~• Kapitel 3 •~
SAYANA
War ich lebensmüde? Ich lief einem jungen Typen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte einfach so hinterher. Folgte ihm. Auch wenn er mich in die Tiefen dieses dunklen Waldes führte. Ich sollte mißtrauisch sein. Alles in mir sollte sich dagegen wehren, so leichtsinnig zu sein. Aber das Schlimme war, dass es das nicht tat. Ich folgte ihm einfach. Aber hatte ich überhaupt eine andere Wahl? Ich betrachtete ihn. Studierte jede seiner Bewegungen im Gehen. Versuchte mir seine Vorgehensweise genau einzuprägen. Seine Schwachstellen. Er hatte einen sicheren Tritt. Seine Muskeln spannten sich unregelmässig an seinen Armen und Beinen an. Ein gutes Gleichgewicht schien er auch zu haben, wie ich bemerkte, als er über einige Steine stieg, um auf die andere Seite eines plätschernden Baches zu gelangen. In meinen Gedanken versunken stellte ich fest, dass er sich auf der anderen Seite des Flüsschens zu mir umwandte. Ich zwang mich zurück in die Realität. Vorsichtig stellte ich einen Fuss auf den nächsten Stein, der umgeben von Wasser war. Ich suchte mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht und hob das zweite Bein langsam. Der Rock riss an mir und wollte mich mit seinem Gewicht zum stürzen bringen. Doch ehe dies geschah, setzte ich den angehobenen Fuss auf den nächsten Stein. "Vorsicht, der da ist wackelig." sagte der Typ zu mir, als ich einen weiteren Stein mit meinen Augen fixierte. Mit einer Hand deutete er auf den Stein und reckte mir anschliessend die Hand entgegen. "Hilfe?", fragte er grinsend. Ich wollte die Hand sofort ergreifen, doch ich hielt mich zurück. Also antwortete ich: "Das kann ich schon noch alleine, aber danke..." Sein Grinsen wurde breiter aber seine Hand liess er erhoben. Ich könnte sie jederzeit ergreifen, würde ich fallen. Und das musste ich jetzt auch. Plötzlich verlor ich mein Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Meine einzige Chance, nicht platschend im Wasser zu landen, war sein ausgestreckter Arm. Den Arm, den ich jetzt fest packte und mich daran festkrallte. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er mich ganz auf die andere Seite des Gewässers. Als ich wieder festen Grund unter meinen Füssen spürte, stolperte ich ungeschickt nach vorne und landete in seinen Armen. Ich spürte seine straffen Muskeln, seine Wärme und sein pochendes Herz. Nahm seinen Geruch nach Holz und Erde wahr. Spürte das leichte vibrieren, als er plötzlich auflachte. An seiner Brust liegend blickte ich nach oben in sein Gesicht. Seine Haare vielen ihm über die Augen, aber trotzdem konnte ich das helle Blau darin sehen. Ein Blau, das an die Weiten des Meeres erinnerte. In denen man immer etwas neues entdecken würde, würde man sie lange genug studieren. Einen kurzen Augenblick verlor ich mich in dem Meerblau seiner strahlenden Augen.
Er schien etwas grösser als ich zu sein. Ich überlegte einen kurzen Moment, ob ich es tatsächlich mit ihm aufnehmen könnte, doch er unterbrach den Gedanken. "Erstens, schlag niemals meine Hilfe ab. Und zweitens, bitte kralle dich nicht so fest an mich." Erschreckt stellte ich fest, dass sich meine Finger in seinem Shirt vergraben hatten. Wieder lachte er und ich spürte es durch meinen Körper. Blitzschnell schreckte ich zurück.
Ich war ihm so nahe gekommen.
Viel zu nahe.
Ich konnte mich nicht entscheiden. War er einer von ihnen? Einer, der mich in eine hinterhältige Falle gelockt hatte? Jemand, der mich tot sehen wollte?
Oder war er wirklich der nette Typ, an dessen Schulter ich mich vorhin geklammert hatte? Der mich aufgefangen hatte, bevor ich stürzte? Der mir wirklich helfen wollte?
So mißtrauisch ich auch war, ich konnte nichts böses in ihm entdecken. Keinen einzigen Funken. War er ein guter Schauspieler?
Als ich wieder aufblickte musterte er mich intensiv. Sein undurchdringlicher Blick ruhte auf mir. Unter diesem Blick wandte ich mich, wollte ihm entkommen. Seine Stirn war in Falten gelegt, das Einzige, was darauf hindeutete, dass er gerade nachdachte. "Wie heisst du eigentlich?", wollte er nach einiger Zeit von mir wissen. Nachdenken. Nachdenken.
"Lyla." Eine Lüge. Aber Lügen waren Schutzmauern. Schutzmauern, die ich um mich herum aufzubauen begonnen hatte. Die mich vor der Warheit bewahrten.
"Hmmm...Also Lyla.", jetzt war er wieder völlig ernst, nicht der aufgestellte Alexander. "Du bist mir einige Antworten schuldig."
Ich würde wieder lügen. Würde mir mein eigenes Leben aus Fantasien aufbauen und sie ihm auftischen. Er wollte Antworten? Gut konnte er sie haben! Aber nicht jetzt. Jetzt musste ich auf die Tränendrüse drücken.
Ich sah extra auffällig an mir herab und schüttelte leicht den Kopf. Als ich den Blick wieder auf Alexander richtete, versuchte ich einen verzweifelten, schmerzhaften Blick aufzusetzen. Ich hoffte,dass es überzeugend wirkte. "Ich dachte, du willst mir helfen und mich nicht hinterfragen. Sieh mich an Alexander." Er hob seinen Blick, den er bis vor kurzem an meinem Körper auf- und abwandern liess. Er hob fragend eine Augenbraue aber unterbrach mich nicht. "Ich bin halb verhungert, verletzt und todmüde." Wie zur Bestätigung rieb ich mir über den aufgeschürften Arm. "Wenn du mir wirklich helfen willst, solltest du wissen, was zu tun ist." Jetzt wirkte er echt verlegen. "Es ist nicht mehr weit. Nur noch einige Minuten, dann sind wir dort. Aber glaub nicht, dass du meinen Fragen entkommst. Das Blut da, das könnte auch das eines anderen Menschen sein. Was verrät mir, dass du in Wirklichkeit keine Mörderin bist?" "Hätte ich dich dann nicht schon lange getötet?" Äffte ich ihn nach. Absichtlich benutzte ich genau die gleichen Worte wie er. Ein müdes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Womöglich." Flüsterte er leise, aber genug laut, dass ich es hören konnte.
Zusammen durchquerten wir noch einige weitere Meter Wald. Ich wanderte immer hinter ihm. Hielt genug Sicherheitsabstand. Beobachtete ihn weiter. Wenn er die Wahrheit herausfinden würde, müsste ich ihn töten. Sonst wäre ich bald tot. Aber ich glaube nicht, dass er einfach so aufgeben würde. Es würde einen Kampf geben. Einen unerbitterlichen. Und nur jemand würde mit dem Leben davonkommen. Und deshalb nahm ich ihn mir so genau unter die Lupe. Ich würde mir bis zu unserem Kampf sein Vorgehen genau einprägen. Sollte es zu einem Kampf zwischen uns kommen.
Seine Hände schienen geschickt zu sein. Bestimmt konnte er super gut mit Messern umgehen. Bei einem Nahkampf war er also im Vorteil. Aber als ich mir seine Beine genauer ansah, stellte ich fest, dass er mit dem Linken leicht hinkte. Das war es! Das war mein Vorteil. Ich könnte ihm die Beine wegkicken oder vor ihm davonlaufen, genügend Abstand zwischen uns bringen und ihn dann mit einem meiner Pfeile erschiessen. Und trotzem war ich mir nicht sicher, ob dieser Plan wirklich klappen würde. Auf jeden Fall würde ich es versuchen zu vermeiden, mit ihm in einen Konflikt zu geraten.
Langsam schlichtete sich der Wald, wurde immer heller. Die Sonne brannte heiss auf meinem Kopf und Körper. Es gab keine erfrischende Brise und ich würde alles tun, für einen Schluck Wasser. Aber das würde ich auch bald bekommen. Vor uns erstreckte sich urplötzlich eine sommerliche Wiese. Es roch nach süsslichen Blumen und nach längst vergangenen Tagen. Tagen, die ich damit verbracht hatte, auf solchen Wiesen die kleinen Bienen zu beobachten und mich mit meinen Freunden lachend über die Wiesen zu rollen. Freunde. Lucas. Lucas war mein bester Freund. Ich teilte jedes Geheimnis mit ihm. Vertraute ihm wie mir selbst. Aber dann kam der Tag, als er in die Armee gerufen wurde. Er musste sich in den Norden aufmachen. Und kam nicht zurück. Ich war im Ungewissen über sein Schicksal. Lebte er noch? Wo war er? Wieso kam er nicht nach Hause? Zu mir...
Seit einer zu langen Zeit versuchte ich meine Erinnerungen an ihn zu verdrängen. Um ihn nicht zu sehr zu vermissen. Um mir nicht so sehr zu wünschen, er wäre noch hier. Wenn er noch hier wäre, wäre er die einzige Person, die zu mir stehen würde. Auch wenn zwischen uns nicht mehr war, als eine enge Freundschaft wusste ich, das er jetzt bei mir sein würde. Könnte er. Er wäre mir überall hin gefolgt. Hätte mich getröstet und würde für mich da sein. Immer. Aber jetzt war er nicht hier. Momentan gab es nur Alexander und mich. Darauf musste ich mich jetzt konzentrieren.
Ich folgte Alexander über die Wiese. Strich sachte mit meinen Fingern über das Gras und die Blumen. Schloss meine Augen. Roch den vertrauten Geruch ein. Spürte jeden Halm zwischen meinen Fingern. Hörte unsere Schritte auf dem weichen Untergrund. Als ich meine Augen wieder öffnete, war da so viel Freiheit, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen und gefühlt hatte. Schmetterlinge, Bienen und Vögel flogen an uns vorbei. Fügten sich in das sommerliche Bild ein, wie sie eins mit ihm wären. Zwitscherten leise. Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Wärme. Sehnsucht. Sehnsucht nach einem ewigen solchen Leben. Ohne Schmerz. Ohne Angst. Ohne Dunkelheit. Ohne Shawn.
Wenigstens würde ich ein solches Leben für eine kurze Zeit führen können. Auf der anderen Seite der Wiese, im Halbschatten verborgen, nahm ich erst jetzt, bei genauerem Hinsehen das kleine Häuschen wahr. Still und wohnlich, in der Morgenröte. Die roten, weit geöffneten Fensterläden. Der rauchende Kamin. Der kleine Sitzplatz mit gemütlich aussehenden Stühlen und Möbeln, der sich in Richtung Wiese erstreckte. Hier wohnte er? Ein solches Leben konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht in meinen schönsten Träumen. Aprupt blieb ich stehen. Musterte das Haus weitere Sekunden aufmerksam. Alexander wand sich mir mit einem Lächeln zu. "Ich hoffe, es gefällt dir..." Er machte mit dem einen Arm eine Bewegung Richtung Haus.
"Willkommen in meinem Zuhause."
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