's Leute, wenn nicht sogar er selbst sein. Wer sonst sollte hier durch den Wald streifen?
Verstecken. Verstecken. Verstecken.
Ich musste mich verstecken!
Wenn sie mich jetzt, bei grellem Tageslicht finden würden, würde es nicht gut mit mir enden. Vorgestern entkam ich ihnen knapp. Diesmal würde ich ihnen ebenfalls nicht in die Arme laufen. Ich war gestärkt. Trug neue Hoffnung in mir und diesen Gewissen Kampfgeist.
Mein Blick schweiffte durch die unebene Landschaft. Bäume. Büsche. Erde. Sonst gab es nichts in meinem Blickfeld. Die Stimmen kamen aus dem Süden, ich setzte mich also sofort nach Norden in Bewegung.
Es mussten Shawn's Leute sein. Shawn's beste Jäger. Auf der Jagd nach mir. Ein Fauchen drang durch meiner Kehle. Verärgert und rachedurtstig. Einestages würde ich ihm höchstpersönlich die Kehle durchschneiden. Mich an seinem Schmerz ergötzen. Nein, kein schneller Tod. Ich würde ihn quälen. Ihn meinen Schmerz durchstehen lassen. Was er mir angetan hatte, meiner Familie, war einfach unverzeihlich. Sein körperlicher Schmerz würde nur ein kleiner Teil meines körperlichen Schmerzes sein. Egal was ich mit ihm anstellen würde. Er musste dafür brennen!
In mörderischen Gedanken versunken hatten mich meine Beine in eine kleine Schlucht geführt. Links und rechts davon stiegen gigantische, steinerne Felswände in schier unendliche Höhen. Diese bieteten mir Schutz. Waren aber auch eine gefährliche, heimtükische Falle. Immer tiefer hinein schlich ich in die Schlucht. Den Bogen fest umklammert. Kleine Rinnsale Wasser gruben sich ihren Weg an den steilen Wänden herab. Das leise, tropfende Geräusch hallte an den üppigen, anderen Wänden. Ein dunkles Gewölk schob sich vor die erst gerade aufgegangene Sonne. Eine kalte Brise wehte mir aus der Schlucht entgegen, als die Welt in Schatten gehüllt wurde. Die Wärme schwand aus meinem Körper. Trotz der plötzlichen Dunkelheit die mich jetzt umgab, empfand ich keine Angst. Ich würde mich an diesen schrecklichen Menschen rächen. Irgendeinmal. Das stand fest. Ein mörderisches Lächeln umspielte meine Lippen.
Dies hier war der perfekte Ort für eine Falle. Aber nicht eine Falle, die sie mir stellen würden. Sondern ich ihnen.
Ich hatte gelernt, nicht von der Gefahr davon zu laufen, sondern ihr ins Gesicht zu blicken und sie zu überlisten. Wie ein schlauer Fuchs. Mir wurde bewusst, wie ich versagt hatte. Ich war wie ein verletztes Reh abgehauen und hatte mich versteckt. Die Jagd eröffnet. Das musste sich ändern. Sofort. Ich wollte nicht mehr die Beute sein. Sondern der Jäger
Den Bogen schwang ich mir wieder über die Schulter und dann rannte ich zu der linken Wand hin. Ich blickte nach Oben und wurde sofort von der grellen Sonne geblendet. An der Klippe ob mir lagen einige Büsche, hinter welchen ich mich verstecken würde. Also machte ich mich an den Aufstieg. Fest packte ich mit meinen Händen die felsige Wand und zog mich daran hoch. Mit meinen Beinen stiess ich mich ab. Ich musste nur darauf hoffen, dass die zum Teil losen Felsbrocken nicht unter meinem Gewicht nachgaben. Zum Glück war noch etwas Nässe von dem Schauer gestern an den Steinen zurückgeblieben und ich rutschte nicht andauernd ab.
Flink wie eine Spinne krabelte ich immer weiter, die Verfolger kamen näher. Plötzlich rutschte ein Stein unter meinem rechten Fuss weg und ich verlor das Gleichgewicht. Beinahe wäre mir ein heiserer Schrei entdrungen. In letzter Sekunde konnte ich mich jedoch festkrallen und mein Gleichgewicht wiedererlangen.
Mit einem gewagten Schwung zog ich mich über die Kante und war in Sicherheit. Ein - zwei weitere Sekunden blieb ich schwer atmend auf dem Boden liegen. Dann zog ich mich hinter einen der Büsche zurück.
Ich könnte den sicheren Weg gehen und mich einfach verstecken. Aber der Durst nach Rache wurde unerträglich.
Erneut nahm ich den Bogen zur Hand. Vom Boden nahm ich einen kleinen Stein auf und schleuderte ihn zurück in die geraume Tiefe der Schlucht. Die Sonne brach zwischen der Wolkendecke hindurch und ich fing an zu schwitzen.
"Psst! Männer dort hinten..." Hörte ich eine vertraute Stimme flüstern. Sie waren auf meine Falle hereingefallen.
Fünf Männer. Und Shawn. Also waren es im gesamten Sechs. Rasien war nicht dabei. Die Fünf musste ich mit meinem Pfeilregen niederstrecken. Shawn würde ich mir höchstpersönlich vorknüpfen, nachdem die Anderen tot waren. Ein Duett. Zwischen ihm und mir.
Natürlich wären mehr Hände jetzt nützlich, aber ich konnte das auch alleine schaffen. Sie kamen näher, immer näher.
Wanderten geradewegs in ihren Tod.
Eins. Zwei. Drei. Schuss.
Der Erste sitzte. Einem kleineren, hageren Mann direkt durch den Hals. Er fiel tot um.
Die Anderen Packten ihre Waffen und sahen sich verwirrt um. Shawn erteilte bällend Befehle.
Ehe sie mich erblickten hatte ich einem grossen, muskulösen Mann direkt in die Brust geschossen. Er stolperte zurück und landete ebenfalls tot am Boden.
"Du... Du kleines Miststück!" Rief Shawn in eine föllig falsche Richtung.
"Wo steckst du? Ach komm schon... Willst du uns alle mit deinem Bogen abknallen?" Er schnaubte verärgert.
Ja, wollte ich. Jedenfalls fast alle.
Der dritte, so wie der vierte Schuss verfehlte sein Ziel nicht. Noch eine Person...
Da erblickten sie mich.
"Da!" Rief der unbekannte Jäger. Ich sprang von meinem Versteck auf und stürzte hinunter. Rutschte die steile Felswand hinunter, die ich vorhin erklommen hatte. Der Typ warf ein Messer nach mir, dass ich etwas zu spät kommen sah. Es streifte mein rechtes Bein. Bei einem Kampf mit Alexander wäre es jetzt ausgeglichen. Beide hinkend an einem Bein. Ich fragte mich, warum Alex hinkte. Sofort musste ich meine Gedanken an ihn verdrängen, ihn vergessen. Ich ignorierte den Schmerz und stürmte auf den Jäger zu. Mir blieb die Zeit nicht, den Pfeil an die Sehne zu legen, also duckte ich mich unter seinem nächsten Messerstich weg und rammte ihm den Pfeil in seine empfindlichsten Stelle. Ehe er erneut zuschlagen konnte, war er verblutet.
Dann blieben nur noch Shawn und ich.
Ich würde meine Rache volbringen.
Da stand er also. Taxierte mich mit diesem dunklen Blick, den er mir so oft zuvor geschenkt hatte. Ein Lächeln entblößte seine blank weissen Zähne. Ein Lächeln, dass seine dunkelbraunen Augen nicht erreichte.
"Sayana, Sayana, Sayana... Gute Arbeit." Er applaudierte gespielt in die Stille hinein, die uns jetzt umgab.
"Schön dich wiederzusehen."
"Die Freude ist ganz auf meiner Seite." Ich fauchte die Worte gereizt. In langen, sicheren Schritten zog ich Kreise um ihn. Dabei betrachtet ich ihn ungeniert von oben bis unten. Er war gar nicht so hässlich. Nein er war sogar schön. Muskulös gebaut. Braun gebrannt. Tief schwarzes Haar. Dunkelbraune, düstere Augen. Lange Wimpern. Buschige Augenbrauen. Voll gepackt mit Waffen. Aber sein Inneres war so schrecklich, wie ein sternernenloser Nachthimmel. Es kümmerte ihn nicht, mir den Rücken zu kehren. Aus meinem Gurt zog ich eine lange, glänzend scharfe Klinge.
"Dachte ich es mir doch, dass du es so einfach mit meinen Männern aufnimmst. Ich habe dich nicht unterschätzt, ich wusste, worauf das hinaus laufen würde." Säuselte er und zog ebenfalls eine Waffe. Ein kleines Messer, aber denoch nicht weniger tödlich als meine.
"Dafür wirst du brennen, das weisst du. Für alles, was du mir angetan hast!"
"Du wirst mir nichts tun..."
"Warum so selbstsicher?" Ich musste meine Wut zurückhalten, um ihn nicht gleich in tausend Stücke zu reissen. Das Messer glänzte verführerisch in meiner Hand.
"Ich habe etwas, dass du willst."
"Ach ja? Ich habe alles verloren, es gibt nichts mehr, dass mir am Herzen liegen würde." Eine Lüge. Eine Lüge, wie ich sie Alex aufgetischt hatte. Aber diese Lüge galt zu seiner Sicherheit. Er lag mir am Herzen. Aber das würde Shawn nie erfahren.
Ein lautes, hämmisches Lachen brach aus seinem Innern. Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun.
"Wirklich? Dann liegt dir das hier, oder besser gesagt ER auch nicht am Herzen?"
Aus seiner Hosentasche zog er eine Kette. Nicht irgendein Schmuckstück. Eine silberne Kette mit einem Ring daran.
Meine.
Die ich Alexander geschenkt hatte.
"Keine Sorge. Er ist in Sicherheit. Bei Rasien." Mein Herz blieb stehen.
"Er wird ihm nichts tun. Nicht, wenn ich unversehrt zurückkomme und du ohne Wiederstrebung mit mir kommst. Sonst... "
"Nein! Nein... Ich komme mit." Meine Beine drohten unter mir nachzugeben. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Aber ich liess sie nicht heraus. Wollte ihm meine Schwäche für Alex nicht offenbaren.
"Ahh... Was höre ich da. Musik für meine Ohren."
"Du! Du bist ein feiges Arschloch!" Mit voller Wucht stiess ich mit beiden Händen gegen seine Brust. Er taumelte einige Schritte zurück, liess sich aber nicht ablenken.
"Du wirst jetzt mit mir kommen."
Ich konnte nichts dagegen tun. Ich musste mit ihm gehen, konnte meine Rachedürste nicht stillen. Musste alles tun, was er mir befahl. Sonst... Er war bei Rasien, Shawn's bestem Krieger. Er hätte keine Chance gegen ihn. Rasien würde ihn im Handumdrehen töten.
"Lass uns gehen." Ein mörderisches, selbstzufriedenes Grinsen lag auf seinem Gesicht und ich würde alles tun, damit er diesen Kampf nicht gewann. Damit er ihn schrecklich verlor. Damit Alexander hier nicht miteinbezogen wurde.
Also marschierten wir los. Ich musste geduldig sein. Den richtigen Moment abwarten. Und dann würde ich zuschlagen wie ein Falle. Ein Raubtier. Ich war ein Raubtier. Shawn meine Beute. An diesem Gedanken hielt ich die ganze Reise über fest.
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