~• Kapitel 6 •~

ALEXANDER

Die Sternen funkelten über uns am schwarzen Zelt der Nacht. Die Dunkelheit könnte einem erdrücken, wären da nicht diese leuchtenden Punkte. Überall. Kleine. Grosse. Helle. Dunkle.
Der Mond erleuchtete langsam die Welt. Den Wald hinter uns. Den glitzernden Wasserfall. Die Wiese, auf welcher wir lagen. Lylas hübsches Gesicht. Ich drehte meinen Kopf in ihre Richtung und betrachtete ihr Profil. Sie beobachtete mit glänzenden Augen die Weiten des Universums, dass sich über uns befand. Und ein Gedanke schlich sich unter die Anderen. In dieser auch so kurzen Zeit kamen wir uns ziemlich nahe. Wir kannten uns kaum, was aber kein Grund war, keinen Spass haben zu können. Wir brauchten uns in diesem Moment. Diesen paar Stunden. Ich brauchte sie, um aus meiner Einsamkeit auszubrechen. Mit jemandem Reden zu können. Und sie, sie brauchte mich, um ihre Vergangenheit zu vergessen. Ich wusst nichts darüber, aber wir kannten uns zu wenig, als ob sie mir alles anvertraut hätte. Ich wusste nur, dass, was sie erlebt hatte schrecklich sein musste. Nicht einmal nach meiner vorsichtigen Erkundigung vorhin antwortete sie mir. Sie bestaunte nur musternd den Himmel.
Mein Ziel war es, ihr einen solchen Tag zu zeigen. Einen Tag ohne Sorgen. Ohne Probleme. Wie ihn normale Menschen leben würden. Einen perfekten Tag. Ich hoffte tief in meinem Innern, dass es mir gelungen war. Hoffte, dass ich mein Ziel erreicht hatte auch wenn ich vorhin nicht daran geglaubt hatte. Als sie sich ängstlich an meine Schulter klammerte, als ich sie aus dem Wasser trug, wirkte sie so... Verloren.
Und vielleicht war sie das auch. Für immer. Gefangen in dem, was sie einmal war.

Plötzlich drehte sie auch ihr Gesicht in meine Richtung und erkannte, dass ich sie beobachtete. Ich liess mich dadurch aber nicht in Verlegenheit bringen.
Ihre Backen glänzten feucht. Waren mit einer nassen Schicht überzogen. In ihren durchnässten Augen spiegelte sich der strahlende Nachthimmel.
Sie weinte.
Weinte bittelich.
Sah mich mit diesem flehenden, todunglücklichen Blick an.
Ich wartete nicht auf eine Einladung. Tröstend legte ich meine warme Hand an ihre Wange. Wischte mit dem Daumen die Tränen fort. Strich sanft über ihr Kinn. Sie schluchzte leicht unter der Berührung. Ihr Gesicht war eisig kalt.
"Psssst... Alles wird wieder gut." flüsterte ich in dem Rauschen des Baches.
Wir setzten uns beide auf und ich nahm sie in die Arme. Ihr ganzer Körper war abgekühlt und durch die Umklammerung schien ich meine Wärme auf sie zu übertragen. Mit den Händen klammerte sie sich an mich. Ich trug noch immer kein Oberteil und es kitztelte leicht an der nackten Haut.
"Ich - Ich möchte dir alles erzählen... Aber... Aber ich kann nicht."
"Hei, ich verstehe es, verstanden." Wieder nahm ich ihr Kinn in eine sanfte Umklammerung und hob es leicht an, damit sie mir in die Augen blickte. Sie waren kaum noch nass.
Da ertönte in der Nähe ein lautes Grollen. Ein Donner hallte über uns hinweg. Ein kurzer, aber heftiger Windstoss, schoss mir einen Schauer über den Rücken. Der Sturm. Der Sturm, vor welchem ich Sayana gewarnt hatte. Wie konnte ich es nur vergessen?
Ein erneuter Blitz suchte die Dunkelheit heim.
"Wir müssen schleunigst von hier verschwinden... Bei Gewittern sollte man sich hier besser nicht aufhalten." Mit diesen Worten stand ich auf. Ich reckte ihr die Hand hin und half ihr auf die Beine.
"Beeilung, wir haben nicht mehr viel Zeit, bis sich die Wolken über uns öffnen und der Himmel zu weinen beginnt." In der tat. Bereits jetzt drangen einige Tropfen durch das Blätterdach ob uns hindurch und landeten hart auf dem Boden. Keine leichten Tröpfchen. Grosse, schwere Wassertropfen. Es könnte sogar zu Hagel kommen. Ich betete darum, dass sich das Wetter still hielt. Schnell durchquerte ich den dicht bewachsenen Wald. Ab und zu sah ich über die Schulter, um sicherzustellen, das Lyla noch an meinen Fersen heftete und ich sie nicht verloren hatte. Sie hatte Schwierigkeiten, mit mir Schritt zu halten, gab aber ihr Bestes. Das grüne Dach über uns liess immer mehr Tropfen zu Boden klatschen. Es musste mittlerweile ziemlich heftig regnen. Nicht, dass es uns etwas ausmachen würde, nass zu werden - was wir eh schon waren - es war mehr die Tatsache. Die Tatsache, das dieser Regen kalt und unbarmherzig war. Dass es kein Entkommen von ihm gab. Und die Tatsache, dass es hier bald anfangen würde richtig zu gewittern und wahrscheinlich ebenfalls hageln würde. Gewitter im Wald - Keine so gute Idee... Ebensowenig wie Stürme. Bemerkte ich, als der Wind erneut an meinen Kleidern zog.
"Ich kann nicht mehr!" keuchte Lyla hinter mir.
"Lyla, bitte... Ich bitte dich darum. Nur noch ein kleines Stück. Dann sind wir in Sicherheit." Sie war stehengeblieben. Schnaufte heftig und wirkte ausgelaugt. Das Wasser rann ununterbrochen ihren Körper entlang. Ich machte einige Schritte zurück auf sie zu und nahm ihre Hand. Unvorbereitet stürmte ich los. Erschrocken schrie sie auf, als ich sie unwillig hinter mir her zog. Es musste sein. Sie versuchte sich zuerst gegen mich anzustemmen, aber als sie bemerkte, dass es zwecklos war, schleifte sie ihre Beine hinter mir her.
Wir erreichten die Lichtung.
Meine Kleider klebten an mir. Ich fühlte mich irgendwie ertrunken. Ausgerissene Blätter klebten an unseren Beinen und der eisige Nordwind liess uns trotz der körperlichen Anstrengung leicht frösteln.
Weisse Körner fielen vom Himmel. Ich hatte kurz vor der Lichtung angehalten, noch im Schutz der Bäume.
"Spurt. Wir müssen spurten. Bis zu meinem Haus. Verstanden?"
Sie nickte knapp. Gut. Drei. Zwei. Eins...
Meine Beine setzten sich in Bewegung und trugen mich, getrieben von einer kleinen Menge Adrenalin, über die nasse Wiese, die zu einem rutschigen Gemisch aus Erde und Wasser geworden war. Es kostete viel Mühe, nicht zu fallen. Lyla tat es mir gleich und startete ihren Spurt. Blitz. Jetzt durfte einfach kein Blitz in exakt dieser Wiese einschlagen. Sonst würden wir das hier nicht überleben.
Ich hielt meinen Kopf gesenkt und spürte trotzdem die Hagelkörner, die mich wie Pfeile vom Himmel trafen. Es schmerzte. Der Schmerz war jedoch erträglich, aber unangenehm.
Ich hatte eine Sekunde nicht aufgepasst und schon fiel ich. Rutschte über die Wiese und landete auf Knien und Händen im Schmutz. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Armgelenke. Ich wollte mich wieder aufrappeln, aber Lyla war zuerst da. Sie legte mir eine Hand auf den Rücken, um mir dann aufzuhelfen. Ich war froh über ihre Hilfe, stand uf und zusammen schritten wir unseren Weg fort. Ein greller Blitz erhellte die Finsternis. Zum Glück schlug er in einen entfernten Baum ein. Nichts von Folgen. Mein kurz ausgesetzter Atem beschleunigte sich wieder von null auf hundert. Der kurz darauf folgende Donner liess den Boden erzittern.
Das Gewitter war da. Es tobte direkt über uns...
Ich drückte mich gegen die Tür meines Hauses, die daraufhin sofort aufschwang.
Trat ein in die trockene Dunkelheit. Zielstrebig griff ich nach einem Streichholz, zündete es an und setzte dann damit das Feuer im Chemine in Flammen.
Wärme durchflutete den kleinen Raum. Hinter mir nahm ich ein Lachen wahr. Es stammte von Lyla. Sie legte sich die Hände an die Wangen und strahlte mich an. Ich verstand nicht ganz.
"Danke." sagte sie schliesslich ernster.
"Danke für diesen wunderbaren Tag."
Diese Worte zauberten mir ein Lächeln auf die Lippen. Ich hatte so etwas schon lange nicht mehr gehört. Ich hatte - trotz der Turbulenzen vorhin - mein Ziel erreicht. Sie war glücklich. Fühlte sich wohl. Konnte alles Andere vergessen.
"Es ist noch nicht zu Ende." Ich grinste sie an.

Nachdem wir geduscht und frische, warme und kuschelige Kleider angezogen hatten, machten wir es uns vor dem lodernden Kamin bequem. Quatschten über alles mögliche. Lachten. Waren eifach nur glücklich.
Nach einem nächtlichen Inbiss brachte ich sie in die Scheune neben dem Haus. Sie hatte darauf bestanden, dort zu übernachten. Ich akzeptierte ihre Meinung.
"Gute Nacht." Quaselte sie strahlend.
"Gute Nacht und träum süss..."
"Alex..."
"Ja?" Ich drehte mich noch einmal zu ihr um.
"Danke noch einmal. Wirklich. Es war ein schöner Tag und ich weiss nicht wie ich dir danken kann."
"Das musst du auch nicht. Ich habe es gern getan."
"Ah doch!" sie zog etwas unter ihrem Pullover hervor. Eine Kette. Ein schlichtes Eisenband mit einem Ring daran. Etwas war darauf eingraviert.
"Nimm ihn. Es ist ein Erbstück. Er wird dich immer an mich und diesen schönen Tag erinnern."
"Ich kann dein Geschenk nicht annehmen."
"Es ist kein Geschenk. Es ist meine Bezahlung für meinen Aufenthalt hier. Mehr habe ich nicht."
Ich ging in die Knie, beugte mich vor und nahm den Anhänger entgegen.
Traurig betrachtete ich ihn.
"Wirst du morgen abreisen?" Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen.
"Ich muss..."
"Nein musst du nicht, du kannst so lange bleiben, wie du willst!"
"Es tut mir leid. Ich würde soo gerne. Aber ich kann nicht." Sie legte sich auf den Rücken und betrachtet mich. Ehe ich ihr die Kette zurückgeben konnte, sagte sie :"Gute Nacht. Und danke, danke, danke. Für alles!"
Sie schloss die Augen und ich kehrte in mein Haus zurück. Zurück in die Einsamkeit.

Ich wusste noch nicht, dass mich am nächsten Morgen eine böse Überraschung erwarten würde...

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